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Handbuch der Soziologie


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Akteure, als »mit diesen Bedingungen objektiv vereinbare und ihren Erfordernissen sozusagen vorangepaßte Dispositionen« (Bourdieu 1987: 100). Dadurch sind die Akteure zugleich auch habituell dazu disponiert, solche Praktiken zu produzieren, die es ihnen erlauben, sich in der jeweiligen sozialen Position, in der sie sich befinden, nicht nur zurechtzufinden, sondern auch zu Hause zu fühlen, was die Reproduktion der bestehenden gesellschaftlichen Struktur begünstigt: »Als Produkt der Geschichte produziert der Habitus individuelle und kollektive Praktiken, also Geschichte nach den von der Geschichte erzeugten Schemata« und gewährleisten damit »die Konstantheit der Praktiken im Zeitverlauf viel sicherer als alle formalen Regeln und expliziten Normen« (ebd.: 101). Es ist klar: Den Habitus als sozial erzeugtes Erzeugungsprinzip des Sozialen zu reklamieren heißt, Soziales durch Soziales zu erklären.

3.Argumente für den Atomismus

      Der in den letzten hundert Jahren wirkungsgeschichtlich einflussreichste Vorschlag eines atomistischen Erklärungsprogramms in den Sozialwissenschaften ist sicherlich der methodologische Individualismus Max Webers, demzufolge soziale Phänomene »›individualistisch‹, d. h.: aus dem Handeln der Einzelnen« (Weber 1972 [1922]: 9) zu erklären seien. Der Einfluss der sozialtheoretischen Grundannahmen auf den Erklärungsstil zeigt sich bei Weber deutlich. Er begründet die »›individualistische‹ Methode« (ebd.) ausdrücklich damit, dass seine handlungstheoretische Grundlegung der Soziologie eine Erklärung sozialer Phänomene aus dem Verstehen des individuellen Handelns erfordere:

      Handeln im Sinn sinnhaft verständlicher Orientierung des eignen Verhaltens gibt es für uns stets nur als Verhalten von einer oder mehreren einzelnen Personen. Für andre Erkenntniszwecke mag es nützlich oder nötig sein, das Einzelindividuum z. B. als eine Vergesellschaftung von ›Zellen‹ oder einen Komplex biochemischer Reaktionen, oder sein ›psychisches‹ Leben als durch (gleichviel wie qualifizierte) Einzelelemente konstituiert aufzufassen. Dadurch werden zweifellos wertvolle Erkenntnisse (Kausalregeln) gewonnen. Allein wir verstehen dies in Regeln ausgedrückte Verhalten dieser Elemente nicht. Auch nicht bei psychischen Elementen, und zwar: je naturwissenschaftlich exakter sie gefaßt werden, desto weniger: zu einer Deutung aus einem gemeinten Sinn ist gerade dies [107]niemals der Weg. Für die Soziologie (im hier gebrauchten Wortsinn, ebenso wie für die Geschichte) ist aber gerade der Sinnzusammenhang des Handelns Objekt der Erfassung. (ebd.: 6)

      Weber begründet die individualistische Methode der Erklärung sozialer Phänomene mit einem grundlegenden Unterschied zwischen sozialwissenschaftlichen und naturwissenschaftlichen Erklärungen: Für naturwissenschaftliche Forschung bildet demnach die beobachtende Erklärung das gegenstandsangemessene Vorgehen (vgl. ebd.: 8). Die sozialwissenschaftliche Forschung darf sich darauf nicht beschränken. Sie muss vielmehr die »Mehrleistung der deutenden […] Erklärung« (ebd.) erbringen. Denn naturwissenschaftliche Phänomene sind erklärt, wenn man die Regeln ihres Ablaufes kennt und gegebenenfalls funktionale Zusammenhänge benennen kann. »Aber an diesem Punkt«, so Weber (ebd.: 7),

      beginnt erst die Arbeit der Soziologie (im hier verstandenen Wortsinn). Wir sind ja bei sozialen Gebilden‹ (im Gegensatz zu ›Organismen‹) in der Lage: über die bloße Feststellung von funktionellen Zusammenhängen und Regeln (›Gesetzen‹) hinaus etwas aller Naturwissenschaft (im Sinn der Aufstellung von Kausalregeln für Geschehnisse und Gebilde und der ›Erklärung‹ der Einzelgeschehnisse daraus) ewig Unzugängliches zu leisten: eben das ›Verstehen‹ des Verhaltens der beteiligten Einzelnen, während wir das Verhalten z. B. von Zellen nicht ›verstehen‹, sondern nur funktionell erfassen und dann nach Regeln seines Ablaufs feststellen können.

      Aus der handlungstheoretischen Perspektive Webers bestehen soziale Phänomene aus dem Zusammenwirken des Handelns von Einzelindividuen. Alle sozialen Gebilde sind »lediglich Abläufe und Zusammenhänge spezifischen Handelns einzelner Menschen« (ebd.: 6). Dieses Handeln versteht er als ein subjektiv sinnhaft motiviertes Verhalten, als ein Verhalten also, das stattfindet oder unterbleibt, weil der oder die Handelnde(n) mit ihm einen bestimmten Sinn verbinden oder nicht verbinden. Die Formulierung von Regeln, die den Ablauf eines sozialen Phänomens beschreibt, oder seine Verortung in einem funktionalen Zusammenhang reichen deshalb nicht aus, um das Phänomen zu erklären. Denn die betreffende Regelmäßigkeit oder den funktionalen Zusammenhang zu kennen, heißt nicht, dass man deshalb zugleich auch schon weiß, warum die involvierten Akteure in einer Weise handeln, die im Zusammenwirken der Beteiligten zu dieser Regelmäßigkeit oder jenem funktionalen Zusammenhang führt. Diese Frage kann erst das deutende Erklären beantworten. Stets beginnt deshalb, so Weber (1972 [1922]: 9), »die entscheidende empirisch-soziologische Arbeit erst mit der Frage: welche Motive bestimmten und bestimmen die einzelnen […] Glieder dieser ›Gemeinschaft‹, sich so zu verhalten, daß sie entstand und fortbesteht

      Im Bereich der Naturphänomene stellt sich die entsprechende Frage danach, was die jeweils betrachteten Elemente motiviert, sich so zu verhalten wie sie sich verhalten, dagegen ganz offenkundig nicht, weshalb die Naturwissenschaften sich auf das beobachtende Erklären beschränken können. Umgekehrt ist die Beobachtung von Regelmäßigkeiten und funktionalen Zusammenhängen für die Soziologie Weber zufolge keineswegs unwichtig, sondern kann als Vorarbeit (vgl. Weber 1972 [1922]: 9) etwa dazu dienen, den Blick des Forschers auf die wichtigen Aspekte des zu erklärenden Zusammenhangs zu lenken (vgl. ebd.: 7).

      Nun fällt auf, dass Webers methodologischer Individualismus sich in einer wesentlichen Hinsicht von der atomistischen Gegenposition unterscheidet, gegen die Durkheim, Parsons, Mead [108]und viele andere argumentiert haben. Jene atomistische Gegenposition führt das Soziale ja nicht auf subjektiv sinnhaftes Handeln insgesamt zurück, sondern auf eine besondere Form subjektiv sinnhaften Handelns: auf das am individuellen Vorteil sinnhaft orientierte Handeln. Gegen diese Position verweisen Durkheim und Parsons auf vorgängige normative Fundamente des sozialen Zusammenlebens, welche die Handlungsorientierungen der Individuen prägen. Damit ist jedoch keineswegs gesagt, dass diese normativen Strukturen sich unabhängig vom sinnhaften Handeln der Individuen zur Geltung bringen. Ganz im Gegenteil: Das »Kollektivbewusstsein« Durkheims, die Wertorientierung in der voluntaristischen Handlungstheorie von Parsons oder die gesellschaftlichen Handlungen Meads sind gesellschaftlich vorgegebene Sinnmuster, die sich im sinnhaften Handeln der Akteure verwirklichen – nur eben so, dass die Individuen sich ihnen kaum entziehen können. Auf der anderen Seite verengt Weber die Handlungsgründe subjektiv sinnhaften Handelns keineswegs auf Motive individueller Interessenverfolgung, sondern behandelt auch normorientiertes Verhalten als subjektiv sinnhaftes Handeln – besonders deutlich im Idealtypus des wertrationalen Handelns.

      Es stellt sich deshalb die Frage, wie das gleiche Phänomen, das bei Durkheim, Parsons und anderen das zentrale Argument gegen die Möglichkeit einer atomistischen Herleitung des Sozialen bildet, nämlich die gesellschaftliche Strukturierung individueller Handlungsorientierungen, als Gegenstand einer atomistischen Erklärung des Sozialen reklamiert werden kann, wie dies bei Weber geschieht. Die phänomenologische Soziologie von Alfred Schütz (und Thomas Luckmann) bietet eine Antwort auf diese Frage an, die jedoch, wie ich gleich zeigen will, eher geeignet ist, die Problemstellung des Verhältnisses von Atomismus und Holismus in der Soziologie klarer herauszuarbeiten als sie zu lösen.

      Alfred Schütz hält das atomistische Erklärungsprogramm Max Webers für eine der zentralen Grundlegungen der Soziologie überhaupt. »Niemals vorher«, so Schütz (1974 [1932]: 14), »war das Prinzip, die ›Welt des objektiven Geistes‹ auf das Verhalten Einzelner zu reduzieren, dermaßen radikal durchgeführt worden, wie in Max Webers Gegenstandsbestimmung der verstehenden Soziologie als einer Wissenschaft, welche die Deutung des subjektiven (nämlich des durch den oder die Handelnden gemeinten) Sinns sozialer Verhaltensweisen zum Thema hat.« Daran anknüpfend sieht Schütz seine eigene Aufgabe darin, dieses Erklärungsprogramm grundbegrifflich weiter auszuarbeiten und zu klären, wie subjektiver und wie intersubjektiver Sinn entsteht. Zur Klärung dieser Fragen bedient sich Schütz der von Edmund Husserl entwickelten Methode der phänomenologischen Reduktion und wendet sie auf die Analyse der Konstitution von Sinn im Bewusstsein an. Diese Analyse beruht darauf, von allen Gegebenheiten der Wirklichkeit radikal abzusehen, wie sie sich dem menschlichen Individuum mehr oder weniger unproblematisch als Tatsachen der natürlichen