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Handbuch der Soziologie


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ist mit Blick auf die Hervorbringung sozialer Phänomene nicht viel mehr als ein »kultureller Depp« (vgl. Garfinkel 1967: 68). In diese Richtung gehen insbesondere die Praxistheorie und die soziologische Systemtheorie. Im Fall der Praxistheorie liest sich das dann so:

      Für die Praxistheorie ist es nicht die vorgebliche Intentionalität, sondern die wissensabhängige Routinisiertheit, die das einzelne ›Handeln‹ ›anleitet‹; dies schließt teleologische Elemente nicht aus, die Praxistheorie betrachtet diese jedoch nicht als explizite und diskrete ›Zwecke‹ oder ›Interessen‹, sondern als sozial konventionalisierte, implizite Motiv/Emotions-Komplexe, die einer Praxis inhärent sind, in die die einzelnen Akteure ›einrücken‹ und die sie möglicherweise als ›individuelle Interessen‹ umdefinieren. (Reckwitz 2003: 293)

      Und in der Sache ganz ähnlich urteilt Niklas Luhmann: »Beobachter können das Handeln sehr oft besser auf Grund von Situationskenntnis als auf Grund von Personenkenntnis voraussehen, und entsprechend gilt ihre Beobachtung von Handlungen oft, wenn nicht überwiegend, gar nicht dem Mentalzustand des Handelnden, sondern dem Mitvollzog der autopoietischen Reproduktion des sozialen Systems.« (Luhmann 1984: 229)5 Andere soziologische Ansätze plädieren dagegen dafür, soziale Phänomene durchgängig als Effekte eines im Kern bewusst und rational reflektiert sinnhaften Handelns von Individuen zu rekonstruieren. Diese Sichtweise wird – in der Tradition des vertragstheoretischen Denkens und des methodologischen Individualismus – am entschiedensten von Vertretern der Theorie rationaler Handlungswahl vertreten (vgl. z. B. Coleman 1991: 13–27).

      Im Gegensatz zu beiden Gruppen solcher Ansätze ist die Soziologie als empirische Wirklichkeitswissenschaft gut beraten, die Frage, ob und in welchem Maße ein soziales Phänomen auf eigenständige subjektive Sinnbildung zurückgeht oder durch vorgegebene gesellschaftliche Sinnmuster hervorgebracht wird, nicht konzeptuell vorzuentscheiden. Soziologische Theoriebildung sollte den Sozialforscher vielmehr in die Lage versetzen, empirisch von Fall zu Fall überprüfen zu können, zu welchen Anteilen die atomistische oder die holistische Erklärungsrichtung zur Erklärung des interessierenden sozialen Phänomens beiträgt. In der Soziologie sollte es also nicht »Atomismus versus Holismus« (oder umgekehrt) heißen, sondern Atomismus und Holismus.

      Der wahrscheinlich bekannteste Versuch, die atomistische und die holistische Erklärungsrichtung nicht als einander ausschließende Alternativen, sondern als einander ergänzende Betrachtungsweisen zu erfassen, ist das von Anthony Giddens vorgeschlagene Konzept der Dualität von Struktur. Mit diesem Begriff bezeichnet Giddens, »daß gesellschaftliche Strukturen sowohl durch das menschliche Handeln konstituiert werden, als auch zur gleichen Zeit das Medium dieser Konstitution sind« (Giddens 1984: 148). Seine konzeptionelle Ausarbeitung dieses wechselseitigen [112]Bedingungs- und Ermöglichungszusammenhangs von Handlung und Struktur weist eine deutliche Nähe zur praxistheoretischen Argumentation auf: Giddens zufolge existieren soziale Gebilde in Gestalt reproduzierter sozialer Praktiken. Soziale Strukturen besitzen dementsprechend keine eigenständige Existenz jenseits des Handelns der Akteure. Vielmehr gilt, »daß Struktur, als raum-zeitliches Phänomen, nur insofern existiert, als sie sich in solchen Praktiken realisiert und als Erinnerungsspuren, die das Verhalten bewußt handelnder Subjekte orientieren« (Giddens 1992: 69). In der holistischen Erklärungsrichtung wird das individuelle Handeln durch die bereits bestehenden sozialen Praktiken angeleitet. In der atomistischen Erklärungsrichtung ist es das Handeln der Akteure, durch das diese Praktiken hervorgebracht werden. Nun ist Giddens im Einklang mit praxistheoretischem Denken zudem der Auffassung, dass das Handeln der Akteure zumeist im Modus des »praktischen Bewusstseins« erfolgt (vgl. ebd.: 73), d. h. als Handeln auf der Grundlage stillschweigenden Wissens (vgl. ebd.: 36, 431), und dass die Praktiken typischerweise die Gestalt von Routinen und Gewohnheiten haben. Um dem Eindruck entgegenzuwirken, dass seine Konzeption der Dualität von Struktur am Ende doch darauf hinausläuft, dass sich die Struktur hinter dem Rücken der Akteure in deren Handeln durchsetzt, betont Giddens ganz ausdrücklich die Bewusstheit menschlichen Handelns: Auch das Handeln im Modus des praktischen Bewusstseins ist seinem Verständnis nach ein bewusstes Handeln, dessen Gründe der Akteur anzugeben in der Lage wäre, wenn er gefragt würde. Nur ist der Handlungssinn den Beteiligten eben in der Regel stillschweigend klar, sodass kein Erläuterungsbedarf besteht (vgl. ebd.: 55 ff.).

      An diesem Punkt zeigen die Überlegungen von Giddens allerdings eher das Problem und den Lösungsansatz auf, als selbst bereits eine befriedigende Lösung vorzuweisen: Als Lösungsansatz bietet es sich an, mit dem sozialtheoretischen Grundbegriff der Handlung bzw. des Handelns zu operieren. Denn das Handeln, verstanden als ein sinnhaftes Verhalten, kann sowohl in der Form des bewusst sinnhaften und des durch eigenständige Sinnbildung motivierten Handelns vorkommen (und begrifflich gefasst werden) wie auch in der Form des durch vorgegebene Sinnmuster sinnhaft strukturierten Handelns. Im letzten Fall kann die Sinngebung des Handelns dann auch ohne Beteiligung der bewussten Aufmerksamkeit des Akteurs erfolgen. Mit dem Handlungsbegriff liegt also ein sozialtheoretischer Grundbegriff vor, der dem Begriff der Praxis, der Kommunikation und der Interaktion darin überlegen ist, dass auf seiner Grundlage atomistische wie auch holistische Erklärungen sozialer Phänomene angefertigt werden können (vgl. Schulz-Schaeffer 2010). Das Problem besteht darin, das bewusste und das stillschweigende Handeln einerseits begrifflich trennscharf genug zu halten (was Giddens nicht gelingt), um mit den Begriffen die atomistische wie die holistische Formierungsrichtung des Sozialen erfassen zu können. Anderseits gilt es, beide Formen des Handelns in einen einheitlichen theoretischen Bezugsrahmen zu bringen.

      Ein Ansatz einer integrativen Handlungstheorie, der diese Zielsetzung verfolgt, ist das von Hartmut Esser vorgeschlagene Modell der Frame-Selektion (vgl. Esser 2001: 259 ff.). Dieses Modell, so Esser (2003: 360), dient dazu,

      neben den ›rationalen‹ Anreizen und Erwartungen, auch die ›mentalen Modelle‹ der Menschen, ihre Weltbilder, Vorstellungen, Erwartungserwartungen und die kulturellen ›kollektiven Repräsentationen‹ in die soziologischen Erklärungen einzubeziehen und damit den (subjektiven) ›Sinn‹, den die Menschen mit ihrem Tun, nicht immer ›bewusst‹ freilich, verbinden und über den sie die Situationen mehr oder weniger fest ›definieren‹.

      Mit dem Modell der Frame-Selektion greift Esser die in der Sozialpsychologie entwickelten Dual-Process-Modelle auf (vgl. Chaiken/Trope 1999), wobei er sich insbesondere an einem [113]dieser Modelle, dem so genannten MODE-Modell orientiert (vgl. Fazio 1990; Fazio/Towles-Schwen 1999). Die Dual-Process-Modelle resultieren aus experimentell gewonnenen empirischen Befunden der Sozial- und Kognitionspsychologie. Diese Befunde besagen, dass die Situationswahrnehmung und Handlungsorientierung der Versuchspersonen durch zwei komplementäre kognitive Fähigkeiten erzeugt wird: Auf der einen Seite sind sie in der Lage, die sich wiederholenden bzw. stabilen Merkmale ihrer natürlichen und sozialen Umwelt schnell und mühelos wahrzunehmen. Diese Form der Wahrnehmung erfolgt auf der Grundlage kognitiver Repräsentationen, mentaler Modelle, die automatisch und ohne Beteiligung der bewussten Aufmerksamkeit der Akteure aktiviert werden (vgl. Bargh 1999). Sie versorgt die Akteure in der jeweiligen Situation mit einem Wissen darüber, was wann, wo und von wem zu erwarten ist, und sorgt dafür, dass die Wirklichkeit von ihnen als sinnvoll geordnet und vorhersehbar erfahren wird (vgl. Macrae/Bodenhausen 2000: 94). Dieser Form der Wahrnehmung steht auf der anderen Seite die Fähigkeit gegenüber, für Unerwartetes sensibel zu sein, zu erkennen, wenn die automatisch aktivierten Situationsdeutungen und Handlungsmuster nicht passen, um dann auf der Grundlage bewusster Situationswahrnehmung und eigenständiger Sinnbildung zu einer Situationsdeutung und einem Handlungsplan zu gelangen (vgl. Fazio 1990: 89 ff.). Der Kern der Dual-Process-Modelle und ebenso auch der Kern des Modells der Frame-Selektion besteht darin, den Wechsel zwischen diesen beiden Formen der Wahrnehmung – bzw. die Art und Weise, wie sie sich ergänzen, überlagern oder miteinander konkurrieren – konzeptionell zu erfassen. Der Umstand, dass nach wie vor eine Mehrzahl unterschiedlicher Dual-Process-Modelle nebeneinander bestehen, aber auch die Weiterentwicklungen und aktuellen Diskussionen über das Modell der Frame-Selektion (vgl. z. B. Schulz-Schaeffer 2008) zeigen, dass an diesem Punkt noch Diskussionsbedarf besteht.

      Die Bemühungen um eine integrative Handlungstheorie setzen konzeptionell direkt an dem Schalthebel an, dessen Stellung darüber entscheidet, ob für das interessierende soziale Phänomen eine atomistische oder eine holistische Erklärung bevorzugt werden sollte: Wenn