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Handbuch der Soziologie


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die Funktion der Geste, einzelne Handlungen zu gesellschaftlichen Handlungen zu verketten. Und so wie der Sinn der Tiergesten in den gesellschaftlichen Handlungen liegt, die mit ihrer Hilfe zustande kommen, so leitet sich auch der Sinn der signifikanten Symbole aus den gesellschaftlichen Handlungen ab, die die Individuen zustande bringen, indem sie sich in ihrem Verhalten an diesen Symbolen orientieren. Ebenso wie das reizgesteuerte Verhalten der Tiere sind deshalb auch die durch signifikante Symbole gesteuerten menschlichen Handlungsweisen »sinnlos außerhalb der gesellschaftlichen Handlungen, in die sie eingebettet sind und aus denen sie ihre Signifikanz ableiten« (ebd.: 130). Daran ändert für Mead auch der Umstand nichts, dass dieser Sinn nun als Sinn vorliegt, auf den die Individuen bewusst reflektieren können: »Es gibt einen gemeinsamen Lebensprozeß seitens aller Mitglieder der Gemeinschaft, der mit Hilfe von Gesten abläuft. Die Gesten sind bestimmte Stadien innerhalb dieser kooperativen Tätigkeit, die den ganzen Prozeß lenken. Beim Auftreten von Geist wurde dieser Prozeß lediglich bis zu einem gewissen Grad in das Verhalten des Einzelnen hereingenommen.« (ebd.: 231).

      Sicherlich ist Meads funktionalistisch-evolutionstheoretische Betrachtung menschlicher Handlungszusammenhänge überholt. Man wird kaum noch ernsthaft behaupten wollen, dass menschliche Handlungszusammenhänge ihre Existenz dem Umstand verdanken, dass sie den Überlebenserfolg der Gattung verbessern. Der bleibende Wert der Überlegungen Meads besteht vielmehr darin, dass sie eine Erklärung der Entstehung sowohl der Gesellschaft wie des Individuums bieten, die vermeidet, das eine voraussetzen zu müssen, um das andere erklären zu können: Wenn sinnhaftes individuelles Handeln sich sukzessiv aus dem gestengesteuerten Verhalten heraus entwickelt hat, mittels dessen Tiere ihr Zusammenwirken koordinieren, dann bedeutet dies erstens, dass sich ein durch bewusstlose Reiz-Reaktions-Mechanismen hervorgebrachter gesellschaftlicher Zusammenhang schrittweise in einen durch gemeinsam geteilte Sinnstrukturen gewährleisteten gesellschaftlichen Zusammenhang verwandelt. Und es bedeutet zweitens, dass das bewusstseinsfähige menschliche Subjekt selbst ein Produkt dieses Wandlungsprozesses ist. Dementsprechend ist es dann auch nicht mehr erforderlich, die Entstehung gesellschaftlicher Ordnung aus einem Anfangszustand normfreier, eigennütziger Akteure zu erklären. Einen solchen Anfangszustand hat es nie gegeben, sondern einen Prozess der sukzessiven Ablösung von Instinkten und Prägungen durch normative Regulierungen und andere sinnhafte Verhaltenssteuerungen, einen Prozess, währenddessen auch die Möglichkeit des individuell eigennützigen Handelns erst entstanden ist (vgl. Mead 1968 [1934]: 267, 279 f.).

      Meads Auffassung, dass Einzelhandlungen nicht für sich existieren, sondern als Bestandteile von gesellschaftlichen Handlungen entstehen, von denen sich ihre jeweilige Bedeutung ableitet, ist im symbolischen Interaktionismus aufgegriffen und auf das Verhältnis von Handlung und Interaktion übertragen worden. Die Aussage lautet nun: Handlungen sind stets in Interaktionen eingebettet und beziehen daraus ihre jeweilige Bedeutung. Anselm Strauss zufolge ist dies die inzwischen allgemein geläufige Sichtweise:

      wenn Sozialwissenschaftler ihre Forschungen durchführen, setzen sie gewiss voraus, dass das Handeln in Interaktionen und in Sinnsysteme eingebettet ist. Nur die wenigen Theoretiker, die über das Handeln an sich schreiben (so wie Weber, Schütz und Parsons) tendieren dazu, mit der Handlung zu beginnen, mit einer separaten Insel des Handelns; nicht mit der Annahme, dass Interaktion das vorgeordnete, zentrale Konzept ist, und auch nicht mit der Annahme, dass es ein analytisches Artefakt darstellt, das Handeln von der Interaktion zu trennen. Natürlich handelt eine Person […], aber diese jeweiligen Handlungen sind eingebettet in ein Netzwerk von Interaktionen. (Strauss 1993: 25)

      [105]Der evolutionstheoretische Begründungszusammenhang spielt hier keine Rolle mehr, die Abge-leitetheit der Bedeutung von Handlungen aus dem Interaktionszusammenhang gewinnt vielmehr den Stellenwert eines empirischen Grundsachverhalts. Es gibt, so Strauss, »jedenfalls nach der sehr frühen Kindheit so gut wie kein Handeln, bei dem die Handlung von der Interaktion getrennt ist« (ebd.: 22). Weil menschliches Handeln empirisch gesehen ganz überwiegend im Kontext der Interaktion mit anderen Menschen erfolgt, ergibt sich auch die Bedeutung des Handelns dann jeweils erst im Kontext des betreffenden Interaktionszusammenhanges. Dieser Grundsachverhalt wird im symbolischen Interaktionismus dahingehend verallgemeinert, dass alle Sinnmuster und Sinngehalte, die der natürlichen wie der sozialen Welt ihre von den Akteuren wahrgenommene Bedeutung verleiht, interaktiv erzeugt sind: »Für den symbolischen Interaktionismus sind Bedeutungen«, so Herbert Blumer (1973 [1969]: 83 f.), »soziale Produkte, sie sind Schöpfungen, die in den und durch die definierenden Aktivitäten miteinander interagierender Personen hervorgebracht werden.«

      Ähnlich wie der Interaktionismus vertritt auch die Praxistheorie die Auffassung, dass das »Ganze« des Handlungszusammenhanges dem »Atom« der Einzelhandlung vorausgeht. Die Begründung dafür, dass soziale Praktiken und nicht Einzelhandlungen »die kleinste Einheit der sozialwissenschaftlichen Analyse« (Reckwitz 2004: 318) sind, entspricht der eben präsentierten Argumentation: Die Bedeutung einer Handlung liefert die soziale Praxis, in die die jeweilige Tätigkeit eingebettet ist. So wird beispielsweise die kreisende Bewegung eines Holzlöffels in einem Kochtopf erst im Rahmen einer bestimmten Kochpraxis, die dieser Tätigkeit einen spezifischen Sinn verleiht, zur Handlung des Umrührens. »Folglich setzt die Handlung die betreffende Praxis voraus. Tatsächlich ist sie ein Moment der Praxis.« (Schatzki 2002: 96) Mit dieser Sichtweise setzt sich die Praxistheorie ebenso wie der Interaktionismus von einem atomistischen und individualistischen Handlungsbegriff ab (Reckwitz 2004: 320 f.).

      Die Praxistheorie ähnelt dem Interaktionismus auch darin, dass die Praktiken als soziale Produkte betrachtet werden. Eigenständigkeit gegenüber interaktionistischem Denken gewinnt die Praxistheorie vor allem dadurch, dass sie diesen sozialen Produktionsprozess als einen Prozess ansieht, der sich ohne die bewusste Aufmerksamkeit der Akteure, gleichsam hinter ihrem Rücken vollzieht. Jede soziale Praxis ist aus praxistheoretischer Perspektive eine gemeinsame Gepflogenheit, die im stillschweigenden Wissen und Können der Beteiligten verankert ist. Dementsprechend bildet das gemeinsam geteilte stillschweigende Wissen und Können die unexplizierte Grundlage, die dem menschlichen Denken und Handeln ihren Sinn verleiht (vgl. Taylor 1995: 174; Schatzki 2001: 2 f.). Diese Position findet ihr theoretisches Fundament in der Überlegung von Ludwig Wittgenstein, dass es unmöglich ist einer expliziten Regel zu folgen, wenn man nur die Regel selbst kennt (und alle weiteren Regeln, die festlegen, wie die erste Regel (und alle weiteren Regeln) angewendet werden). Denn jede weitere Regel, die Fragen der Anwendung der ersten Regel regelt, ruft selbst wieder entsprechende Fragen hervor. Tatsächlich, so Wittgenstein, stützt man sich, wenn man einer expliziten Regel folgt, immer auf Gebräuche und Gepflogenheiten, die der Regel erst ihren spezifischen Sinn verleihen. »Darum ist ›der Regel folgen‹ eine Praxis.« (Wittgenstein 1984 [1953]: 345)

      Menschliches Verhalten nach dem Modell des bewussten und absichtsvollen Handelns erfassen zu wollen, ist aus praxistheoretischer Perspektive Ausdruck eines intellektualistischen Fehlschlusses (vgl. Reckwitz 2003: 290). Mit der Betonung des überwiegend impliziten und inkorporierten Charakters menschlichen Wissens und Könnens, verfolgen praxistheoretische Autoren das Anliegen, dieser Vorgehensweise zu Leibe zu rücken. Dieses Anliegen steht bereits im Zentrum der praxistheoretischen Überlegungen von Pierre Bourdieu. Bourdieu zufolge ist menschliches Verhalten wesentlich durch die Fähigkeit gekennzeichnet, »unabsichtlich und ohne bewußte [106]Befolgung einer ausdrücklich als solcher postulierten Regel sinnvolle und geregelte Praktiken hervorzubringen« (Bourdieu 1992: 99). Diese Fähigkeit führt Bourdieu auf sozialisatorische Prägungen zurück, die sich im Einzelnen als Denk-, Wahrnehmungs- und Verhaltensdispositionen niederschlagen und zusammen den Habitus der Person bilden. Sie bilden ein stillschweigendes, ein implizites Wissen und Können, das die Akteure befähigt »jenseits ausdrücklicher Reglementierung und des institutionalisierten Aufrufs zur Regel geregelte Praktiken und Praxisformen hervorzubringen« (Bourdieu 1979: 215).

      In Gestalt der Habitus-Feld-Theorie entwickelt Bourdieu aus seinen praxistheoretischen Grundüberlegungen eine holistische Sichtweise gesellschaftlicher Reproduktion, die über die Annahme eines Vorrangs von Handlungszusammenhängen gegenüber Einzelhandlungen weit hinausgeht: Die Dispositionen des Habitus sind sedimentierte Formen früheren Handelns und Erlebens in Gestalt dauerhaft eingeprägter Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata, welche die Akteure dazu disponieren, ihre Welt ganz selbstverständlich und nicht weiter reflexionsbedürftig