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Handbuch der Soziologie


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bezieht sich dabei vor allem auf die Überlegungen von Thomas Hobbes, was schon damit beginnt, dass er die Frage, wie in einer Gemeinschaft von Akteuren, die in ihrem Handeln eigene Ziele verfolgen, soziale Ordnung möglich ist, als das Hobbes’sche Problem bezeichnet (Parsons 1968 [1937]: 94, 314, 357): In Abwesenheit einer normativen Ordnung und unter der Bedingung, dass die Akteure danach streben, eigene Ziele zu realisieren, wäre ein Zustand des Krieges aller gegen alle die notwendige Folge. Alle Akteure würden zwangsläufig danach streben, durch List oder Gewalt Macht über andere Akteure zu gelangen, um sich diese im Interesse ihrer eigenen Ziele dienstbar zu machen (vgl. ebd.: 92; Hobbes 1980 [1651]: 112 ff.). Eine rein utilitaristische, d. h. auf individuellen Nutzenerwägungen beruhende Gesellschaft wäre also »chaotisch und unstabil, weil sie sich mangels Beschränkungen im Gebrauch von Handlungsmitteln – insbesondere von Gewalt und Betrug – notwendig in einen grenzenlosen Machtkampfverwandeln würde« (Parsons 1968 [1937]: 93 f.). Hobbes zufolge gibt es nur einen möglichen Ausweg aus diesem Problem: In Form eines Gesellschaftsvertrags, d. h. eines Vertrages »eines jeden mit einem jeden« (Hobbes 1980 [1651]: 155), einigen [102]sich die Gesellschaftsmitglieder aus eigenem Interesse darauf, »ihre natürliche Freiheit an eine hoheitliche Autorität abzugeben, die ihnen im Gegenzug Sicherheit garantiert, also Schutz gegen gewaltsame oder betrügerische Angriffe durch andere« (Parsons 1968 [1937]: 90; vgl. Hobbes 1980 [1651]: 155 f.).

      Das zentrale Problem dieser Lösung ist, dass jene zentrale Autorität dem Einfluss des interessengeleiteten Handelns der Akteure entzogen sein muss, um unter den genannten Bedingungen soziale Ordnung garantieren zu können. Dann aber kann sie in ihrer Entstehung und in ihrem Fortbestand nicht utilitaristisch – also als Resultat von individuellen Nützlichkeitsüberlegungen – erklärt werden, wie es Hobbes vorschlägt.4 Dieser Einwand, der in großer Klarheit in Richard Münchs Rekonstruktion der Handlungstheorie Parsons’ dargelegt wird (vgl. Münch 1982: 35–37), führt Parsons zu dem Schluss, dass es auf einer strikt utilitaristischen Grundlage keine Lösung für das Problem der sozialen Ordnung gibt (Parsons 1968 [1937]: 93).

      Aus der Tatsache, dass Gesellschaften mit hinreichend stabiler sozialer Ordnung existieren, folgt im Umkehrschluss dann, dass die Individuen ihre Ziele nicht ausschließlich auf der Grundlage ihrer jeweiligen Nutzenüberlegungen bestimmen. Denn aus der Existenz sozialer Ordnung folgt, dass die Akteure gemeinsame Ziele verfolgen, diese Gleichgerichtetheit kann nach dem zuvor Gesagten aber nicht Ergebnis individueller Nutzenüberlegungen sein. Erklärbar wird die Existenz sozialer Ordnung dagegen, wenn man annimmt, dass die Ziele der Akteure gar nicht so individuell zweckbezogen generiert werden wie Hobbes und andere Vertragstheoretiker unterstellen, sondern unter dem Einfluss gemeinsamer Wertorientierungen. Diese Annahme, so Parsons, »eröffnet einen Weg, die Grundlage gesellschaftlicher Ordnung als ›immanent‹, im Charakter der Gesellschaft selbst angelegt, zu interpretieren« (Parsons 1968 [1937]: 238). Dies wiederum entspricht genau der Auffassung Durkheims, dass die Allgemeinheit sozialer Phänomene ihren Ursprung im Kollektiv hat und nicht in den Individuen: Das soziale Leben ist »unmittelbar aus dem kollektiven Sein abzuleiten« (Durkheim 1984 [1895]: 203), und zwar »deshalb, weil das soziale Leben der besonderen Formung entspringt, der die einzelnen Psychen vermöge der Tatsache ihrer Assoziation unterliegen und aus der eine neue Existenzform entsteht« (ebd.).

      Die Annahme der gesellschaftlichen Vorgegebenheit normativer Strukturen ruft allerdings den Einwand hervor, dass man sich damit der Möglichkeit begibt, die Entstehung der – in ihrer Existenz dann immer bereits vorausgesetzten – normativen Zusammenhänge zu erklären. Um die Entstehung normativer Strukturen zum Gegenstand soziologischer Theoriebildung machen zu können, müsse man, so James S. Coleman, mit einer Handlungstheorie beginnen, die von Individuen ausgeht, welche sich »unbeeinträchtigt von Normen und völlig eigennützig verhalten« (Coleman 1991: 38). Dann aber bleibt das Hobbes’sche Problem weiterhin ein Problem, für das nach einer atomistischen Lösung gesucht werden muss.

      Ein Lösungsweg, der von Coleman (1991: 350 ff.) vorsichtig beschritten und von Hartmut Esser (2000: 316 ff.) sehr optimistisch aufgegriffen worden ist, beruht darauf, das Hobbes’sche Problem als ein Problem der Bereitstellung von Kollektivgütern zu reformulieren. Kollektivgüter (oder öffentliche Güter) sind dadurch definiert, dass sie auch von denen genutzt werden können, die zu ihrer Bereitstellung nicht beitragen. Akteure, die profitieren ohne beizutragen, werden als Trittbrettfahrer bezeichnet. Die soziale Ordnung, also etwa der Umstand, dass man sich darauf verlassen kann, dass Verträge eingehalten werden, ist in diesem Sinne ein Kollektivgut. Das [103]Hobbes’sche Problem ist somit ein Trittbrettfahrer-Problem: Für jeden Einzelnen ist es unter individuellen Nutzengesichtspunkten am vernünftigsten Trittbrettfahrer zu sein. Dann aber kommt es gar nicht erst zur Produktion von Kollektivgütern bzw. zur unweigerlichen Zerstörung eines jeden Kollektivgutes, das aus welchen Gründen einmal existiert. Die Sanktionen, die eingeführt werden, um Akteure vom Trittbrettfahren abzuhalten, lassen sich als Kollektivgüter zweiter Ordnung fassen. Denn die Wirkung der Sanktionen kommt ja ebenfalls allen und auch denen zugute, die sich an den Sanktionskosten nicht beteiligen. Das Sanktionsproblem, also das Problem der Sicherstellung der Sanktionierung, ist dementsprechend das zugehörige »Trittbrettfahrerproblem zweiter Ordnung« (Coleman 1991: 350). Coleman argumentiert nun, dass »das Sanktionsproblem weniger kostenaufwendig [ist] als das ursprüngliche Problem« (ebd.: 352), weil den Sanktionskosten ja auch ein Nutzen gegenübersteht, nämlich der Nutzen des Kollektivgutes erster Ordnung, dessen Existenz durch die Sanktionierung sichergestellt wird. Dies rechnet sich dann gegebenenfalls auch aus der Perspektive des individuellen Akteurs, dann nämlich, wenn sich genügend Nutznießer des Kollektivgutes erster Ordnung darauf einigen, sich die Sanktionskosten zu teilen. Eine solche Einigung aber, so Coleman, »ist von der Existenz sozialer Beziehungen zwischen den Nutznießern abhängig« (ebd.: 353). Sie ist mit anderen Worten eine soziale Bindung, die jeder einzelne Beteiligte auch gegen einen größeren individuellen Vorteil durchhalten muss, den er als Trittbrettfahrer erzielen könnte. So führen auch diese Überlegungen letztlich nicht zu einer Lösung des Hobbes’schen Problems allein auf der Grundlage des normfreien und eigennützigen Akteurs (vgl. auch Schulz-Schaeffer 2007: 161 f., Anm. 81).

      Die vorangegangenen Überlegungen für eine holistische Erklärung sozialer Phänomene stützen sich vor allem auf eine negative Beweisführung, um zu begründen, dass man von dem immer bereits gesellschaftlich geprägten Individuum ausgehen müsse: auf den Nachweis der Unmöglichkeit, soziale Ordnung auf der Grundlage normfreien, individuell eigennützigen Handelns zu erklären. Es bleibt dabei unerklärt, wie diese vorgängige gesellschaftliche Prägung der Individuen ihrerseits entstanden ist.

      Eine solche Erklärung bietet George Herbert Mead an. Seiner Auffassung nach ist die gesellschaftliche Geprägtheit der Individuen ein Produkt der Evolution, ein evolutionäres Erbe, das die Menschheit in modifizierter Form aus dem Tierreich übernimmt: Allgemein ist es von Vorteil, so Mead, wenn Lebewesen einer Art zusammenarbeiten, weil sie sich auf diese Weise besser schützen und ernähren und den Nachwuchs besser aufziehen können. Deshalb bilden sich bereits bei recht einfachen Lebewesen zum Teil recht komplexe Formen der Zusammenarbeit heraus wie dies etwa in Insektengesellschaften der Fall ist. Um ihr Verhalten erfolgreich koordinieren zu können, brauchen die Tiere dabei den Sinn ihres Handelns nicht zu verstehen und müssen dementsprechend auch kein Bewusstsein besitzen (vgl. Mead 1968 [1934]: 56). Die Verhaltensweisen der Einzelindividuen sind zunächst vielmehr über einfache Reiz-Reaktions-Mechanismen miteinander gekoppelt. Der »grundlegende Mechanismus, durch den der gesellschaftliche Prozess angetrieben wird«, so Mead (1968 [1934]: 52), »ist der Mechanismus der Geste, der die passenden Reaktionen auf das Verhalten der verschiedenen individuellen Organismen ermöglicht, die in einen solchen Prozeß eingeschaltet sind. […] Gesten sind Bewegungen des ersten Organismus, die als spezifische Reize auf den zweiten Organismus wirken und die (gesellschaftlich) angemessene Reaktion auslösen.« Auf diese Weise wird individuelles Verhalten zu Verhaltenszusammenhängen verknüpft, welche Mead als gesellschaftliche Handlungen bezeichnet. Die Gesten haben dabei die Funktion, »Reaktionen der anderen hervorzurufen, die selbst wiederum Reize für eine neuerliche Anpassung werden, bis schließlich die endgültige gesellschaftliche Handlung zustande kommt« (ebd.: 83).

      Im Laufe der evolutionären Entwicklung werden aus Gesten signifikante Symbole, also sprachliche Äußerungen und andere sinnhafte Zeichenhandlungen, über die dann in menschlichen [104]Gesellschaften