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Handbuch der Soziologie


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f.). Schütz stellt sich mit anderen Worten ein wahrnehmungs- und bewusstseinsfähiges Individuum vor, für das die Wirklichkeit noch nicht sinnhaft konstituiert ist, das also über keine Konzepte und Begriffe verfügt, sodass die Wirklichkeit begriffslos und unbegriffen an ihm vorbeizieht. Die Frage lautet dann: Wie gelingt es diesem »einsamen Ich«, das in einem »Erlebnisstrom« zunächst nur »unabgegrenzte, ineinander stetig übergehende Erlebnisse« (ebd.: 68) registriert, daraus sinnhafte Erfahrungen zu bilden. Dazu, so die Antwort von Schütz, muss sich das Bewusstsein in der Erinnerung einer Phase des Erlebnisstroms zuwenden. Durch diese reflexive Zuwendung wird aus einer solchen Phase ein abgegrenztes Erlebnis (vgl. ebd.). Sinnhafte Erfahrungen entstehen, wenn das Bewusstsein derart abgegrenzte Erlebnisse miteinander in Beziehung setzt. Alfred Schütz und Thomas Luckmann (1984: 13) formulieren dies wie folgt:

      [109]Wenn das Ich auf seine eigenen Erfahrungen […] zurückblickt, hebt es sie aus der schlichten Aktualität des ursprünglichen Erfahrungsablaufs heraus und setzt sie in einen über diesen Ablauf hinausgehenden Zusammenhang. […] Ein solcher Zusammenhang ist ein Sinnzusammenhang; Sinn ist eine im Bewußtsein gestiftete Bezugsgröße, nicht eine besondere Erfahrung oder eine der Erfahrung selbst zukommende Eigenschaft. Es geht vielmehr um die Beziehung einer Erfahrung und etwas anderem. Im einfachsten Fall ist dieses andere eine andere als die aktuelle, so z. B. eine erinnerte Erfahrung. Die gerade vergangene Erfahrung, deren Erlebnisevidenz noch nachhallt, wird mit Bezug auf jene nur erinnerte als gleich, ähnlich, entgegengesetzt usw. erfasst. (vgl. auch Schütz 1974 [1932]: 69, 104; Schütz/Luckmann 1979: 38, 81; Luckmann 1992: 31)

      Mit diesen Überlegungen will Schütz bzw. wollen Schütz und Luckmann nicht behaupten, dass die Sinngebilde, die den Wissensbestand des Einzelnen ausmachen, seinen subjektiven Wissensvorrat also, ausnahmslos von ihm selbst erzeugt wurden. Denn im empirischen Normalfall wird das Bezugsschema, durch welches das aktuelle Erlebnis zu einer sinnhaften Erfahrung wird, »etwas Verwickelteres als eine einzelne Erfahrung sein: ein Erfahrungsschema, eine höherstufige Typisierung, eine Problemlösung oder Handlungsrechtfertigung« (Schütz/Luckmann 1979: 315) – ein Auslegungsschema also, das aus dem gesellschaftlichen Wissensvorrat stammt. Dementsprechend wird von den Autoren durchaus betont, dass »der subjektive Wissensvorrat nur zum Teil aus ›eigenständigen‹ Erfahrungs- und Auslegungsresultaten besteht, während er zum bedeutenderen Teil aus Elementen des gesellschaftlichen Wissensvorrats abgeleitet ist« (ebd.: 314). Nichtsdestoweniger sind Schütz und Luckmann der Auffassung, dass trotz »dieser empirischen Priorität des gesellschaftlichen Wissensvorrats gegenüber jedem beliebigen subjektiven Wissensvorrat« (ebd.: 314 f.) eine »grundsätzliche Priorität des subjektiven Wissenserwerbs« (ebd.: 315) besteht:

      Den Ursprung des sozialen Wissensvorrats, genauer, der Elemente, die den sozialen Wissensvorrat bilden, kann man nur in subjektiven Erfahrungen und Auslegungen suchen. Dies bedeutet aber, daß in letzter Konsequenz der gesellschaftliche Wissensvorrat auf ›eigenständige‹ Erfahrungen und Auslegungen zurückverweist – so sehr auch die Situationen, in denen die Erfahrungen und Auslegungen stattfinden […] durch ›faktische‹ soziale Gegebenheiten bedingt sein mögen. (ebd.)

      Damit ein Stück ursprünglich subjektiv generierten Sinns zu einem Element des gesellschaftlichen Wissensvorrates werden kann, muss es zuerst in intersubjektiv geteilten Sinn überführt werden, dann in Objektivationen gespeichert und schließlich institutionell verfestigt werden. Die Entstehung intersubjektiven Sinns lässt sich Schütz zufolge nicht auf der Grundlage der phänomenologischen Analyse des einsamen Ich erklären. Sie erfordert die Einführung von Zusatzannahmen: Um die subjektiven Bewusstseinsvorgänge wechselseitig auf eine Weise zu verstehen, dass gemeinsam geteilter Sinn entsteht, müssen die Beteiligten demnach zutreffend von der Unterstellung ausgehen, dass der jeweils andere die Wirklichkeit grundsätzlich so wahrnimmt und sinnhaft so deutet wie man selbst (Generalthese der wechselseitigen Perspektiven, vgl. Schütz/Luckmann 1979: 88 f.). Durch Objektivationen – insbesondere durch Objektivationen in Sprache – werden die auf dieser Grundlage erzeugten intersubjektiven Bedeutungen ablösbar von der direkten Interaktionssituation ihrer Generierung (vgl. Berger/Luckmann 1969: 39). Wenn dieser Entstehungsprozess in Vergessenheit gerät und die Individuen mit unhinterfragter [110]Selbstverständlichkeit auf das betreffende Sinnelement rekurrieren, ist es zum institutionalisierten Bestandteil des gesellschaftlichen Wissensvorrates geworden (vgl. ebd.: 65).

      Folgt man dieser Argumentation, dann ist jede sinnhafte Strukturierung der Sozialwelt ein Resultat ursprünglich subjektiver Sinnbildung. Nicht nur soziale Institutionen, in denen die egoistischen Handlungskalküle der Individuen in institutionell verfestigter Form zum Ausdruck kommen, sind also letztlich nur methodologisch individualistisch zu erklären. Gleiches gilt in entsprechender Weise für die Entstehung der normativen Strukturen des Sozialen. Wir haben es dementsprechend hier mit einer Ausweitung des atomistischen Erklärungsprogramms über das vertragstheoretische Denken hinaus auf alle sozialen Gebilde und deren jeweilige Sinngrundlagen zu tun. Beantwortet dies die zuvor aufgeworfene Frage, wie normativ strukturiertes Handeln als Gegenstand einer atomistischen Erklärung des Sozialen reklamiert werden kann, wie dies bei Weber geschieht? Die Antwort scheint mir in doppelter Hinsicht »Nein« zu lauten, wobei der eine Einwand die Vorgegebenheit des gesellschaftlichen Wissensvorrates betrifft und der andere dessen Gegebenheitsweise als institutionalisiertes Wissen.

      Schütz und Luckmann sind der Auffassung, dass »die Vorgegebenheit eines gesellschaftlichen Wissensvorrats und die ›Sozialisierung‹ subjektiver Wissenselemente ausgeklammert werden« könnten, »ohne daß dadurch die Grundformen des subjektiven Wissenserwerbs verzeichnet« würden (Schütz/Luckmann 1979: 315; vgl. ebd.: 154 ff.). Subjektiver Wissenserwerb wäre mit anderen Worten grundsätzlich auch dann möglich, wenn es keinen vorgegebenen gesellschaftlichen Wissensvorrat gäbe. Was aber sind die Konsequenzen dieser Überlegung? Empirisch betrachtet wächst jedes Gesellschaftsmitglied in einer Umgebung auf, in der es auf eine Fülle vorgegebener Elemente des gesellschaftlichen Wissensvorrats stößt. Es dürfte dementsprechend, wenn überhaupt, ein seltener Ausnahmefall sein, dass subjektive Sinnbildung ohne Bezugnahme auf ein gesellschaftlich vorgeprägtes Auslegungsschema erfolgt. Auch wenn die sinnhafte Einordung des aktuellen Erlebnisses in den Sinnzusammenhang selbstverständlich eine subjektive Bewusstseinsleistung ist, lässt sich die erfolgte Sinnbildung aus diesem Bewusstseinsprozess allein nicht erklären. Die Berücksichtigung des Einflusses des vorgegebenen Auslegungsschemas muss hinzukommen, ein holistisches Element der Erklärung also.

      Damit ist noch nicht unbedingt gesagt, dass sich dieser Einfluss hinter dem Rücken der Akteure geltend macht. Denn wir wollen den Individuen die Fähigkeit ja nicht grundsätzlich absprechen, über den Sinn vorgegebener Sinngehalte sinnhaft reflektieren zu können. Wenn die gesellschaftlich vorgegebenen Sinnmuster allerdings in Form institutionalisierten Wissens vorliegen, ist diese Möglichkeit des subjektiv sinnhaften Nachvollzugs begrenzt. Denn institutionalisiertes Wissen zeichnet sich gerade dadurch aus, dass die Individuen es mit fragloser Selbstverständlichkeit als gültig ansehen und demnach über den Sinn dieses Sinns gerade nicht reflektieren. Hier haben wir es dementsprechend in der Tat mit Sinnmustern zu tun, deren Wirkung auf das Denken und Handeln der Akteure sich hinter deren Rücken vollzieht – ein Einfluss des gesellschaftlichen Ganzen auf die Teile, der sich mit den Mitteln atomistischer Erklärung kaum angemessen erfassen lässt.

4.Atomismus und Holismus

      Dem atomistischen Erklärungsprogramm der handlungstheoretischen Soziologie geht es darum, die Erklärungsmöglichkeiten zu ergreifen, die sich aus dem Umstand ergeben, dass menschliches Handeln sinnhaft gesteuertes Verhalten ist. Dieses Anliegen hat Hartmut Esser mit dem folgenden Ausspruch sehr schön auf den Punkt gebracht: »Nicht die Konventionalregel des Grußes nimmt […] den Hut vom Kopf, sondern immer nur ein Akteur, der dafür seine Gründe hat.« [111](Esser 1993: 96) Esser sieht aber auch, dass die aktuelle Sinnbildung des Individuums durchaus hochgradig durch bestehende Sinnmuster strukturiert sein kann. Dann, so Esser (1999: 355), »reagieren menschliche Akteure – wie konditionierte Tauben oder Ratten – ganz spontan, intuitiv und automatisch darauf – und zwar in der Weise, wie das bis dahin in ähnlichen Situationen gelernt worden ist und üblich war«.

      Einige soziologische Ansätze sehen es als ausgemacht an, dass die Sinnbildung, die für die Strukturierung des Sozialen verantwortlich ist, sich wesentlich hinter