dem Argument substantiell kritisiert, dass Fogel sein kontrafaktisches Gedankenexperiment auf falschen Grundannahmen aufgebaut hätte oder seine ökonometrischen Überlegungen der energetischen Leistungsfähigkeit der alternativen Transporttechnologien nicht gerecht würden.[22] In jedem Fall kann sie als anschauliches Beispiel für einsichtsreiche wirtschaftshistorische Fragestellungen im Bereich der Mobilität und Kommunikation dienen.
Schließlich lohnt der Blick in eine etwas jüngere Studie der Kanadier Dwayne Winseck und Robert Pike. Der Kommunikationswissenschaftler Winseck und der Soziologe Pike untersuchen darin die Entstehung und Bedeutung eines – in ihren Worten – „global media system“ seit den 1860er-Jahren. Mit diesem globalen Mediensystem ist das Zusammenspiel einer weltweiten telegrafischen Kommunikationsinfrastruktur mit neuen Mechanismen der Informationsbeschaffung und -verteilung, zum Beispiel durch Nachrichtenagenturen, gemeint. Die Autoren können dabei zeigen, dass Aufbau und Funktion dieses Systems weit weniger stark von den Interessen der Imperialmächte geprägt wurden als bisher angenommen. Vielmehr spielten die unternehmerischen Überlegungen großer Kommunikationskartelle eine wesentliche Rolle. In einem größeren Zusammenhang untersuchen Winseck und Pike in ihrer Studie zum einen, wie die weltweite Ausbreitung kapitalistischen Wirtschaftens sich auf die Entstehung dieses Mediensystems auswirkte und welche Bedeutung umgekehrt globale Informationsflüsse auf den Finanz- und Handelssektor hatten. Quantitatives Material spielt in dieser Studie insgesamt eine untergeordnete Rolle.[23]
Wirtschaftshistorische Erkenntnisinteressen spielen in vielen Betrachtungen der Geschichte der Mobilität nach wie vor eine wichtige Rolle – ob vorder- oder hintergründig. Angesichts der grundlegenden Bedeutung der Bewegung von Waren, Menschen und Informationen für die wirtschaftliche Entwicklung ist dies dem Gegenstand nur angemessen und sollte auch in Zeiten einer anhaltenden kulturwissenschaftlichen Konjunktur immer mitgedacht werden.
[15] Buchheim, S. 8.
[16] Van Laak.
[17] Knies, Eisenbahnen; ders., Telegraph.
[18] Sombart.
[19] Winiwarter u. Knoll, S. 230.
[20] Bagwell, S. 12.
[21] Fogel.
[22] Winiwarter u. Knoll, S. 231f.
[23] Winseck u. Pike.
4. Kulturgeschichtliche Perspektiven
Das Automobil bewegt nicht nur im räumlichen, sondern auch im emotionalen Sinn. Es ist Fortbewegungsmittel ebenso wie kulturelles Symbol, dessen Bedeutung zentral vom jeweiligen Interpretationskontext abhängt. Verspricht es den einen Status und Freiheit, so steht es für andere für Bequemlichkeit und Umweltzerstörung. Nicht weniger gegensätzlich ist der zeitgenössische Diskurs über das Mobiltelefon, das für manche eine vernetzungstechnische Verheißung, für andere eine schlichte Zumutung darstellt. Die Geschichte von Mobilität und Kommunikation ist geprägt von solchen Bedeutungszuweisungen und -veränderungen. Ihnen spürt die Kulturgeschichte nach.
Was Kulturgeschichte ist und wonach sie fragt, hängt zuallererst vom zugrunde liegenden Begriffsverständnis ab. In der Umgangssprache schwang im Begriff der Kultur lange Zeit fast automatisch die so genannte Hochkultur mit. Mit der Verwendung des Wortes verwies man zumeist auf künstlerische Erzeugnisse oder Aktivitäten, denen eine Gesellschaft hohe Qualität und damit große Bedeutung attestierte und die damit den Status eines Kulturgutes innehatten. Dieses enge Begriffsverständnis ist auch in der Umgangssprache mittlerweile weitgehend einem breiteren Gebrauch gewichen. Wie der britische Historiker Peter Burke festhält, sprechen wir heute in ganz alltäglichen Zusammenhängen von Kultur, etwa von „Jugendkultur“, einer „Kultur der Angst“ oder einer „Unternehmenskultur“, um nur einige seiner Beispiele zu nennen.[24] Der wissenschaftliche Gebrauch des Kulturbegriffs hat sich in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ebenfalls grundlegend erweitert. Allerdings geht hier im Zuge der so genannten „kulturellen Wende“ (cultural turn ) die Begriffserweiterung nicht in die Breite und versucht, mehr Gegenstände zu fassen. Vielmehr geht es hier um eine neue Beobachtungsweise, die sich prinzipiell auf jeden Gegenstand anwenden lässt.[25]
Die etymologischen Wurzeln des Wortes Kultur liegen im lateinischen colere bzw. im abgeleiteten Substantiv cultura. Ursprünglich bezeichnete das Verb colere das Bestellen und Bewirtschaften von Land. Diese Wortbedeutung lebt bis heute in der Rede von der Agrikultur fort. Der Begriff wurde aber bald erweitert und auch für pflegende Tätigkeiten außerhalb der Landwirtschaft verwendet. Der Historiker Achim Landwehr nennt als Beispiele die Pflege der Wissenschaften und der Künste oder die Verehrung von Gottheiten. So entwickelte sich laut Landwehr ein engerer Kulturbegriff, der bestimmte Lebensbereiche wie etwa die Kunst, die Wissenschaft oder auch die Religion von anderen Bereichen wie der Politik, der Wirtschaft oder dem Recht abtrennte und als Kultur definierte.[26] Mit einem solchen natürlich immer wieder leicht veränderten und erweiterten Kulturbegriff hat sich auch die Geschichtswissenschaft schon früh auseinandergesetzt. Burke sieht die Anfänge einer solchen Kulturgeschichtsschreibung um 1800 und spricht zunächst von einer klassischen Phase der Kulturgeschichte, die bis weit ins 20. Jahrhundert gereicht habe und von Historikern wie Jacob Burckhardt (1818–1897) oder Johan Huizinga (1872–1945) geprägt gewesen sei. Das Ziel etwa der Arbeiten von Burckhardt oder Huizinga sei es gewesen, umfassende „Porträts einer Zeit“ zu erschaffen. Eine solche Kulturgeschichte habe verschiedenste künstlerische Ausdrucksformen in Verbindung gebracht und so den spezifischen Geist einer Epoche spürbar machen wollen. Burke sieht eine zweite Phase kulturgeschichtlichen Arbeitens in einer „Sozialgeschichte der Kunst“, die für ihn um 1930 beginnt. Hier sei es vor allem um das Verhältnis von Kultur und Gesellschaft gegangen, also beispielsweise um die Frage, ob sich gesellschaftliche Entwicklungen in kulturellen Erzeugnissen spiegeln. In einer dritten Phase habe nach Burke eine Wendung hin zur populären Kultur stattgefunden. Die Kulturgeschichte habe nun vermehrt der Bedeutung der so genannten Volkskultur in historischen Entwicklungen nachgespürt. Burke nennt die britischen Historiker Eric Hobsbawm (1917–2012), der unter einem Pseudonym im Jahr 1959 eine Studie zur Jazzmusik und ihrer soziopolitischen Bedeutung vorlegte,[27] und Edward P. Thompson (1924–1993) mit seinem berühmten Buch zur Entstehung der englischen Arbeiterklasse[28] als wichtige Vertreter.[29] Während der Kulturbegriff in diesen drei groben Phasen immer wieder unterschiedlich interpretiert und erweitert wurde, blieb er aber immer auf bestimmte Lebensbereiche gerichtet.
Eine vierte Phase stellt für Peter Burke die so genannte Neue Kulturgeschichte dar, die hinsichtlich ihrer bevorzugten Gegenstände mitunter auf die genannten Vorarbeiten aufsetzt, deren Kern aber eigentlich in einer neuen Sichtweise auf ihren Forschungsgegenstand besteht. Diese Form der Kulturgeschichte, die viele heutige Forschungsansätze informiert, hat ihre wesentlichen Impulse aus der so genannten „linguistischen“ (linguistic turn ) und der darauffolgenden „kulturellen Wende“ (cultural turn ), die im Prinzip eine Erweiterung ersterer darstellt, erhalten. Seit dem frühen 20. Jahrhundert haben sich Wissenschaftler in den verschiedensten Fachgebieten mit der Frage beschäftigt, wie Sprache unser Bild von der Welt bestimmt und letztlich den Menschen definiert. Solche vom Philosophen Ludwig Wittgenstein (1889–1951), dem Sprachwissenschaftler Ferdinand de Saussure (1857–1913) und vielen anderen formulierten Gedanken verfestigten sich schließlich zur größeren These, dass eine Realität außerhalb der Sprache schlicht nicht vorstellbar und damit auch nicht zu erforschen ist. Im Zuge des cultural turn wurde diese These von der Sprache auf jede Art von Bedeutungszuschreibung