Harald Bathelt

Wirtschaftsgeographie


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Raumbegriffe etwa zur Durchsetzung politischer Ziele sind und dabei gebraucht und missbraucht werden können, zeigt das Beispiel der Blut- und Bodenideologie der Nationalsozialisten im Dritten Reich. Diese definierten Raum als Heimat, als Besitzstand der arischen Rasse, der gegen andere Rassen zu erobern und zu verteidigen sei. Hierbei spielten auch Teile der Länderkunde mit ihrem Landschaftsbegriff eine leidvolle Rolle, denn sie leisteten den Zielen der Nationalsozialisten Vorschub. Das haben insbesondere die Studien seit den 1980er-Jahren über die Rolle der Geographie in der Zeit des Nationalsozialismus verdeutlicht (Schultz 1987; Sandner 1988; Heinrich 1991).

      Verschiedene Raumverständnisse sind stets Ausgangspunkt für unterschiedliche Forschungsprogramme und Perspektiven in der Wirtschaftsgeographie (Glückler 1999; 2002). Dennoch gibt es eine Reihe von Grundbegriffen, die zwar anderartige Aspekte des physischen Raums beschreiben, aber oft ähnlich verstanden werden (Blotevogel 1995 a). Dies sind zunächst die Begriffe physikalischer Raum, Territorium, Region und Standort sowie im folgenden Unterkapitel die Begriffe Distanz und Nähe.

      Der physikalische Raum kann übergeordnet als ein unbestimmter, nicht notwendigerweise abgegrenzter Ausschnitt der Erdoberfläche mit den darin befindlichen dreidimensionalen Gegebenheiten angesehen werden. In dieser Begrifflichkeit ist Raum ein wertfreier Begriff, deshalb aber auch wenig brauchbar. Räume werden erst dann zu einem interessanten Forschungsobjekt, wenn sie aufgrund bestimmter Kriterien in einer Fragestellung abgegrenzt oder herausgestellt werden.

      Territorium ist ein Raumausschnitt, in dem in Bezug auf einen bestimmten Untersuchungsgegenstand spezifische Besitzverhältnisse, Eigentumsstrukturen und Eigentumsrechte gelten. Beispiel für ein Territorium ist der Nationalstaat, der die äußere Grenze einer Volkswirtschaft bildet. Er wird notfalls durch Gewalt, Konflikt oder sogar Krieg gegen andere Nationalstaaten verteidigt. Innerhalb eines Territoriums gibt es Machtverhältnisse, konkrete Regeln und Befugnisse, die durch die Besitzer erlassen werden und durch die andere Personen teilweise oder ganz ausgeschlossen werden. Eine andere Art von Territorium mit unterschiedlichen Rechten und Befugnissen ist das Territorium eines Unternehmens. Welches Ausmaß ein solches Territorium annehmen kann, zeigt etwa der Verbundstandort des Chemie-Konzerns BASF in Ludwigshafen. Der nach Angaben der BASF weltweit größte Chemie-Verbundstandort hat eine Fläche von 10 km2, auf denen sich 2000 Gebäude und 160 Produktionsbetriebe befinden, die durch über 2000 km an Rohrleitungen miteinander verbunden sind. Hier waren im Jahr 1998 rund 45 000, im Jahr 2010 immerhin noch 33 000 Mitarbeiter tätig (BASF 1999; 2011). Auch auf dem Territorium eines Unternehmens gibt es spezifische Regelungen für den Zutritt, Verhaltensregeln zur Vermeidung von Unfällen und spezifische Verkehrsregeln. Durch die Reichweite der Machtbefugnisse sind Territorien nach außen abgegrenzt. Im Unterschied dazu sind Regionen ein künstliches Konstrukt. Sie dienen vor allen Dingen analytischen und planerischen Zwecken und sind nicht in erster Linie durch Machtbefugnisse begrenzt.

      Region ist eine zentrale Bezugsgröße der Wirtschaftsgeographie, um soziale Interaktionen oder Organisationsformen der Produktion zuzuordnen, zu lokalisieren und vergleichen zu können. Es handelt sich hierbei um einen konkreten Ausschnitt der Erdoberfläche, der aufgrund bestimmter Prinzipien oder Strukturen abgrenzbar ist und dadurch von anderen Regionen unterschieden werden kann (Blotevogel 1999). Eine Region ist ein zusammenhängender Raumausschnitt und Regionalisierungen werden meist flächendeckend z. B. für ein ganzes Staatsgebiet durchgeführt (Sinz 1995). Es gibt viele Beispiele für Regionstypen, die in der Wirtschaftsgeographie von Interesse sind:

      (1) Industrieregionen. Sie werden z. B. nach dem Industriebesatz abgegrenzt und sind von Bedeutung, weil sie Arbeitsplätze, aber auch Umweltprobleme schaffen.

      (2) Arbeitsmarktregionen. Sie werden nach Pendlerverflechtungen abgegrenzt und sind von Bedeutung, weil sich in diesen räumlichen Einheiten Einkommen verbreiten und weil hier eine entsprechende Verkehrsinfrastruktur vorhanden sein muss.

      (3) Wachsende und schrumpfende Regionen. Diese werden z. B. anhand des Wachstums der Arbeitsplätze oder der Einkommen abgegrenzt. Ein generelles Verständnis des Wachstumsprozesses wachsender Regionen hilft dabei, Förderprogramme zu entwickeln, die in schrumpfenden Regionen angewendet werden können, um dort möglichst ebenfalls Wachstum zu erzeugen.

      (4) Raumordnungsregionen. Dabei handelt es sich um Planungsregionen, die wie z.B. in Deutschland zur besseren Vergleichbarkeit wirtschaftspolitischer und regionalplanerischer Maß­nahmen eingeführt und für die übergeordnete politische Zielvorstellungen formuliert werden.

      Eine wichtige Aufgabe der Wirtschaftsgeographie ist es, für eine konkrete Aufgabenstellung adäquate Regionen abzugrenzen oder einen bestimmten Raumausschnitt in Teilregionen zu untergliedern (Sedlacek 1998). Hierzu kann man drei Abgrenzungsprinzipien unterscheiden (z. B. Lauschmann 1976, I. Teil):

      (1) Verwaltungsprinzip. Beim Verwaltungsprinzip sind Regionen gleichgesetzt mit administrativen Einheiten, wie z. B. Länder, Kreise und Gemeinden, die aus dem Zeitablauf heraus entstanden sind. Sie sind durch historisch erwachsene gesellschaftliche Strukturen geprägt. Die Grenzen solcher Regionen sind oft das Ergebnis vielfältiger Machtkämpfe, Aushandlungsprozesse und Kriege. Vor allem in der Nachkriegszeit liegt eine Motivation zur Neuabgrenzung von territorialen Verwaltungsgebieten in dem Bemühen, effektive Verwaltungseinheiten zu schaffen, die veränderten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bedürfnissen entsprechen. So wurden in der Bundesrepublik in den 1960er- und 1970er-Jahren umfassende kommunale Gebietsreformen durchgeführt, durch die sich die Zahl der Landkreise um 45 % und die der Gemeinden um 65 % verringerte (Franzke 2005). Die Auswirkungen dieser auf eine höhere Leistungsfähigkeit abzielenden Reformen sind jedoch bis heute umstritten (Reuber 1999). In den Grenzen von Verwaltungseinheiten spiegeln sich oft territoriale Prinzipien wider. Fast immer werden bei weiterführenden Regionsabgrenzungen administrative Einheiten als Kleinsteinheiten zugrunde gelegt. Das hängt damit zusammen, dass es praktisch immer nur auf der Ebene administrativer Raumeinheiten offizielle statistische Daten gibt, die bei einer anderen Regionalisierung zugrunde gelegt werden können. Deshalb sind viele Regionen nach dem Homogenitäts- oder Funktionalprinzip gemeinde- und kreisscharf abgegrenzt.

      (2) Homogenitätsprinzip. Beim Homogenitätsprinzip werden Raumeinheiten mit weitgehend ähnlicher Struktur zu Regionen zusammengefasst (Bartels 1970 b). Hierzu gibt es verschiedene Methoden. Die Kennziffernmethode beruht auf Merkmalen wie dem Pro-Kopf-Einkommen und der Arbeitslosigkeit. Dabei werden Klassen gebildet und Schwellenwerte definiert, um Raumeinheiten einem Gebietstyp (z. B. einem Typ mit hohem oder geringem Pro-Kopf-Einkommen) zuzuordnen. Ein multivariates statistisches Analyseverfahren zur Abgrenzung von homogenen Regionen ist die Clusteranalyse (Fahrmeier und Hamerle 1984, Kap. 9; Bahrenberg et al. 1992, Kap. 7; Backhaus et al. 1996, Kap. 6). Ausgangspunkt bei diesem Verfahren ist eine Klasseneinteilung, bei der jede kleinste Raumeinheit einen eigenen Regionstyp bildet. In jedem Schritt dieses iterativen Verfahrens werden diejenigen beiden Regionen, die sich am ähnlichsten sind, zu einem neuen Regionstyp (Cluster) zusammengelegt. Die Anzahl der Regionen verringert sich mit jedem Schritt um Eins, weil zwei Regionen jeweils zu einer neuen Region zusammengefügt werden. Im Verlauf des Verfahrens wird die Heterogenität innerhalb der Regionscluster tendenziell immer größer. Das Verfahren kommt zum Abbruch, wenn die zusammengefassten Regionen nach einem vorgegebenen Kriterium zu heterogen werden.

      Beispiel für eine Regionalisierung nach dem Homogenitätsprinzip ist die Gliederung Deutschlands nach dem Pro-Kopf-Einkommen auf Ebene der Bundesländer (→ Abb. 4.1 a). Das Pro-­Kopf-Einkommen ist hier definiert als Bruttoinlandsprodukt je Einwohner. Für das Jahr 2008 fällt auf, dass die ostdeutschen Bundesländer ein deutlich geringeres Pro-Kopf-Einkommen aufweisen als die westdeutschen Bundesländer. Die höchsten Pro-Kopf-Einkommen finden sich in den Stadtstaaten, insbesondere in Hamburg, aber auch im mittleren und südwestlichen Teil Deutschlands in Hessen sowie Bayern. Eine Regionalisierung der deutschen Länder nach Arbeitslosenquoten liefert ein etwas anderes Bild (→