Harald Bathelt

Wirtschaftsgeographie


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Akteuren herzustellen. Diese Form der relationalen Nähe (Amin und Cohendet 2004) ist mit dem Aufbau von Vertrauen, gegenseitigem Verständnis und Reziprozität in spezifischen Beziehungen verbunden und kann aus Strukturen sozialer Gruppen oder Schichten hervorgehen (die im Konzept der sozialen Distanz eine Rolle spielen). Relationale Nähe kann aus gemeinsamen beruflichen und/oder privaten Erfahrungen in der Vergangenheit resultieren, wenn die betreffenden Akteure beispielsweise an demselben Standort über einen längeren Zeitraum zusammengearbeitet und sich kennengelernt haben oder daraus, dass die Akteure regelmäßig an einem Unternehmensstandort oder einem anderen Treffpunkt zusammenkommen, um Details und Probleme der Zusammenarbeit abzustimmen bzw. auszuräumen. Hierbei wird temporäre Nähe genutzt, um institutionelle Unterschiede aufgrund großer räumlicher Distanz zu vermitteln und zu begrenzen (Bathelt 2005 b). Diese temporäre räumliche Nähe kann im Zeitablauf den Aufbau relationaler Nähe begründen und generiert Möglichkeiten, permanente Nähe in Produktionsbeziehungen dauerhaft durch Konfigurationen der Produktion und des Wissenstransfers über Distanz zu ersetzen (Bathelt und Henn 2014). Nach Thrift (2000 b) und Amin und Cohendet (2004) erzeugen globale Wanderungs- und Kommunikationsströme im Geschäftsleben (z.B. Geschäftsreisen; Messebesuche) die Chance, neuartige Transaktionsbeziehungen über räumliche Distanzen hinweg in der globalen Ökonomie aufzubauen. Dies wird durch unterschiedliche Konstellationen begünstigt.

      (1) Geschäftsreisende. Sie treffen sich wiederholt und regelmäßig an neutralen Plätzen in verschiedenen Teilen der Welt, wie z. B. in Flughafenhotels, um dort intensive Gespräche face-to-face zu führen (Faulconbridge et al. 2009).

      (2) Qualifizierte Ingenieure und Manager. Sie befinden sich für einen gewissen Zeitraum zu Montage- und Schulungszwecken an einem neuen Unternehmensstandort in einem anderen Land und transferieren die vor Ort gemachten Erfahrungen später in das Unternehmen zurück (Glückler 2008).

      (3) Transnationale epistemische communities aus Mitarbeitern und Spezialisten. Sie sind durch ihre Erfahrungen in unterschiedlichen kulturellen und institutionellen Kontexten in der Lage, als boundary spanners zu fungieren (Coe und Bunnell 2003; Bathelt und Depner 2005; Torre und Rallet 2005).

      (4) Neue Argonauten (New Argonauts). Im Kontext von transnationalen Beziehungen und Unternehmensgründungen spielen die sogenannten Neuen Argonauten, die in der Arbeit von Saxenian (2006) thematisiert werden, eine zentrale Rolle (Henn und Bathelt 2017). Am Beispiel der Hightech-Regionen Silicon Valley und Hsinchu, Taiwan, lässt sich zeigen, wie Neue Argonauten Erfahrungen aus einem neuen geographischen Kontext durch Unternehmensgründungen in einen früheren Kontext zurücktransformieren (Hsu und Saxenian 2000). Wie auch das Beispiel der Familiennetze jüdischer und indischer Diamantenhändler in globalen Transaktionsbeziehungen zeigt, nutzen die Akteure ihre Wettbewerbsvorteile, um auf beiden Seiten Wachstumsimpulse zu generieren (Henn 2010; 2012 a; 2013).

      (5) Spezifische Internet-interfaces. Sie fungieren als Denkstudios und ermöglichen effiziente Problemanalysen in Produktion und Entwicklung über beliebige Entfernungen hinweg.

      (6) Internationale Leitmessen (→ Box 4-2). An ihnen nehmen weltweit führende Unternehmen einer Branche oder Wertschöpfungskette teil, um Informationen über Marktentwicklungen und Innovationen auszutauschen (Maskell et al. 2006; Schuldt und Bathelt 2011; Bathelt et al. 2014) und neue Geschäftsbeziehungen zu knüpfen oder bestehende Beziehungen weiterzuentwickeln (Brailly 2016; Panitz und Glückler 2017).

      Box 4-2: Internationale Leitmessen als globale Knotenpunkte

      Messeveranstaltungen werden in der betriebswirtschaftlichen Literatur vorwiegend als Marketinginstrument zum Anwerben neuer Käuferschichten, zur Markenbildung und zum Imageaufbau sowie als Verkaufs- bzw. Vertriebsinstrumente zur direkten oder indirekten Steigerung des Absatzes diskutiert (Meffert 1993; Backhaus und Zydorek 1997; Kirchgeorg 2003). Tatsächlich ist der Abschluss von Verträgen in fast allen Branchen traditionell eine zentrale Funktion von Messeveranstaltungen und auch heute noch auf vielen Veranstaltungen von Bedeutung. Aber kommen Akteure immer nur mit unmittelbaren Kauf- oder Verkaufsabsichten auf Messeveranstaltungen? Dies ist bei Weitem nicht so – weder bei den Besuchern noch bei den Ausstellern. Die Zielsetzungen der teilnehmenden Akteure sind im Gegenteil sehr vielschichtig und heterogen. Viele kleine Unternehmen nutzen Messen beispielsweise als Ideengeber und beabsichtigen, sich einen Marktüberblick zu verschaffen. Sie versuchen Trends aufzuspüren, die sie später in der eigenen Produktion nutzbar machen können (Bathelt und Zeng 2015). Ausländische Unternehmen sind bestrebt, durch Messepräsenz etwa den Markteinstieg in einem anderen Land vorzubereiten. Unternehmen aus weniger entwickelten Ländern und Schwellenländern (z. B. aus Osteuropa und Südostasien) versuchen Designideen oder Muster zu erhalten, die sie für ihren Heimatmarkt (sowie im Hinblick auf weitere Märkte) imitieren können. Andere Un­ternehmen streben während einer Messeveranstaltung vor allem an, ihre Beziehungen zu bestehenden Kunden und Lieferanten zu vertiefen. Wiederum andere Hersteller nehmen teil, um Kooperationspartner für den Einstieg in neue Technologiefelder oder Marktregionen zu finden. Konkrete Ein- oder Verkaufsgespräche finden in diesen Fällen eher selten statt. Eine wesentliche Rolle spielen zudem Intermediäre bzw. Multiplikatoren, die z. B. als Journalisten oder Verbandsvertreter durch das Anbahnen von relevanten Gesprächen und Meinungsbekundungen über die Erfüllung ihrer subjektiven Erwartungen den Erfolgsverlauf von Messen beeinflussen können (Schuldt und Bathelt 2011; Bathelt et al. 2014).

      Insbesondere internationale Fachmessen in den Bereichen Investitionsgüter, Dienstleistungen und Konsumgüter mit Leitcharakter haben eine bedeutende Funktion für den Wissensaustausch in einer Branche und dienen als Plattform der globalen Interaktion für Prozesse der Wissensgenerierung und des Lernens (Bathelt und Zakrzewski 2007; Bathelt und Schuldt 2008). Sie erzeugen einzigartige Bedingungen zur Kommunikation und zum Informations- und Wissensaustausch (sog. global buzz) (Bathelt und Schuldt 2010). Die während dieser Veranstaltungen stattfindenden Events, das innovative Niveau und die Größe der Messen verbunden mit einem hohen Anteil an internationalen Ausstellern und Marktführern machen diese Veranstaltungen zu zeitlich begrenzten, regelmäßig wiederkehrenden Spitzenereignissen der jeweiligen Branchen. Solche weltweit bedeutenden Veranstaltungen sind zugleich Vorreiter für kleinere, national oder regional begrenzte Messeveranstaltungen. Auf internationalen Leitmessen konzentrieren sich nicht nur Außendarstellung und Innovationen einzelner Unternehmen. Ganze Branchen arbeiten auf diesen Höhepunkt hin, auf dem weichenstellende Kontakte generiert, Verträge geschlossen und Trends präsentiert und ausgetauscht werden. Da sich auf diesen Veranstaltungen ein wesentlicher Teil der technischen Spezialisten und der Entscheider der betreffenden Branchen aus aller Welt trifft, findet ein globaler Wissensaustausch statt, der die zukünftige Entwicklung ganzer Branchen beeinflusst. Gerade persönliche Kontakte, die nicht durch technologische Lösungen ersetzbar sind, spielen dabei eine zentrale Rolle. Häufig werden die Gespräche zwischen Herstellern, Zulieferern und Abnehmern nach dem Ende einer Messeveranstaltung weitergeführt, konkretisiert und bilden die Grundlage für globale Vernetzungen (Bathelt und Zakrzewski 2007; Bathelt et al. 2014) bzw. die Verschaltung (sog. rewiring) bestehender und neuer Geschäftsbeziehungen (Panitz und Glückler 2017).

      Die räumliche Diversität gesellschaftlicher Wirklichkeit kann als Legitimation für die geographische Analyse ökonomischer und sozialer Phänomene aufgefasst werden (Sayer 1985; Johnston 1991 a; 1991 b; Massey 1994). Zentraler Ausgangspunkt wirtschaftsgeographischer Studien ist die empirisch gewonnene Erkenntnis, dass unausgeglichene Raumstrukturen bestehen. Räumliche Disparitäten bezeichnen allgemein Abweichungen bestimmter als gesellschaftlich bedeutsam erachteter Merkmale von einer gedachten ausgeglichenen Referenzverteilung (Biehl und Ungar 1995; Stiens 1997). Der Zusatz der gesellschaftlichen Relevanz ist hierbei wichtig, um diejenigen regionalen Unterschiede anzusprechen, die sich auf die als notwendig geschätzte Lebensqualität und die Lebenschancen der Bevölkerung auswirken. Der wirtschaftliche Entwicklungsstand einer Region wird mit zen­tralen Indikatoren, wie z. B. dem Bruttoinlandsprodukt pro Einwohner, der Arbeitslosenquote, dem Einkommensniveau und der Qualität der Infrastruktur, erfasst. Dennoch sind räumliche Disparitäten nicht notwendigerweise räumlich bedingt. Sie resultieren z. B. daraus, dass wirtschaftliche Produktion nicht überall gleichartig organisiert ist, weil etwa Normen und