Harald Bathelt

Wirtschaftsgeographie


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Ballungen sind in ein bestimmtes regionales Umfeld eingebettet und daraus hervorgegangen. Ihr Entstehungsprozess ist ohne dieses Umfeld oft nicht begreifbar.

      Disparitäten können auf unterschiedlichen räumlichen Maßstabsebenen auftreten. Sie können als weltweite Zentrum-Peripherie-Gegensätze erscheinen, in Deutschland als Nord-Süd- oder Ost-West-Unterschiede, als Stadt-Land-Gegensätze oder als Ballungs- und Entleerungsprozesse in unterschiedlichen räumlichen Dimensionen.

      Anhand des Gegensatzes von Stadt und Land lässt sich zeigen, dass räumliche Disparitäten das Ergebnis räumlich differenziert wirkender sozialer Prozesse sind. So setzte zur Zeit der Industrialisierung im Zuge einer Landflucht bei wachsender Bevölkerungszahl eine starke Verstädterung ein. Die Sterberate sank (→ Abb. 4.3) aufgrund neuer Erkenntnisse bei der Gesundheitsvorsorge und Krankheitsbekämpfung (Berry et al. 1987, Kap. 3; Bähr et al. 1992, Kap. 5.2). In landwirtschaftlich geprägten Regionen fanden die Menschen in der Folge keine ausreichenden Beschäftigungsmöglichkeiten mehr. Dies galt in Deutschland insbesondere für Regionen mit Anerbenrecht, wie z. B. das Münsterland, während in Regionen mit Realerbteilung, wie z. B. Hessen, zumindest für eine gewisse Übergangszeit die in der Erbfolge verbliebenen Einzelgrundstücke groß genug waren, um eine wachsende Bevölkerung zu ernähren. Im Unterschied dazu gab es in städtischen Gebieten durch die Expansion von Handwerk und Manufakturen eine wachsende Anzahl von Arbeitsplätzen. Hier kam es deshalb zum Zuzug von Menschen aus ländlichen Regionen und aufgrund der wachsenden Bevölkerung entstanden hier die wichtigsten Märkte.

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      Abb. 4.3 Modell des demographischen Übergangs

      Aus der Existenz solcher Disparitäten ergeben sich wichtige Untersuchungsfragen für die Wirtschaftsgeographie: Welche räumlichen und regionalen Disparitäten gibt es und durch welche sozialen und ökonomischen Prozesse werden sie ausgelöst? Um Fragen dieser Art zu beantworten, ist aus wirtschaftsgeographischer Sicht beispielsweise eine Analyse der unterschiedlichen räumlichen Ausprägungen von Unternehmensgründungen und -verlagerungen sinnvoll. Weitergehend könnte man fragen, welche sozialen und ökonomischen Prozesse einen Ausgleich oder eine Verstärkung solcher Disparitäten fördern. Wichtig ist hierbei, die richtige räumliche Maßstabsebene zur Betrachtung der konkreten Prozesse zu wählen, weil ansonsten die interessierenden Disparitäten nicht sichtbar werden. Bei einer Untersuchung sozialer Segregationsprozesse ist beispielsweise die Stadtteilebene als Ausgangspunkt der Untersuchung sinnvoll und nicht das Bundesland.

      Resultat räumlich ungleichmäßiger Wirtschaftsprozesse sind räumlich ungleichwertige Lebens- und Arbeitsbedingungen. Diese sind eine Folge von Wechselwirkungen zwischen Kapitalkonzentration, Bevölkerungskonzentration und Lebenschancen. In einer Demokratie wie Deutschland, die auf dem Prinzip der Chancengleichheit beruht, ist es nicht akzeptabel, dass durch räumliche Ungleichheiten unterschiedliche individuelle Entwicklungsmöglichkeiten vordefiniert werden. Deshalb leitet sich in der Bundesrepublik Deutschland aus dem Grundgesetz das Ziel ab, gleichwertige Lebens- und Arbeitsverhältnisse zu schaffen (Art. 72 und Art. 106, Abs. 3 GG). Dieses Ziel wird im Raumordnungsgesetz (§ 2 ROG) und in weiteren Gesetzen und Bestimmungen erläutert und präzisiert (Stiens 1988; Ernst 1995; 1997). Auch im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (Art. 4 und Art. 174) bildet die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse bzw. die Stärkung des wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts eine wichtige Norm der Gesellschaftsordnung.

      Die beiden Extreme räumlicher Disparitäten sind Ballung und Entleerung. In räumlichen Ballungen kommt es zu einer Konzentration von Menschen und damit zu einer Ballung sozialer und ökonomischer Aktivitäten. Dies trifft insbesondere auf große Metropolen und sogenannte Verdichtungsräume zu. Nach Gaebe (1987, Kap. 7) lassen sich unterschiedliche Merkmale zur Abgrenzung von Verdichtungsräumen verwenden:

       städtebaulich-morphologische Merkmale wie die Wohndichte und Geschosshöhe,

       demographische Merkmale, z. B. Mindestbevölkerung und Bevölkerungsdichte,

       ökonomische Merkmale der Arbeitsplatz-, Einkommens- und Berufsstruktur,

       ökologische Merkmale, wie etwa Immissionen, Frei- und Erholungsflächen,

       Verflechtungsmerkmale mit dem Umland, z. B. in Form von Berufspendlerverflechtungen.

      Erste Abgrenzungsversuche von Verdichtungsräumen waren vorwiegend technischer Art. Sie erfolgten anhand weniger, oft subjektiv ausgewählter Merkmale und waren stark simplifiziert. Beispielsweise legte Scott (1912) einen 10-km-Radius um den Verkehrsmittelpunkt einer Großstadt fest und bezeichnete diesen als Agglomeration. Als Großstädte galten dabei Städte mit mehr als 100 000 Einwohnern. Es ist klar, dass sich derartige Abgrenzungen nicht beliebig auf andere Länder übertragen lassen und nicht im Zeitablauf unverändert erhalten bleiben. Inhaltlich hatte Scott (1912) eigentlich etwas anderes abbilden wollen: Als Agglomeration wollte er eine Großstadtgemeinde und die durch ihre Sozial- und Bevölkerungsstruktur beeinflusste Umgebung zusammenfassen, die z. B. in ihrer Wohnweise, Verkehrsinfrastruktur und Pendlerstruktur spezifische Ausprägungen aufweist (Gaebe 1987, Kap. 7).

      In der Nachkriegszeit erkannte man, dass Verdichtungsräume keineswegs homogene Einheiten sind, sondern dass sie eine innere Gliederung besitzen. Für diese Sichtweise war die Abgrenzung von Boustedt (1975, Kap. 8) besonders charakteristisch (→ Abb. 4.4). Boustedt (1975, Kap. 8.4) definierte eine Stadtregion anhand von Strukturmerkmalen (Agrarquote, Einwohner-Arbeitsplatzdichte) und Verflechtungsmerkmalen (Auspendler). Er unterschied vier Zonen der Stadtregion: Das Kerngebiet umfasste die Kernstadt und ihr Ergänzungsgebiet, welches aus angrenzenden Gemeinden mit ähnlicher Struktur besteht. Nach außen folgte darauf eine verstädterte Zone mit stärker aufgelockerter Siedlungsweise und einer hohen Zahl von Auspendlern in das Kerngebiet. Hiervon unterschied Boustedt (1975) noch eine Randzone mit zunehmendem Anteil landwirtschaftlicher Erwerbspersonen (Heineberg 1989, Kap. 2). Auch dieser Gliederung fehlt jedoch letztlich eine theoretische Begründung. Zudem wurde eine kreisförmige Struktur der Städte um ihren Mittelpunkt unterstellt. Die Ministerkonferenz für Raumordnung definierte Verdichtungsräume im Jahr 1970 in der Bundesrepublik Deutschland nach nur einem einzigen Merkmal, der Einwohner-Arbeitsplatzdichte (d. h. der Anzahl der Einwohner plus Beschäftigten je km2).

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      Abb. 4.4 Abgrenzung einer Stadtregion in Deutschland (nach Boustedt 1975, S. 344)

      Daneben gibt es eine Vielzahl alternativer Abgrenzungsversuche von Verdichtungsräumen und Stadtregionen (Lichtenberger 1986, Kap. 2.1; Gaebe 1987, Kap. 7; Tönnis 1995). Außerdem bestehen in verschiedenen Ländern voneinander abweichende Festsetzungen von Verdichtungsräumen, die nur schwer miteinander vergleichbar sind. In den USA werden beispielsweise sogenannte metropolitan statistical areas abgegrenzt. Die Grenzziehung erfolgt auf der Ebene von counties und basiert auf den Merkmalen Mindestgröße, Mindestdichte und Mindestpendleranteil in die zentralen counties der Agglomeration.

      Insgesamt sind Abgrenzungen von Verdichtungs- und Ballungsgebieten problematisch. So ist die Wahl der Abgrenzungsmerkmale und der Abschneidegrenzen selten zwingend. In der Regel wird eine pragmatische Vorgehensweise bevorzugt, weil eine theoretisch begründete Methodik nicht existiert. Vielfach wird die Bedeutung von Verflechtungsmerkmalen für solche Abgrenzungen hervorgehoben, jedoch in der Praxis zu selten tatsächlich verwendet. Ein weiteres Problem besteht darin, dass die Abgrenzungen in der Regel von der Existenz eines Verdichtungskerns ausgehen, zu dem hin Verflechtungen von außen bestehen. Das hierbei unterstellte ringförmige Städtemodell trifft aber auf nordamerikanische Städte nur noch bedingt zu.

      Die Raumentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland war in der Nachkriegszeit durch drei Prozesse geprägt (Gaebe 1987):

      (1) Urbanisierung (Verdichtung der Kerngebiete),

      (2) Suburbanisierung (städtische Expansion ins Umland),

      (3)