Harald Bathelt

Wirtschaftsgeographie


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      (2) Ökonomische Distanz. Unter ökonomischer Distanz werden die kostenwirksamen Aspekte der Distanzüberwindung verstanden. Sie werden zumeist als Transportkosten oder als Transportzeit gemessen. Wie hoch die Transportkosten bzw. die Transportzeit in einem konkreten Fall sind, hängt dabei nicht nur von der Entfernung ab, sondern auch von der Morphologie (z. B. der Frage, ob Wüsten oder Berge zu überqueren sind), von der Verkehrsinfrastruktur, der Transportierbarkeit der Güter und der Verkehrstechnologie. Inwieweit diese Kosten entscheidungsrelevant sind, ergibt sich daraus, in welchem Verhältnis sie zu anderen Kosten stehen (z. B. Richardson 1978, Kap. 2).

      (3) Soziale Distanz. Das Konzept der sozialen Distanz kennzeichnet die soziale Entfernung zwischen Personengruppen und ist ein Maß sozialer Ungleichheit (Yeates 1990, Kap. 6). Ähnlich wie etwa die Wirtschaftsgeographie ökonomische Aktivitäten aufgrund ihres räumlichen Zusammenhangs regionalisiert, formulieren andere Sozialwissenschaften auch andere Stratifizierungsmodelle zur Abgrenzung sozial entfernter Gruppen. Soziale Distanzen zwischen gesellschaftlichen Schichten drücken sich durch Unterschiede in Bildungshintergründen, in beruflichen Qualifikationen oder in Haushaltseinkommen aus. Im Gegensatz zu diesen vertikalen sozialen Distanzen, die hierarchisch stratifizierte soziale Gelegenheiten beschreiben, treten im Zug einer fortschreitenden Differenzierung der modernen Industriegesellschaft horizontale Ungleichheiten immer stärker in den Vordergrund. Sie werden in unterschiedlichen Werten, Lebenseinstellungen, Gewohnheiten und Geschmäckern offensichtlich (Bourdieu 1987; Berger und Hradil 1990). Diese sozialen Unterschiede drücken sich in Konzepten wie denen der sozialen Milieus oder der Lebensstil-Gruppen aus (Lüdtke 1989; Müller 1992), die sich als Ensembles von Akteuren mit ähnlichen Stellungen, Dispositionen und Praktiken von anderen Milieus unterscheiden (Bourdieu 1995). Soziale Distanz und räumliche Distanz hängen dabei keineswegs systematisch zusammen (Hard 1993). Soziale Distanz begründet jedoch dann interessante Formen raumrelevanten Handelns, wenn beispielsweise eine Person ihre Versorgungseinkäufe lieber an räumlich weiter entfernten Orten ausführt, die eine geringere soziale Distanz zu ihren Lebensgewohnheiten aufweisen, anstatt in räumlich näher gelegenen, jedoch sozial entfernteren Geschäftszentren einzukaufen. An diesem Beispiel wird auch deutlich, dass eine ausschließlich ökonomische bzw. kostenspezifische Interpretation physischer Distanz ein solches Verhalten unerklärt ließe.

      Die oben stehenden Erläuterungen zum Distanzbegriff zeigen, dass Distanz nur in Bezug auf eine Problemstellung und die dafür gewählten Kriterien sinnvoll zu bestimmen ist. Harvey (1990) hat eindrucksvoll gezeigt, dass technologische Entwicklungen im Bereich der Informations-, Kommunikations- und Verkehrstechno­logien während des 20. Jahrhunderts zu einer time-space compression, also zu einer Raum-­Zeit-Verkürzung geführt haben. Durch neue Technologien scheint die Welt näher zusammengerückt zu sein (→ Kap. 4.5). Konzepte der Distanz und insbesondere Transportkosten spielen indes aufgrund von überlasteten Verkehrsinfrastrukturen nach wie vor eine Rolle. Steigende Mobilitätskosten werden im Zusammenhang mit dem Überschreiten des peak oil (→ Kap. 3.3.1) absehbar wieder eine größere Rolle spielen, was auch Einfluss auf geographische Analysen haben wird.

      Ein grundsätzliches Problem bei der Organisation industrieller Arbeits- und Produktionsprozesse besteht darin, die Arbeitskräfte, Rohstoffe, Zwischenprodukte, Maschinen und Anlagen auf betriebsinterner, unternehmensinterner und unternehmensübergreifender Ebene in räumlicher Perspektive so zu verknüpfen, dass eine möglichst effiziente Teilung und Integration der Arbeit erfolgt. Nach diesem Verständnis von Sayer und Walker (1992, Kap. 3) muss eine hinreichende Koordination und Kontrolle des Produktionsablaufs auf den verschiedenen Ebenen der Produktion innerhalb und zwischen Betriebsstätten und Betrieben sichergestellt sein, damit hochwertige Produkte zuverlässig nach Kundenbedürfnissen angefertigt werden können. So gilt es zu entscheiden, welche Vor- und Zwischenprodukte ein Unternehmen selbst herstellt und welche es von Zulieferern zukauft, welche Prozesstechnologien eingesetzt werden und wie die verschiedenen Produktionsschritte verknüpft werden. All diese Fragen beeinflussen letztendlich die Entscheidung, an welchen Standorten auf regionaler, nationaler und internationaler Ebene die verschiedenen Produktionsabschnitte angesiedelt werden. Eine wichtige Strategie, um die Koordination und Überwachung der Produktionsabläufe zu sichern, besteht darin, zwischen den verschiedenen Produktionsstufen Nähe zu erzeugen. Hierbei kann zwischen verschiedenen Konzepten der Nähe unterschieden werden (Lund­vall 1988; Gertler 1993; Bathelt 1995; 2000).

      (1) Räumliche Nähe. Räumliche Nähe im Sinne geometrischer Nähe ist zwar eine theoretisch weder hinreichende noch notwendige Bedingung für das Zustandekommen von Interaktionen. Allerdings dient sie oft als wichtige Voraussetzung, um Menschen und Unternehmen zusammenzubringen, um Wissen zu teilen und Probleme zu lösen (Storper und Walker 1989, Kap. 3). Räumliche Nähe verringert nicht nur Transportkosten und vermindert die Kosten bei der Suche nach Informationen über mögliche Zulieferer. Infolge der Möglichkeit häufiger persönlicher Begegnung von Angesicht zu Angesicht erleichtert sie zugleich interaktive Problemlösungen, unternehmensübergreifende Abstimmungen und das Entstehen von Vertrauensbeziehungen (Harrison 1992). Das hängt unter anderem damit zusammen, dass die Akteure durch räumliche Nähe in ein relativ homogenes gesellschaftliches Gefüge eingebettet sind. Gerade kleine, neu gegründete Unternehmen sind vergleichsweise stark in ihrem lokalen Umfeld tätig, das ihnen vertraut ist und wo sie potenzielle Geschäftspartner bereits kennen (→ Box 4-1).

      Box 4-1: Bedeutung von face-to-face-Interaktion

      Zwar wird in vielen wirtschaftsgeographischen Studien die große Bedeutung räumlicher Nähe betont, allerdings bleibt der eigentliche Vorteil ökonomischen Handelns von Angesicht zu Angesicht (face-to-face) dabei oft verborgen und unverstanden. Vorteile räumlicher Nähe werden teilweise vorausgesetzt, aber nicht empirisch belegt. Aus diesem Grund ist es hilfreich, die sozialpsychologische Literatur heranzuziehen, die schon seit längerer Zeit nahe und entfernte Kommunikations- und Interaktionsprozesse untersucht und dabei soziale und kognitive Faktoren im Zusammenhang mit dem face-to-face-Austausch betont. Diese Studien gestatten einen tieferen Einblick in die Prozesse des „being there“ (Gertler 1995). In ihrer grundlegenden Analyse von Kommunikationsprozessen durch Telekommunikation haben Short et al. (1976) insbesondere die Rolle nonverbaler Signale wie Gesichtsausdruck, Blickrichtung, Körperhaltung und physischer Distanz betont, die bei face-to-face-Kommunikation eine zentrale Rolle spielen und diese einzigartig machen. In der sozialpsychologischen Literatur werden zwei grundlegende Funktionen der face-to-face-Kommunikation unterschieden: Die erste Gruppe von Wirkungen betrifft die Informationsfunktion. Sie drückt sich zunächst in der illustrierenden Wirkung aus. So werden beispielsweise Gesten verwendet, um ein Gesprächsobjekt zu illustrieren. Die durch diese Gesten eingeführte Redundanz erleichtert das Verstehen durch die Zuhörer. Daneben werden parallel symbolische Gesten eingesetzt, die Sprachbotschaften ersetzen, wie beispielsweise das Kopfschütteln, um ein „Nein“ auszudrücken. Letztlich helfen derartige Signale dem Zuhörer, die Position oder Meinung des Sprechers abzuschätzen, etwa wenn die Körperhaltung eine offene oder abwehrende Position zum Thema suggeriert. Dies ist beispielsweise für Unternehmen auf Messen eine große Hilfe, um neue Entwicklungen in intensiven Gesprächen zu bewerten (Bathelt und Schuldt 2008). Die zweite Gruppe von Wirkungen betrifft die Integrationsfunktion der face-to-face-Kommunikation (Birdwhistell 1970). Nonverbale Signale sind diesbezüglich von Bedeutung, um den Partnern im Gespräch gegenseitige Aufmerksamkeit zuzusichern. Dies geschieht während des Gesprächsverlaufs durch Blickkontakt, Zustimmung durch Kopfnicken etc. Zudem erlauben vielfältige Signale wie etwa Fingerzeig oder Blickkontakt einen reibungslosen Gesprächsverlauf zwischen den beteiligten Personen. Eine zentrale Funktion der face-to-face-Kommunikation besteht darin, dass nicht nur die Weitergabe von Informationen und Wissen illustriert und erleichtert wird, sondern zugleich die Sprecher ständig nonverbale Reaktionen ihrer Zuhörer aufnehmen, die einen feedback-Mechanismus in Bezug auf die Gesprächsinhalte bewirken. Die Sprecher erhalten somit eine sofortige Rückmeldung darüber, ob komplexe Zusammenhänge verstanden worden sind, ob die Zuhörer folgen können oder ob sie dem Gesagten nicht zustimmen. In jedem Fall erhalten die Redner die Möglichkeit, ihre Rede unverzüglich anzupassen, indem sie zusätzliche Erläuterungen hinzufügen oder eine Erklärung überspringen, die