Harald Bathelt

Wirtschaftsgeographie


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reduzieren nonverbale Signale in der face-to-face-Kommunikation die Ungewissheit zwischen den Beteiligten und begünstigen eine Atmosphäre, die Vertrauensaufbau ermöglicht (Leamer und Storper 2001), was etwa beim Markteintritt in einen neuen Markt von großer Bedeutung ist. Räumliche Nähe wird somit zu einer Vo­raussetzung, um anhaltende Kooperation durch ständigen Austausch von gegenseitigen Verpflichtungen und Versicherungen zu unterstützen (Olson und Olson 2003) und Kohärenz zu erreichen. Zudem schafft face-to-face-Interaktion die Möglichkeit, die Aktionen von Partnern im engeren Umkreis genau zu überwachen (Crang 1994), und stellt damit zugleich eine Möglichkeit dar, Macht über Arbeitskräfte oder Zulieferer auszuüben (Allen 1997). All diese Vorteile kopräsenter Kommunikation begründen die starke Zunahme von Geschäftsreisen in einer zunehmend globalisierten Wirtschaft (Faulconbridge et al. 2009).

      Torre und Rallet (2005) unterscheiden in ihrer Arbeit zwei prinzipielle Formen von Nähe: geographische bzw. räumliche Nähe und organisierte Nähe, wobei letztere kein räumliches Konzept darstellt, sondern Ausdruck einer sozialen Affinität ist, die oftmals nicht automatisch vorliegt, sondern zwischen den betreffenden Akteuren zunächst herzustellen oder herbeizuführen ist (Rallet und Torre 2017). Die Formen organisierter Nähe oder Affinität, die nachfolgend diskutiert werden, ermöglichen es, ökonomische Prozesse über oftmals große Distanzen zu organisieren (Bathelt und Henn 2014).

      (2) Kognitive Nähe. Räumliche Nähe führt keineswegs dazu, dass Unternehmen automatisch Partnerschaften eingehen oder Netzwerke bilden. Manchmal versprechen sich die Unternehmen keine Vorteile von einer lokalen Partnerschaft, weil sie nicht glauben, daraus neues Wissen generieren zu können. Tatsächlich verläuft die Erzeugung von Wissen inkrementell und kumulativ, sodass Unternehmen eine spezialisierte Wissensbasis entwickeln, die ihren spezifischen Problemen und Ausrichtungen folgt. Man könnte deshalb schlussfolgern, dass Unternehmen eine Partnerschaft mit einem anderen Unternehmen speziell dann eingehen, wenn dessen Wissensbasis hinreichend viele Unterschiede zu der eigenen aufweist, damit etwas Neues dazugelernt werden kann. Zugleich muss es auch hinreichend viele Gemeinsamkeiten geben, damit Wissen effizient getauscht werden kann (Nooteboom 2000 b; Boschma und Frenken 2006; Castaldi et al. 2015). So ist es keineswegs eine Selbstverständlichkeit, dass Unternehmen das von ihnen benötigte Wissen korrekt identifizieren, interpretieren und anschließend erfolgreich umsetzen können (Cohen und Levinthal 1990). Akteure benötigen kognitive Nähe im Sinn einer ähnlichen, verwandten Wissensbasis, um miteinander kommunizieren zu können. Zugleich scheint aber ein Mindestmaß an kognitiver Distanz sinnvoll, damit die Unternehmen überhaupt voneinander lernen können (Nooteboom 2000 b).

      (3) Institutionelle Nähe. Eine äußere Grenze der räumlichen Nähe ist durch die für ökonomische Verflechtungsbeziehungen erforderliche oder förderliche institutionelle Nähe gegeben (Nelson 1988; Berndt 1996). Institutionelle Nähe (manchmal auch ein wenig irreführend als kulturelle Nähe bezeichnet) bezieht sich auf die einheitlichen, insbesondere nationalstaatlich definierten Koordinationsstrukturen und -prinzipien, welche die Art und Stabilität der Beschäftigungs- und Produktionsverhältnisse und der Arbeits-Kapital-Beziehungen betreffen wie z. B. die Zusammenhänge zwischen Bildungssystem, Industriearbeit und technologischem Wandel (Gertler 1992; 1997). Institutionelle Nähe (die man natürlich nicht nur auf nationalstaatlicher Ebene ansetzen kann) ist umso größer, je geringer die zu überwindenden institutionellen Unterschiede sind. Eine zu geringe institutionelle Nähe kann Probleme bei der Adaption neuer Technologien und Organisationsprinzipien verursachen, die in anderen Ländern entwickelt worden sind und dort erfolgreich angewendet werden (Gertler 1995; 1996). Dies mag auch erklären, warum Zulieferbeziehungen innerhalb nationalstaatlicher Grenzen meist stärker als z.B. in industriellen Ballungsräumen – d. h. in räumlicher Nähe – ausgeprägt sind. Anders als in den Studien der 1960er- und 1970er-Jahre, die dies zunächst als scheinbaren Widerspruch bewerteten (Schickhoff 1983, Kap. II und III), zeigt sich hierin die große Bedeutung des Nationalstaats zur Schaffung institutioneller Nähe.

      (4) Organisatorische Nähe. Internationalisierungs- und Globalisierungsprozesse von Produktions- und Marktbeziehungen sind den Konzepten der räumlichen und kulturellen Nähe offensichtlich entgegengerichtet. Fehlende räumliche oder institutionelle Nähe kann jedoch unter Umständen durch organisatorische Nähe (nicht zu verwechseln mit organisierter Nähe) ersetzt oder ausgeglichen werden. Dies geschieht, indem Unternehmen im Rahmen von Fusions- und Akquisitionsaktivitäten neue Unternehmen oder Unternehmensteile in anderen Ländern erwerben, um somit Zugang zu deren angestammten Märkten zu erlangen und entsprechendes Marktwissen zu erwerben (Dicken 1994; Schamp 1996; Storper 1997 c). Durch diesen Schritt findet im Prinzip innerhalb von Unternehmen eine Substitution von distanzabhängigen gleichberechtigten Verflechtungsbeziehungen durch distanzunempfindliche hierarchische Anweisungsstrukturen statt. Wachsende räumliche Distanzen in den Produktionsbeziehungen sind dabei die Voraussetzung für zunehmende räumliche und institutionelle Nähe in den Interaktionen mit Abnehmern (Malecki 2009).

      (5) Virtuelle Nähe. Moderne Informations- und Kommunikationstechnologien ermöglichen in Echtzeit, also ohne Zeitverzögerung und über große Entfernungen hinweg, eine effektive Wahrnehmung von Koordinations- und Überwachungsaufgaben in der Produktion. Weltweite Vernetzungen im Internet erzeugen sowohl innerhalb eines Unternehmens als auch zwischen selbstständigen Unternehmenseinheiten virtuelle Nähe. Es ist abzusehen, dass diese durch Innovationen bei IT-Dienstleistungen in Zukunft weiter an Bedeutung gewinnen wird und zur Erschließung neuer Potenziale für weltweit integrierte Produktions- und Marktstrukturen führt (Bathelt und Turi 2011; Bathelt und Henn 2014).

      Aus den Nähekonzepten ist seit Ende der 1990er-Jahre die sogenannte Proximity School (Rallet und Torre 1999; 2017; Torre und Rallet 2005) hervorgegangen. Davon inspiriert argumentiert Boschma (2005), dass sich Probleme des ökonomischen Tauschs analysieren lassen, indem verschiedene Ebenen der Nähe im Wechselspiel miteinander analysiert werden, wobei zu große Distanz auf einer Ebene durch Nähe auf einer anderen Ebene ersetzt werden kann (Boschma und Frenken 2005). Trotz ihrer Plausibilität birgt diese Argumentationskette jedoch Probleme in sich. So werden Unterschiede und Gemeinsamkeiten bzw. Affinitäten und Dissonanzen mit Hilfe einer räumlichen Semantik in der Begrifflichkeit von Nähe und Distanz abgebildet. Dabei wird Nähe implizit mit Erfolgen, Distanz mit Problemen und Misserfolgen in Verbindung gebracht. Eine solche Interpretation ist aber erstens empirisch vielfach nicht korrekt (denn viele Unternehmen verzichten oft bewusst auf Interaktionen in ihrem engeren Umfeld und sind stattdessen erfolgreich in ihren weltweiten Transaktionen) und zweitens birgt sie die Gefahr, sich auf eine abstrakte Diskussion von verschiedenen Nähekonzepten einzulassen, ohne die tatsächlichen Probleme und Motivationen der betroffenen Akteure genau zu untersuchen und hier mit einer Lösung anzusetzen (Bathelt 2005 a; Gibson und Bathelt 2014). Durch derartige räumliche Semantiken (Glückler 1999) bzw. ‚sprachliche Verräumlichungen‘ rücken letztlich Konzepte in das Zentrum wirtschaftsgeographischer Analyse, die sozialer, institutioneller oder organisatorischer Art sind, aber so behandelt werden als seien sie räumlich. In jüngeren Studien der Proximity School wird dies durchaus kritisch gesehen (Rallet und Torre 2017).

      Ökonomische Interaktions- und Kommunikationsprozesse werden besonders komplex, wenn Unternehmen über große räumliche Distanzen hinweg und zwischen verschiedenen kulturellen und institutionellen Kontexten unterschiedlicher Länder Austauschbeziehungen unterhalten. Um die kulturellen und institutionellen Unterschiede zu überbrücken und einen gemeinsamen Interaktionszusammenhang zu schaffen, so könnte man argumentieren, ist es notwendig, Nähe oder Affinität zwischen den Akteuren herzustellen. Dass dies selbst dann nicht gelingt, wenn Unternehmen sich zu einer Fusion oder Akquisition entschließen und damit organisatorische Nähe herstellen, zeigt sich daran, dass viele Unternehmenszusammenschlüsse scheitern (Storper 1997 c). Dabei wird unterschätzt, wie schwierig es ist, unterschiedliche Unternehmenskulturen zusammenzuführen.

      Dabei zeigt die ökonomische Realität, dass Transaktionen über kulturelle und institutionelle Grenzen hinweg keineswegs eine Ausnahme darstellen, sondern mit fortschreitender Globalisierung immer mehr an Bedeutung gewinnen. Prozesse der ökonomischen Interaktion und Wissensgenerierung scheinen immer weniger an spezielle lokale oder regionale Kontexte gebunden zu sein, sondern