Harald Bathelt

Wirtschaftsgeographie


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Wohlstand als die Länder der Tropen. Zweitens erzielen küstennahe Regionen weltweit höhere Einkommen als küstenferne Regionen oder Binnenstaaten. Auch auf regionaler und lokaler Ebene lassen sich räumlich differenzierte Nutzungen und Standortstrukturen erkennen, die aus Unterschieden natürlicher Zugangsbedingungen und anderer Kostenvorteile resultieren. In manchen Branchen bestimmen natürliche Kostenvorteile oder Beschränkungen die Standortverteilung von Unternehmen in erheblichem Maß. So ist z. B. die effiziente Stromgewinnung aus Windenergie und Wasserkraft trotz technologischer Fortschritte auf klimatische und topographische Gunstlagen angewiesen. Die räumliche Verteilung von Kraftwerken zur Stromgewinnung aus regenerativen Energien lässt sich in Deutschland geradezu idealtypisch auf natürliche Kostenvorteile zurückführen (Klein 2004; Handke und Glückler 2010). Wichtig bleibt jedoch festzustellen, dass die natürlichen Bedingungen wirtschaftliche Strukturen keineswegs determinieren. So gibt es beispielsweise trotz potenzieller Kostennachteile wichtige Standorte der chemischen Produktion auch weit von den Küsten entfernt (Beispiel: BASF in Ludwigshafen) oder wichtige Regionen des Gemüseanbaus trotz vergleichsweise ungünstiger klimatischer Bedingungen (Beispiel: Niederlande).

      Regionale Disparitäten und regionale Entwicklung. Nicht alle regionalen Unterschiede repräsentieren zugleich bedeutsame regionale Disparitäten im Sinne einer Abweichung gesellschaftlich-ökonomisch relevanter Merkmale, wie z. B. Arbeitslosigkeit, Einkommen oder Bildungszugang, von einer als fair oder angemessen erachteten Referenzverteilung (Biehl und Ungar 1995). Der Zusatz der gesellschaftlichen Relevanz ist wichtig, um diejenigen regionalen Unterschiede zu betonen, die sich auf die als notwendig angesehene Lebensqualität und die Lebenschancen der Bevölkerung auswirken. Die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse bzw. die Stärkung des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zusammenhalts bildet auch im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland (GG Art. 106, Abs. 3) eine wichtige Norm der Gesellschaftsordnung. In der Praxis ist es eine Herausforderung, regionale Disparitäten auszugleichen. Auch nach bald 30 Jahren der Wiedervereinigung sind die regionalen Unterschiede der wirtschaftlichen Leistungskraft und des Einkommens pro Einwohner zwischen Ost und West erheblich und reichten im Jahr 2014 von einem Minimum von 11 300 Euro pro Einwohner im Zwickauer Land bis zu einem Maximum von über 80 000 Euro pro Einwohner im Landkreis München. Der Landkreis München erwirtschaftete demnach pro Kopf das Siebenfache und die kreisfreie Stadt Ingolstadt gar das Achtfache der Region Südwestpfalz (Destatis 2017). Vor- und Nachteile der natürlichen Bedingungen sagen dabei nicht immer etwas über die wirtschaftlichen Entwicklungschancen einer Region aus. So leiden heute viele Länder, die reich an natürlichen Rohstoffvorkommen sind, an deutlich geringerem Wohlstand als manche ressourcenärmere Staaten – ein Zusammenhang, der manchmal als Ressourcenfluch bezeichnet wird (Sachs und Warner 1999), der jedoch im Einzelfall einer spezifischen Erklärung bedarf.

      Räumliche Agglomeration und Metropolen. Über natürliche Standortvorteile hinaus existieren sogenannte dynamische geographische Vorteile. Sie sind unabhängig von physischen Gegebenheiten und resultieren aus der Dynamik und den Wechselwirkungen des Standortverhaltens von Unternehmen sowie aus den politisch-institutionellen Rahmenbedingungen, die aus den durch andere Unternehmen und Akteure verursachten Bedingungen an einem Standort als Vorteile (oder auch als Nachteile) erwachsen. Sogenannte Externalitäten begründen Ballungen von Industrien an bestimmten Orten und begünstigen die Spezialisierung der regionalen Wirtschaftsstruktur auf bestimmte Industrien. Die aus geographischer Dichte entstehenden Kontakt- oder Fühlungsvorteile spielen eine wichtige Rolle. Sie umfassen eine größere Häufigkeit und Vielfalt persönlicher Begegnungen, den erleichterten Wissensaustausch, Ersparnisse durch die gemeinsame Nutzung spezialisierter Infrastrukturen und vieles mehr. In zahlreichen Regionen der Erde haben sich mit großen Metropolen und Megastädten Zentren der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung gebildet. Und auch jenseits der städtischen Agglomerationsräume sind lokale Produktionssysteme und Technologiecluster entstanden, die von weltweiter Bedeutung für Innovationsprozesse und Technologieentwicklung in einer Industrie sind, wie z. B. der Technologiestandort Silicon Valley in Kalifornien, USA.

      Von Lokalisation zu Allokation. Schließlich ergeben sich wichtige Fragen bezüglich der geographischen Beziehungen im Wirtschaftsprozess und bezüglich der Veränderungen der Mobilität von wirtschaftlichen Akteuren, von materiellen Ressourcen, von Kapital und von Gütern in einer zunehmend global integrierten Weltwirtschaft. Aus der Analyse der geographischen Standorte der Wirtschaft ergeben sich Herausforderungen an eine effektive oder angemessene Verteilung wirtschaftlicher Ressourcen, Aktivitäten und Beziehungen. So suchen Wirtschaftsgeographen Antworten auf Fragen der Wahl und Erschließung von Standorten, der Organisation räumlicher Arbeitsteilung, der Mobilität von Menschen, Kapital und Gütern, der flächendeckenden Versorgung der Bevölkerung mit Gütern des täglichen bis langfristigen Bedarfs, der Erklärung regionaler Unterschiede und Besonderheiten der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und Wirtschaftsstrukturen sowie der Erklärung regionalwirtschaftlicher Entwicklung im Zeitablauf. Wirtschaftsgeographie ist eine empirische Wissenschaft, die Organisationsprobleme in räumlichen Kontexten unter spezifischen politisch-institutionellen Rahmenbedingungen beschreibt, analysiert und zur Entwicklung von Lösungen beiträgt. Da wirtschaftliche Beziehungen zumeist geographisch unterschiedlich und zeitlich unbeständig sind, versprechen allgemeine Erklärungs- und Gestaltungsmodelle wirtschaftlicher Entwicklung kaum ein tieferes Verständnis der Vielfältigkeit erfahrungsweltlicher Wirtschaftsgeographien. Daher ist es notwendig – so das Argument dieses Buchs – eine geographische Perspektive des Wirtschaftsgeschehens zu entwickeln, die neben abstrakten Regelhaftigkeiten wirtschaftlichen Austauschs die vielfältigen, kontextspezifischen Mechanismen und Entwicklungen in konkreten wirtschaftlichen Beziehungen zu verstehen sucht. Denn die Folgen einer allzu schematischen Anwendung allgemeiner Prinzipien auf spezifische Entwicklungsbedürfnisse, wie z. B. die rigorose Umsetzung des Washington Konsens der Weltbank gegenüber Entwicklungsländern, tragen nur selten Früchte (Stiglitz 2006), wie auch das folgende an reale Erfahrungen angelehnte hypothetische Beispiel illustriert.

      Unternehmen sind an verschiedenen Standorten unterschiedlich erfolgreich. Wenn die Unternehmen einer Region RegioTopia ein hohes Wachstum erzielen, die Unternehmen in zwei anderen Regionen RegioCopia und RegioNova hingegen schrumpfen, entstehen räumliche Disparitäten. Um diese räumlichen Entwicklungsunterschiede auszugleichen, können staatliche und private Akteure eine Förderpolitik verfolgen, die Unternehmensansiedlungen und -neugründungen un­ter­stützt. Aber woran sollen die Regionen RegioCopia und RegioNova ihre Förderpolitik orientieren?

      Vorher. RegioCopia mag zunächst eine Expertengruppe in die erfolgreiche Nachbarregion RegioTopia entsenden, um die Wirtschaftsstruktur zu untersuchen. Dort gibt es große Universitäten, ein modernes Verkehrsnetz, niedrige Steuern und moderate Lohnkosten, verfügbares Investitionskapital sowie einen hohen Anteil von Managern und hoch qualifiziertem Personal. Auch wird die Lebensqualität der Bewohner als sehr hoch eingeschätzt. Aufgrund dieser Analyse kommt die Expertengruppe zu dem Ergebnis, dass die Unternehmen in RegioCopia mit den gleichen Faktoren versorgt werden müssen wie in RegioTopia, um einen ähnlichen Anstieg der Betriebsgründungen und Innovationsaktivitäten der Unternehmen zu erreichen. Nur wenn die Rahmenbedingungen der erfolgreichen Region auch in RegioCopia hergestellt sind – so die Expertengruppe –, wird diese Erfolg haben. Aus diesem Grund beschließt RegioCopia die Einrichtung eines Gründerzentrums, um neuen Unternehmen genau diese Bedingungen zu bieten [. . .].

      RegioNova hat ebenfalls schlechte Voraussetzungen für wirtschaftliches Wachstum. Sie liegt abseits der großen Ballungsräume in der Peripherie, ist dünn besiedelt und nur wenige Industrien haben sich hier niedergelassen. Die heimische Universität hat sich in elektronischer und elektrotechnischer Forschung einen Namen gemacht, sodass der Region zumindest junge Studenten für die Zeit ihrer Ausbildung zuwandern. Darüber hinaus verfügt die Region über keine besonderen Ressourcen. Sie liegt in einer kargen Berglandschaft, die nicht einmal Touristen anzieht. Die lokale Regierung sieht sich machtlos und entwickelt keine konkreten Förderkonzepte. Unternehmen scheinen in RegioNova nicht die nötigen Faktoren zu finden, die sie für eine Standortansiedlung benötigen [. . .].

      Nachher. [. . .] Inzwischen hat RegioCopia Millionen von Fördergeldern in die Errichtung eines Gründerzentrums