absolut, sondern als veränderliche, relative Größen angesehen werden.
Die Phasen, in denen sich praktische Forschung paradigmatisch vollzieht, gelten als Phasen „normaler Wissenschaft“. Dem stehen die „wissenschaftlichen Revolutionen“ gegenüber, die bestehende Regelzusammenhänge durch neue Regeln, Bezüge und Begriffe ersetzen (Chalmers 1976). So erschütterte beispielsweise die Formulierung des kopernikanischen Weltbilds das grundlegende Verständnis des Kosmos. Die Erde wird darin nicht mehr als im Mittelpunkt der Welt stehend angesehen, sondern ist nur noch dezentraler Teil eines unendlich großen Universums. Das Selbstverständnis der Menschheit, religiöse Postulate sowie astronomische und physikalische Regeln und Interpretationsschemata wurden dadurch „revolutioniert“.
Unterschiedliche Paradigmen können hinsichtlich ihrer Forschungsperspektiven so weit auseinanderliegen, dass keine gemeinsame Kommunikation über den Sachzusammenhang mehr möglich ist. Solche Paradigmen nennt man inkommensurabel. Die Probleme und Lösungen der einen Perspektive sind dann nicht mehr in der Sprache der anderen zu formulieren. Insofern können inkommensurable Paradigmen einander nicht widerlegen und auch nicht zu einem linearen Erkenntnisfortschritt beitragen. Die Idee der Inkommensurabilität ist allerdings nicht unumstritten. So argumentiert Toulmin (1983), dass neue Paradigmen sehr wohl in einen argumentativen Diskurs mit alten Paradigmen treten können und dass Vertreter eines alten Paradigmas nicht zufällig, sondern wohlbegründet einen Paradigmenwechsel zu einem neuen Paradigma vollziehen. Die Dynamik wissenschaftlichen Denkens muss daher weder linear-kumulativ noch revolutionsartig geschehen. Vielmehr können wissenschaftliche Programme in Dialog treten, Perspektiven verhandeln und dabei gleichzeitig fortbestehen. Gerade vor diesem Hintergrund sind die nachfolgenden Diskussionen über Paradigmenwechsel in der Geographie und Wirtschaftsgeographie zu verstehen.
Die paradigmatischen Möglichkeiten der Wirtschaftsgeographie kreisen, ebenso wie die der allgemeinen Geographie überhaupt, um das Verhältnis von bestimmten Gegenstandsbereichen zum Raum. In der Wirtschaftsgeographie gilt es, eine spezifische Perspektive auf die Beziehung von ökonomischen Phänomenen zum Raum als Forschungsinteresse einzunehmen. Gerade die Auffassung des Begriffs Raum sowie der Beziehung zwischen Raum und Wirtschaft ist in der Entwicklung des Fachs verschieden definiert worden. Hier liegt der Ursprung für die Formulierung unterschiedlicher Paradigmen (wirtschafts-)geographischer Forschungsprogramme. Wir unterscheiden im Folgenden die Paradigmen der Länderkunde, der Raumwissenschaft und einer sozialtheoretisch revidierten Geographie, die fachhistorisch aufeinanderfolgen, heute jedoch zum Teil parallel weiterexistieren (Glückler 1999).
Die Details eines wissenschaftshistorischen Diskurses sowie individueller Konzepte werden in einer paradigmatischen Perspektive bewusst vernachlässigt, um stattdessen die Charakteristika einer weitgehend geteilten Grundperspektive oder einer fachspezifischen Weltsicht zu identifizieren. Paradigmen sind nicht unbedingt als solche historisch eindeutig identifizierbar, sondern sie sind ein Produkt des Wissenschaftsdiskurses. Sie werden zumeist erst im Nachhinein konstruiert, um von einer Weltsicht Abstand zu nehmen, die zuvor nicht einmal notwendigerweise bewusst reflektiert wurde (Wardenga 1996). In diesem Sinne ist unsere Unterteilung der Geographie in Paradigmen eine Konstruktion, die wir vornehmen, um den Übergang zu einer neuen Grundperspektive zu skizzieren. Paradigmen sind keineswegs „wahre Geschichte“, sondern in die Vergangenheit gerichtete Konstruktionen grundlegender Anschauungen und Überzeugungen.
Mit dieser Perspektive zielt dieses Buch darauf ab, aus einer umfassenden Kritik des Paradigmas raumwirtschaftlichen Denkens neue Positionen zu diskutieren und Argumente für eine veränderte Grundperspektive zu entwickeln. Die von uns vorgezeichnete relationale Perspektive der Wirtschaftsgeographie schließt traditionelle Positionen jedoch keineswegs aus. Vielmehr schlagen wir eine Transition des raumwirtschaftlichen Ansatzes in Richtung einer stärker sozialwissenschaftlich informierten Rahmenkonzeption vor, ohne ökonomische Positionen aufzugeben. Es handelt sich hierbei nicht um eine lineare Erweiterung traditioneller Konzepte, sondern um eine Fortentwicklung, die mit einer veränderten Grundperspektive verbunden ist.
2.1.1Die Ursprünge wissenschaftlicher Geographie: Länder- und Landschaftskunde
Die Geographie hielt als wissenschaftliches Fach erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts und damit im Vergleich zu anderen Disziplinen relativ spät Einzug in die Hochschullandschaft (Wardenga 1989). Den Ausgangspunkt der wissenschaftlichen Geographie markiert die Länder- und Landschaftskunde. Befruchtet durch die Tradition der großen Entdeckungen und der Kolonialisierung der Erdteile seit dem späten 15. Jahrhundert befriedigten Geographen als Erdbeschreiber (griech. gaia oder ge = Erde und graphein = schreiben, malen, einritzen) ein gesellschaftliches Bedürfnis nach Entdeckung und Kenntnis ferner Erdregionen und Kulturen. Aus der Tradition dieses Wissensbedürfnisses und aus dem tiefgreifenden gesellschaftlichen und politischen Diskurs um den Nationalstaat im 19. Jahrhundert begründete Hettner (1927) in einer Auseinandersetzung mit den Fachgeschichten der Geographie und der Philosophie das Programm der wissenschaftlichen Länderkunde, das später erweitert, systematisiert und modifiziert wurde. Aufgabe der Geographie ist es demnach, die Welt gemäß ihrer Einteilung in „natürlich“ begrenzte Länder zu gliedern (Hettner 1927, IV. Buch; Werlen 1995 b) und in ihrer gesamten Komplexität zu beschreiben. Dabei hat der Landbegriff zunächst noch keine feste räumliche Größenordnung, sondern kann sich auf die ganze Erdoberfläche, Kontinente oder einzelne Orte beziehen. Erst später wird er zusehends auf nationalstaatliche Territorien angewendet.
Das länderkundliche Schema verleiht dem Verständnis Ausdruck, dass ein Land als Gesamtheit aller in ihm vorkommenden Phänomene das höchste Erkenntnisziel darstellt (Weigt 1961). Demnach sind Beschreibungskategorien wie Klima, Boden und Vegetation ebenso bedeutsam wie Bevölkerung, Siedlungen, Kultur, Religion und letztlich die Wirtschaft. Sie lassen sich als Schichten im Gesamtaufbau eines Landes denken und zunächst einzeln beschreiben. Die einzelnen Schichten, später als Geofaktoren bezeichnet, bilden in ihrer jeweiligen Einzelbetrachtung die Grundlage der allgemeinen Geographie (Uhlig 1970). Auch die Wirtschaftsgeographie ist in dieser Konzeption nur eine einzelne Disziplin im System der allgemeinen Geographie. Die Untersuchung der Geofaktoren ist der erste, manchmal sogar als propädeutisch bzw. vorwissenschaftlich bezeichnete Schritt, aus dem das komplexe Wirkungsgefüge der Landschaft erschlossen wird (→ Abb. 2.1). Die später formulierte Landschaftskunde verfolgt demgegenüber das Ziel, in der vergleichenden Betrachtung der Erdoberfläche aufgrund des Wirkungsgefüges einander ähnliche Landschaften in Gattungen zu ordnen (Bobek und Schmithüsen 1949).
Höchstes Ziel der Länderkunde ist es, über die landschaftstypischen Wirkungszusammenhänge hinaus alle Schichten der Landschaft so zu integrieren, dass ein ganzheitliches Verständnis des Landes – gleichsam dessen Totalcharakter – erschlossen wird. Diese Zusammenschau aller Schichten gleicht einer Sicht von oben auf übereinandergelegte Folien, die alle Einzelelemente gemeinsam zum Vorschein bringt. Im Gegensatz zur Landschaftskunde gilt die Länderkunde als idiographisch, d. h. sie begreift einen Erdausschnitt nicht als Raumtyp, sondern als einmaliges Raumindividuum mit einem einzigartigen „Schicksal“. Die idiographische und synthetische Zusammenschau der Erdoberfläche zu Ländern genießt in der Länder- und Landschaftskunde allerhöchste Priorität und steht an der Spitze einer hierarchisch gedachten Konzeption der Geographie, wie sie noch 1970 von Uhlig (1970) vorgestellt wurde (→ Abb. 2.1).
Abb. 2.1 Organisationsplan der länder- und landschaftskundlichen Geographie (nach Uhlig 1970, S. 28)
Wissenschaftshistorisch ist es wichtig hervorzuheben, dass dieser Organisationsplan nicht etwa den systematischen Ursprung, sondern das Ergebnis eines fast hundertjährigen Prozesses fortschreitender Konzeption, Kritik und Weiterentwicklung des Geographieverständnisses darstellt. Der Organisationsplan von Uhlig (1970) spiegelt daher nicht präzise die Hettner’sche Idee der Länderkunde wider, sondern veranschaulicht die Grundperspektive wissenschaftlicher Geographie, wie sie aus dem länderkundlichen Diskurs zahlreicher Autoren über mehrere Generationen hervorgegangen ist. Das daraus erwachsene Geographieverständnis erlangte bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts große Bedeutung. Aus der Betrachtung der Anzahl von Publikationen, die den Begriff „Landschaft“ im Titel tragen,