Harald Bathelt

Wirtschaftsgeographie


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das Ergebnis von inhaltlichen Zusammenhängen jeweiliger ökonomischer und sozialer Problembereiche, nicht aber deren Ursache. Aus dieser Inversion der Kausalrichtung lässt sich die Kritik an der Raumwissenschaft zusammenfassen (Glückler 2002): Physisch-geometrische Distanzen sind Randbedingungen und Ergebnisse von sozialen und ökonomischen Prozessen, nicht aber deren Aus­gangs­punkte. Über die soziale oder ökonomische Bedeutung des Physischen lässt sich allein aus dem Physischen heraus nichts aussagen (Hard 1973, II. Teil; Werlen 1987; Hard 1993; 1995 c; 1997, Kap. 2; 2000, Kap. 9). Die Ursachen räumlicher Verteilungen liegen in den Theorien der Gegenstandsbereiche, sodass über geographische Phänomene geographie-extern nach Lösungen zu suchen ist (Bahrenberg 1987). Während Regionalisierungs-, Begrenzungs- und Definitionsverfahren methodologisch modernisiert worden sind, bleibt das Paradigma einem vormodernen Verständnis von Raum sowie Raum-Gesellschafts-Beziehungen verhaftet. Werlen (1997, S. 61) beurteilt das raumwissenschaftliche Programm daher als Revolution einer halbierten Modernisierung.

      Das Programm der sozialtheoretisch revidierten Geographie eröffnet demgegenüber eine neue Perspektive. Durch die Umkehr der Verursachungsrichtung bestimmen nunmehr das Soziale und Ökonomische die räumliche Struktur und nicht umgekehrt. Dadurch rücken Individuen oder Organisationen als Akteure in den Mittelpunkt und ihr Handeln wird als Ursache für Strukturen anerkannt (Werlen 1988; Sedlacek und Werlen 1998). Diese Einsicht öffnet den Rahmen für eine Neupositionierung der sozialwissenschaftlichen Geographie hin zum Handeln des Menschen (Weichhart 1986; Werlen 1987; 1995 a).

      Neben der Kritik des Raumverständnisses vollzieht sich ferner eine Kritik der wissenschaftstheoretischen Auffassung. Da das Handeln menschlicher Akteure nicht gesetzesartig beschrieben werden kann, wird auch das Ziel deterministischer Theoriebildung aufgegeben. Stattdessen gilt das Prinzip der Kontingenz, durch das der Abhängigkeit von Kontexten stärkeres Gewicht beigemessen wird (Glückler 1999, Kap. 6; Sayer 2000, Kap. 1). In der Wirtschaftsgeographie äußert sich dieser Wandel von Theorie und Methodologie in einer Fokussierung der Analyse auf Unternehmen und deren Entscheidungsträger und nicht auf Regionen und Raumeinheiten als Akteure. Unternehmensziele und Beziehungen zwischen Unternehmen rücken dabei in den Mittelpunkt der Betrachtung und die Forschung bedient sich ökonomischer und sozialer Theorien, um den Gegenstandsbereich des ökonomischen Handelns und ökonomischer Beziehungen aus räumlicher Perspektive zu untersuchen.

      Der im Folgenden dargestellte Modernisierungsdiskurs ermöglicht es, unterschiedliche Sicht­weisen des Zusammenhangs von Raum und Gesellschaft historisch nachzuvollziehen. In An­lehnung an den britischen Sozialtheoretiker Giddens (1997) lässt sich zwischen einer traditionellen bzw. vormodernen und einer modernen Epoche der gesellschaftlichen Entwicklung unterscheiden (Werlen 2000, Kap. 3). Dabei sind drei wechselseitig voneinander abhängige Prozesse ausschlaggebend für die Veränderung des Verhältnisses von Raum, Zeit und Gesellschaft:

      (1) Trennung von Raum und Zeit. Durch die Moderne hat eine Trennung von Raum und Zeit stattgefunden. Im Unterschied zur traditionellen Gesellschaft ist es in der modernen Gesellschaft nicht mehr notwendig, Güter zum Zeitpunkt ihrer Entstehung und am Ort ihrer Erzeugung zu konsumieren. Man kann sie tauschen, über längere Zeiträume aufbewahren oder an andere Orte transferieren. Personen sind damit zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse nicht auf diejenigen Güter angewiesen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt an den Orten hergestellt werden, an denen sie sich gerade aufhalten, sondern sie können Produkte von anderen Orten und Produkte, die zu früheren Zeitpunkten hergestellt worden sind, konsumieren. Wichtige Bedingung hierfür sind neu entwickelte Technologien, wie z. B. der Kühlschrank zur Frischhaltung von Agrar­produkten oder der Bau neuer Straßen- und Schienensysteme zum Transport von Gütern.

      (2) Entbettung der sozialen Systeme. Zugleich hat die Moderne zu einer Entbettung der sozialen Systeme geführt. Darunter versteht Giddens (1997, Kap. 1) das Herauslösen sozialer Aktivitäten aus ihren lokalen Kontexten. In der modernen Gesellschaft ist es normal, Produkte zu konsumieren, die in anderen Teilen der Welt unter nicht nachvollziehbaren Bedingungen produziert werden. Infolge dieses Herauslösens aus dem unmittelbaren Aktivitätsraum üben Akteure, ohne es zu wissen, durch die in Konsumhandlungen zum Ausdruck kommenden Präferenzen Einfluss auf Produktionsweisen und Gesellschaften aus, die sich in entfernten Teilen der Welt befinden (→ Box 2-2). Vertrauen in symbolische Zeichen wie etwa Geld und Uhrzeit sowie in Expertensysteme sind notwendige Voraussetzung für den Prozess der Entbettung sozialer Systeme. Eine zentrale Voraussetzung zum Tausch ist, dass Geld überall als Gegenwert akzeptiert wird. Vertrauen in Expertensysteme bedeutet, dass man sich darauf verlässt, dass Experten existieren, die Technologien wie etwa Autos und Flugzeuge so beherrschen, dass man diese mit begrenztem Risiko für die eigene Gesundheit und ohne spezifische technische Kenntnisse benutzen kann.

      Box 2-2: Produktionsbedingungen in entfernten Kontexten

      Für die Entbettung sozialer Systeme lassen sich viele Beispiele anführen, speziell im Zusammenhang mit der Verlagerung industrieller Produktion aus westlichen Industrieländern in Entwicklungs- und Schwellenländer. Schon in den 1980er- und 1990er-Jahren sind zahlreiche Fälle bekannt geworden, die gezeigt haben, wie verlagerte Produktionsarbeit in Asien unter teilweise menschenunwürdigen Bedingungen stattfindet. Durch Medienberichte und die Aktivitäten von non-governmental organizations (NGOs) wie etwa Greenpeace, die Konsumenten mobilisieren und zum Nicht-Konsum bewegen konnten, ist es inzwischen gelungen, solche Phänomene der Entbettung teilweise zu begrenzen und zu reduzieren. Viele weltweit bekannte Markenunternehmen wie Benetton, Nike oder C&A verpflichteten sich inzwischen freiwillig, die Produktionsbedingungen an entfernten Standorten durch Mindeststandards sozial- und gesundheitsverträglich zu gestalten und überwachen diese Bedingungen. Dennoch lassen sich noch viele Beispiele finden, die zeigen, wie kostengünstiger Konsum in Westeuropa und Nordamerika durch nicht nachhaltige und gesundheitsschädliche Produktionskontexte erkauft wird. Ein Beispiel hierfür ist die Produktion von Jeanshosen. Ein Bericht von Bartsch (2011) dokumentiert in eindrucksvoller Weise, wie ein erheblicher Teil der Weltproduktion von Bluejeans in Xintang in Südchina unter fragwürdigen sozialen und ökologischen Bedingungen stattfindet. Die blaue Farbe vom Färben der Hosen hat sich nicht nur in den Armen der chinesischen Produktionsarbeiter permanent festgesetzt, die über allergische Hautreaktionen klagen, sie findet sich ebenso in dem nahe gelegenen Fluss, in den die Abwässer fließen, in den Müllbergen, und sogar die Ratten vor Ort erscheinen blau. Die Arbeitstage der Produktionsarbeiter dauern 12 Stunden bei einem Monatseinkommen von gerade einmal 200 Euro. Nach Bartsch (2011) werden in Xintang jährlich in 4000 Unternehmen von 700 000 Menschen 260 Millionen Bluejeans (davon die Hälfte für den Export) hergestellt, wobei auch Kinderarbeit verbreitet zu sein scheint. Ganz sicher wäre eine Produktion unter derartigen Bedingungen nicht in direkter Nachbarschaft zu den Konsumzentren der Industrieländer möglich.

      (3) Reflexivität gesellschaftlicher Beziehungen. Mit der Moderne hat sich eine systematische Reflexivität menschlicher Verhaltensweisen durchgesetzt. Die Aneignung von Wissen erfolgt über Reflexivität. Es findet eine ständige Hinterfragung und Überprüfung aller durchgeführten Aktionen statt, um durch Lernprozesse systematisch neues, verbessertes Wissen zu erzielen. Mit der Moderne wird dieses neue Wissen unmittelbar in zukünftige Aktionen umgesetzt im Unterschied zur traditionellen Gesellschaft.

      Aus Sicht der Moderne erscheint es daher korrekt, eine Abhängigkeit von Raum und Gesellschaft in der vormodernen Gesellschaft zu behaupten. Handeln erscheint sehr stark von räumlichen Bedingungen bestimmt und ermöglicht die Formulierung von Raumtheorien. Durch die Trennung von Raum und Zeit wird jedoch deutlich, dass eine theoretische Abhängigkeit zwischen Mensch und Raum nicht besteht. Während dies in der Vormoderne noch zu richtigen Beobachtungen führen kann, lassen sich in der Moderne keine zuverlässigen Aussagen mehr aus dem Raum auf das Gesellschaftliche ableiten (z. B. Hard 1993). Der in der Raumwissenschaft angenommene Zusammenhang zwischen sozioökonomischen Strukturen und räumlichen Eigenschaften beschreibt damit nur eine scheinbare sachliche Verknüpfung. Der Prozess der Modernisierung verdeutlicht, dass soziale Entbettung aus räumlichen Kontexten nur aus dem Sozialen, nicht aber aus dem Räumlichen erklärt werden kann (Werlen 1997, Kap. 2; 1998). Somit kann der historische Übergang von der traditionellen zur modernen Gesellschaft als Verständnisgrundlage