Wie lernen Unternehmen, wie entwickeln sie neues Wissen und wie wenden sie dieses Wissen zur Produktion neuer Waren und Dienstleistungen an?
Wie kommt es zur Entstehung neuer Institutionen und wie sind diese verortet?
Wie wirken sich Veränderungen von Technologien, Nachfragewünschen und Wettbewerbsbedingungen auf die Organisation der Produktion aus und in welcher regionalen Variation äußert sich dies?
Und schließlich: Wie sind Unternehmen mit Akteuren an anderen Standorten national und global vernetzt, welche Probleme ergeben sich bei der Integration unterschiedlicher institutioneller, kultureller und politischer Handlungspraktiken und wie wird die Organisation an verschiedenen Standorten durch derartige Beziehungen beeinflusst?
Mit diesen und anderen Fragestellungen greift die Wirtschaftsgeographie die Kritik von Massey (1985, S. 11) an der Geographie als der Wissenschaft des Räumlichen auf:
„Geography set itself up as ‘the science of the spatial’. There were spatial laws, spatial relationships, spatial processes. There was a notion that there were certain principles of spatial interaction which could be studied devoid of their social content. [. . .] There was an obsession with the identification of spatial regularities and an urge to explain them by spatial factors. The explanation of geographical patterns, it was argued, lay within the spatial. There was no need to look further. [. . .] This is an untenable position. [. . .] There are no such things as purely spatial processes; there are only particular social processes operating over space.“
Ansatzpunkt einer relationalen Wirtschaftsgeographie sind nicht Regionen, sondern Unternehmen und andere Akteure, die innerhalb einer Produktions- bzw. Wertschöpfungskette in einem räumlichen Kontext arbeitsteilig miteinander verflochten sind und soziale Interaktionen aufweisen (Dicken 1998, Kap. 1).
Häufig wird hierbei auch von filière gesprochen (z. B. Nuhn 1993; Lenz 1997), wobei sich die Konzepte in ihrer empirischen Umsetzung meist nicht wesentlich voneinander unterscheiden (Schamp 2000 b, Kap. 2.1). Eine Produktionskette ist eine Abfolge von Funktionen, die dem Produkt auf jeder Stufe einen Wert zufügt (Dicken und Thrift 1992), wobei dies nicht als rein linearer Prozess verstanden werden darf.
Ein Beispiel, wie man die Produktionskette als Ausgangspunkt wirtschaftsgeographischer Studien verwendet, liefert die Untersuchung von Bertram (1992) über die Automobilindustrie (→ Abb. 2.5). Hier zeigen sich sehr deutlich die Schnittstellen zwischen Unterlieferanten, Hauptzulieferern, den eigentlichen Automobilproduzenten, der Absatzorganisation und den Konsumenten. Die einzelnen Glieder der Produktionskette überschneiden sich, sind eng miteinander durch Kommunikations- und Abstimmungsprozesse verbunden, werden aber dennoch von unterschiedlichen Prozessen beeinflusst. Zunehmende Preiskonkurrenz bei Unterlieferanten führt z. B. zu Verlagerungsprozessen der Produktion ins Ausland. Zunehmende Qualitätskonkurrenz der Hauptzulieferer hat etwa zur Folge, dass diese sich zu strategischen Allianzen zusammenschließen. Neue Konkurrenz der Automobilproduzenten kann schließlich dazu führen, dass neue Produktionskonzepte eingeführt werden. Der Produktionsablauf ist in dieser Konzeption nicht mehr rein linear, sondern unterliegt Einflüssen, die auf mehrere Abschnitte der Produktionskette zugleich rückwirken.
Abb. 2.5 Produktionskette als Ausgangspunkt wirtschaftsgeographischer Untersuchungen (nach Bertram 1992, S. 218)
2.3Das Argument der zweiten Transition in der Wirtschaftsgeographie
Die in diesem Band entwickelten Argumente plädieren nicht für eine additive Erweiterung des bestehenden raumwirtschaftlichen Paradigmas, sondern für eine Transition zu veränderten Grundkonzepten und -perspektiven des Fachs. Wir plädieren für einen Übergang zu einer Perspektive, deren mögliche Konturen wir vorzeichnen wollen. Dieses Buch formuliert die strukturellen Probleme des raumwirtschaftlichen Ansatzes und versucht veränderte und alternative Konzepte anzubieten, die Wege zu einer Neuorientierung sein können. Nachdem die methodologische Revolution die erste Transition von einer länderkundlichen Wirtschaftsgeographie zur Raumwirtschaftslehre bereitete, unternehmen wir den Versuch, den konzeptionellen Rahmen einer zweiten Transition hin zu einer relationalen Wirtschaftsgeographie zu formulieren. Unsere Argumentation stützt sich auf zahlreiche jüngere Arbeiten vor allem aus dem angelsächsischen Diskurs. Ausgangspunkt unserer Überlegungen stellt die Konzeption der holy trinity von Storper (1997 a; 1997 b, Kap. 2) dar. Es sollte hierbei vorab klar sein, dass dies nicht die einzige oder einzig mögliche Perspektive oder Sichtweise auf das Fach ist und dass andere Autoren durchaus andere Schwerpunkte setzen (z.B. Scott 2000; Barnes 2001; Boschma und Frenken 2005; Barnes und Sheppard 2010). Es geht uns in erster Linie darum zu versuchen, aktuelle wirtschaftsgeographische Problemstellungen und unterschiedliche Herangehensweisen und Konzepte in konsistenter Weise zu verbinden, zu bewerten und neue Forschungslinien aufzuzeigen (Bathelt und Glückler 2017).
2.3.1Storpers Konzeption der holy trinity
Einen initialen Versuch einer Neuformulierung der Ansatzpunkte und Ziele der Wirtschaftsgeographie unternahm Storper (1997 a; 1997 b, Kap. 2) mit seiner Konzeption der holy trinity, die auf den drei Säulen Technologie, Organisation und Territorium gründet, die in enger wechselseitiger Verflechtung stehen. Storper (1997 c) argumentiert, dass lokalisierte Produktionssysteme trotz revolutionärer Verbesserungen in der Kommunikationstechnik und im Verkehrswesen, die zu einer drastischen Raum-Zeit-Verkürzung (Harvey 1990) geführt haben, eine ungebrochen große Bedeutung besitzen. Er führt dies im Wesentlichen auf zwei Ursachen zurück:
Zum einen erhöhen sich durch Respezialisierungs- und Destandardisierungsprozesse die Transaktionskosten in der industriellen Produktion (→ Kap. 9.1). Diesem Kostenanstieg wird durch die Nutzung von Nähevorteilen in regionalen Ballungen begegnet.
Zum anderen bieten spezialisierte Industrieagglomerationen die Möglichkeit zu spezifischen organisatorischen und technologischen Lernprozessen, die Wettbewerbsvorteile bewirken und den Ballungsprozess fördern.
In beiden Fällen spielen sogenannte untraded interdependencies für die Abstimmungs-, Kommunikations- und Lernprozesse zwischen den ökonomischen Akteuren eine zentrale Rolle. Diese umfassen Konventionen, informelle Regeln und Gewohnheiten. Sie sind lokalisiert, d. h. an bestimmte Personen und Orte gebunden und können dort, wo sie auftreten, regionsspezifische Vorteile konstituieren. Storper (1992; 1997 b, Kap. 3) argumentiert deshalb, dass Nähevorteile trotz mächtiger Globalisierungskräfte nationale und regionale Industrieballungen sowie -spezialisierungen begünstigen. Die dabei zugrunde liegenden sozialen und ökonomischen Prozesse erfasst Storper (1997 a; 1997 b, Kap. 2) durch die Überlagerung der drei Säulen seiner holy trinity der Wirtschaftsgeographie (→ Abb. 2.6):
Abb. 2.6 Produktions- und Innovationswelten in der Storper’schen Konzeption der holy trinity (nach Storper 1997 b, S. 42 und 49)
(1) Technologien. Technologien werden als Motor des Wandels territorialer Wirtschaftsstrukturen angesehen. Technologischer Wandel führt zum Aufstieg neuer und Niedergang alter Produkte und Prozesse, was sich unmittelbar auf die Struktur und Arbeitsteilung der industriellen Produktion und ihre räumliche Organisation auswirkt.
(2) Organisationen. Die Organisation von Unternehmen und Unternehmensnetzwerken in einem Produktionssystem wird unter anderem von der Art des eingeschlagenen technologischen Entwicklungspfads und von den territorialen Kontexten geprägt. Hierbei spielen lokalisierte Fertigkeiten und daraus nutzbare Nähevorteile durch spezialisierte Ressourcen, Qualifikationen sowie gleiche Normen, Regeln und Traditionen eine zentrale Rolle. Durch die Organisationsform werden Informations- und Kommunikationsprozesse ermöglicht und damit Voraussetzungen zum technologischen Wandel geschaffen.
(3) Territorien. Auf der Ebene der Territorien (→ Kap. 4.1) lassen sich die Ko-Entwicklungspfade von Organisationen und Technologien erfassen. Über regionale Materialverflechtungen, Wissenstransfers