Harald Bathelt

Wirtschaftsgeographie


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abgelöst worden ist.

      Während der Prozess des Wechsels von Paradigmen und ihrer Evolution einen Wandel von Verständnissen und Realitäten in der Wissenschaft allgemein und in vereinfachter Weise abbildet, vollzieht sich dieser Wandel nicht überall gleichartig und kontextfrei. Die hier dargestellte Paradigmengeschichte der allgemeinen und der Wirtschaftsgeographie ist demnach keineswegs ein globaler Prozess, sondern kennzeichnet speziell die deutsche Wissenschaftslandschaft. In anderen nationalen Kontexten in Europa, Nordamerika und Asien, in denen ebenfalls Paradigmenwechsel stattfanden, vollzog sich der Wandel aufgrund verschiedener ökonomischer, gesellschaftlicher und politischer Bedingungen sowie verschiedener wissenschaftlicher Einflüsse und Persönlichkeiten durchaus unterschiedlich und führte zu unterschiedlichen Erfahrungen. Anders als beispielsweise im nordamerikanischen Raum gab es z.B. in Deutschland keine breite marxistische Strömung in der Geographie (Scott 2000; Barnes 2001; 2014). Ein relationales Verständnis eröffnet deshalb die Möglichkeit, spezifische Prozesse im Rahmen grundlegender gesellschaftlicher Änderungen zu untersuchen und im Kontext darzustellen (Bathelt und Glückler 2017).

      Ähnlich wie für die gesamte Disziplin der Geographie kann eine paradigmatische Perspektive auch auf die Wirtschaftsgeographie eröffnet werden, um grundlegende programmatische Denkmuster oder mind maps zu unterscheiden. Dabei lassen sich im deutschen Kontext wiederum die Grundfiguren der Länder- und Landschaftskunde, der Raumwissenschaft und einer akteurszentrierten Geographie in den wirtschaftsgeographischen Ansätzen identifizieren.

      Gemäß dem Ordnungsplan der länder- und landschaftskundlichen Geographie nach Uhlig (1970) nimmt die Wirtschaftsgeographie den Status einer Geofaktorenlehre ein, deren primäre Aufgabe es ist, regional erworbenes Wissen in der synthetischen Gesamtschau komplexer Landschaften und Länder bereitzustellen. Wirtschaftsgeographische Forschung bezieht sich demnach auf die Indexierung von Wirtschaftsaktivitäten in bestimmten, meist als natürlich angenommenen Landschaften oder Ländern und verbleibt empirisch weitgehend deskriptiv. Da die Aufgabe der Wirtschaftsgeographie vorwiegend in der Erfassung der Folgen wirtschaftlicher Tätigkeit für die Raumstruktur gesehen wird (Wagner 1981, S. 183), bleiben die Zusammenhänge und Mechanismen ökonomischer Aktivitäten in diesem Verständnis unterbeleuchtet. Die strenge Arbeitsteilung zwischen Wirtschaftswissenschaften und Wirtschaftsgeographie ist Ausdruck der hierarchischen Integration der Teildisziplin unter dem Primat der länder- und landschaftskundlichen Geographie.

      Das vergegenständlichte Konzept des Raums im länderkundlichen Paradigma schlägt sich auch im Forschungsgegenstand der Wirtschaftsgeographie nieder. Zentrales Forschungsobjekt ist – in je unterschiedlichen Stadien des Paradigmas – zuerst die Wirtschaftslandschaft (Lütgens 1921), dann die Wirtschaftsformation (Waibel 1933 a) und schließlich der Wirtschaftsraum (Krauss 1933) mit zahlreichen darauf folgenden Modifikationen (Otremba 1969; Voppel 1970). Die zentrale Gemeinsamkeit dieser Konzepte besteht darin, dass nicht das Handeln ökonomischer Akteure, sondern die lokalisierten Handlungsergebnisse in zusammenhängenden Räumen in den Mittelpunkt der Betrachtung gerückt werden (Wagner 1981, S. 19): „Der Wirtschaftsraum ist [. . .] das zentrale Forschungsobjekt der Wirtschaftsgeographie.“ Es gilt als Leitziel, die räumliche Ordnung der Wirtschaft in Wirtschaftsräumen zu erfassen und abzugrenzen. Dies zeigt sich deutlich im Aufbau älterer Lehrbücher (z. B. Bartling 1926) und findet noch heute Niederschlag in Schulbüchern der Geographie, die allerdings zunehmend problemorientierter aufgebaut sind (z. B. Volkmann 1997; Allkämper et al. 1998).

      Wenngleich sich länderkundliche Ansatzpunkte auch in späteren Arbeiten von Wagner (1998) und Voppel (1999) wiederfinden lassen, aber inzwischen von dynamischen und sozialwissenschaftlich beeinflussten Perspektiven überlagert werden, ist eine solche Grundkonzeption mit ihrer idiographisch-deskriptiven Methode und ihrer Vergegenständlichung von Raum als Forschungsgegenstand unvereinbar mit einer relationalen Wirtschaftsgeographie. Dies soll jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass detailliertes Wissen über regionales Wirtschaftsgeschehen und über lokale ökonomische Rahmenbedingungen ein wertvolles gesellschaftliches Gut ist. Nicht zufällig kommen bei Krisensituationen oder Kriegen immer wieder auch regional spezialisierte Wirtschaftsgeographen in den Medien zu Wort. Ausdruck dessen sind auch die nach wie vor zahlreichen wirtschaftsgeographischen Länderkunden und Reiseführer (z. B. Lutz 1980; Lenz 1988; Hofmeister 1997; Boal und Royle 1999; Hofmeister und Lutz 1999; Lamping 1999; 2000) sowie ökonomisch fokussierte Länderstudien wie etwa von Banken und Auftragsforschungsinstituten. Interessant ist auch, dass die vergleichende Politikwissenschaft dezidiert eine regionale Spezialisierung und Aufgabenteilung anstrebt und breiten regionalen Wissenskontexten von ökonomischen, kulturellen und politischen Prozessen eine hohe Bedeutung einräumt. Entsprechend beschreibt Bahrenberg (1995) die Bedeutung einer nachfrageorientierten und adressatenspezifischen Funktion der Länderkunde als Expertensystem, um territoriales Wissen als gesellschaftliche und politische Dienstleistung in Entscheidungs- und Bildungsprozesse einzubringen. Der Versuch von Wirth (1978) hingegen, ein länderkundliches Forschungsprogramm wissenschaftstheoretisch zu verankern, wird von Bahrenberg (1979) als gescheitert angesehen.

      Nur zögernd hat sich die Wirtschaftsgeographie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von der beschreibenden Ebene des länder- und landschaftskundlichen Schemas zu modelltheoretischen und konzeptionellen Fragestellungen hin entwickelt, die das Ziel der Verallgemeinerung haben. Wichtige Anstöße in der Wirtschaftsgeographie stammen hierbei von Theorien, die in den Nachbarwissenschaften, insbesondere in der Ökonomie, entwickelt wurden. Erst Mitte der 1980er-Jahre haben auch sozialwissenschaftliche Ansätze verstärkt Einzug in die Wirtschaftsgeographie gehalten. Historisch wichtige Anstöße erhielt die Wirtschaftsgeographie durch die Arbeiten Webers (1909) zur industriellen Standortlehre und v. Thünens (1875) mit der für den Agrarsektor konzipierten Landnutzungstheorie sowie durch Christaller (1933) und Lösch (1944) mit ihren Untersuchungen über hierarchische Systeme zentraler Orte und Marktnetze. Wichtige programmatische Anregungen kamen in den 1950er-Jahren aus den USA von Isard (1956; 1960), der die regional science als Wissenschaft der räumlichen Ordnung und Organisation der Wirtschaft begründete, die sich stark an ökonomischen Theorien und Modellen orientiert. Durch die Einbeziehung des Raums – zumeist als Kostenfaktor – wurden ökonomische Theorien in die Geographie integriert. Damit entstand eine neue Basis für wirtschaftsgeographische Arbeiten. Es wurden formale Raummodelle entwickelt und allgemeine raumbezogene Zusammenhänge getestet. Insbesondere von Böventer (1962; 1995) übertrug den Ansatz der regional science in seine Raumwirtschaftslehre. Aus der regional science ist letztlich auch der von Schätzl (1998, S. 17 f) vertretene raumwirtschaftliche Ansatz der Wirtschaftsgeographie hervorgegangen. Demnach lässt sich „[. . .] Wirtschaftsgeographie definieren als die Wissenschaft von der räumlichen Ordnung und der räumlichen Organisation der Wirtschaft. Sie stellt sich in dem [. . .] raumwirtschaftlichen Ansatz die Aufgabe, räumliche Strukturen und ihre Veränderungen – aufgrund interner Entwicklungsdeterminanten und räumlicher Interaktionen – zu erklären, zu beschreiben und zu bewerten. Dabei sind die Verteilung ökonomischer Aktivitäten im Raum (Struktur), die räumlichen Bewegungen von Produktionsfaktoren, Gütern und Dienstleistungen (Interaktionen) sowie deren Entwicklungsdynamik (Prozeß) als interdependentes Raumsystem zu verstehen.“

      Ziel der Raumwirtschaftslehre ist es dabei, auf dem Weg der Theorie- und Modellbildung allgemeine Erkenntnisse über die räumliche Ordnung der Wirtschaft zu erhalten. Voppel (1999, S. 27) erläutert dies programmatisch wie folgt: „Die theoretischen Grundlagen der Wirtschaftsgeographie basieren auf Gesetzmäßigkeiten, die den Raum und mit dem Raum verbundene ökonomische Entscheidungen und Abläufe betreffen.“ Nach Schätzl (1998, Kap. 1) stehen hierbei drei spezifische Aufgaben der Wirtschaftsgeographie im Vordergrund:

       Untersuchung der Verteilung ökonomischer Aktivitäten wie z.B. von Wirtschaftszweigen im Raum, und der Faktoren, welche ihre Standortwahl beeinflussen.

       Analyse der Veränderungen der räumlichen Struktur und ihrer Entwicklungsdynamik, z. B. der Ursachen für Standortverlagerungen