Harald Bathelt

Wirtschaftsgeographie


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des Begriffs impliziert dabei auch eine zunehmende Differenzierung der dabei verwendeten Konzepte, so z. B. des Länder- und Landschaftskonzepts (Weigt 1961; Uhlig 1970), wie dies für jede paradigmatische Denkströmung typisch ist. Selbst Hettners gesamtes akademisches Werk steht nicht widerspruchsfrei für eine einzige Fassung der Länderkunde (Wardenga 1996) und ist im Verlauf des Diskurses in mancherlei Hinsicht reduziert und sogar missverstanden worden (Wardenga 1995, Teil I und III). Insgesamt zeigt die paradigmatische Analyse, dass sich länder- und landschaftskundliche Konzepte stets im raumzentrierten, naturalistischen und beschreibenden Denken bewegt haben und nur vereinzelt, nicht jedoch systematisch darüber hinausgingen.

      Der historische Anstieg der Zahl der Publikationen mit dem Titelbegriff „Landschaft“ macht außerdem deutlich, dass die Entwicklung eines Paradigmas wie der Länder- und Landschaftskunde nicht nur innerhalb eines Fachs begründet liegt, sondern oft durch allgemeine gesellschaftliche Denkströmungen mit bedingt wird. So lässt sich eine Zunahme des Landschaftsbewusstseins nicht nur in der wissenschaftlichen Geographie (→ Abb. 2.2 a), sondern auch in anderen Disziplinen für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts nachweisen (→ Abb. 2.2 b). Mit dem Beginn der methodologischen Revolution setzte jedoch seit den 1940er-Jahren eine zunehmende Kritik am länderkundlichen Denken ein (Hard 1973, 2. Teil).

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      Abb. 2.2 Veröffentlichungen der Jahre 1900 bis 1960 mit dem Begriff „Landschaft“ im Titel (nach Hard 1969, S. 253 ff.)

      Der Deutsche Geographentag in Kiel versammelte 1969 eine größere Gruppe von Studenten, Assistenten und einigen Hochschullehrern, die eine umfassende Kritik des länderkundlichen Programms vornahmen (Meckelein und Borcherdt 1970, S. 191–232): Es wurde als wissenschaftstheoretisch unfundiert, beschreibend statt erklärend, holistisch und naturalisierend charakterisiert. Ziel sei nicht die Erklärung von Zusammenhängen, sondern die unkritische, ganzheitliche Beschreibung natürlicher Totalregionen (Bartels 1968 a, 1988; Sedlacek 1978). Kurz zuvor hatte Bartels (1968 b) die Grundlage einer neuen wissenschaftlichen Geographie formuliert, in der er die analytische Erklärung der reinen Beschreibung entgegensetzt, das naturalisierende Konzept des Raums als Landschaft durch das Konzept des Raums als geometrisches Gebilde ersetzt und es als Ziel erklärt, Geographie als chorologische Wissenschaft, als Wissenschaft des Raums zu begründen (Bartels 1970 a; Bahrenberg 1972). Regionen wurden von nun an nicht mehr als natürlich vorgegeben, sondern als analytisch bestimmbar zur Bearbeitung spezifischer Problemstellungen angesehen. Nicht mehr Landschaften und Länder wurden beschrieben, sondern es wurden räumliche Verteilungen und Verflechtungen von Phänomenen erfasst und auf der Grundlage von Raumgesetzen zu erklären versucht (Bartels 1968 a; 1970 c; 1988).

      Das hierarchische Gefüge geographischer Teildisziplinen unter einer allgemeinen Länder- und Landschaftskunde wurde zugunsten eines Konzepts vernetzter Problembereiche aufgegeben, die wechselseitig Methoden und Theorien aufeinander und voneinander beziehen (Haggett 1991, Kap. 24). Die in diesem Ansatz durchgeführte Verknüpfung ausgewählter Forschungsfelder ist durch den gezielten Austausch mit benachbarten Forschungsfeldern zur Bestimmung und Erklärung spezifischer Probleme gekennzeichnet und somit stets abhängig von der Problemstellung in der Forschung. Denn im Unterschied zur hierarchischen und synthetischen Sicht der Geographie in der Länder- und Landschaftskunde folgt die Beziehung zwischen den Arbeitsbereichen in diesem auf gesetzesartiger Erklärung beruhenden, deduktiv-nomologischen Konzept keiner äußeren, unveränderlichen Logik (→ Box 2-1). Das jeweilige, vom Forscher definierte Problem bildet die Grundlage für die spezifische Verknüpfung der Arbeitsfelder, aus denen Theorien und Methoden entliehen werden.

      Box 2-1: Wissensnetz der Geographie an deutschen Hochschulen

      Die große Vielfalt möglicher Verknüpfungen von Forschungsfeldern führt zu der Frage, wie sich die Vernetzung der Arbeitsgebiete in der Geographie als wissenschaftlicher Disziplin tatsächlich darstellt. Ziel einer empirischen Studie über die deutsche Geographie war es deshalb zu untersuchen, in welchen Arbeitsgebieten Wissenschaftler an deutschen Hochschulen ihre Forschungsschwerpunkte haben (Glückler und Goeke 2009). In dem Mitgliederverzeichnis des Verbands der Geographen an deutschen Hochschulen (VGDH) nannten im Jahr 2006 über 750 Wissenschaftler (→ Abb. 2.3, Kreise) ihre persönlichen Schwerpunkte aus insgesamt 52 Teilgebieten (Quadrate) der Geographie. Aus diesen Selbstbeschreibungen wurde ein Netzwerk der Geographie gewonnen, das für jede mögliche Kombination zweier Arbeitsgebiete angibt, wie viele Wissenschaftler in diesem Überschneidungsbereich forschen. Eine weitere Abbildung zeigt das beobachtete Netzwerk der Verbindungen zwischen den 52 thematischen Arbeitsbereichen der wissenschaftlichen Geographie (→ Abb. 2.4). Das Netzwerk illustriert einerseits, wie vielfältig die inhaltlichen Bezüge zwischen den vielen Arbeitsbereichen sind. Gleichzeitig deutet es aber auch die Aufteilung der Geographie in sozial- und naturwissenschaftliche Forschungsrichtungen an. Darüber hinaus treten Arbeitsbereiche, wie z. B. die Stadtgeographie, Wirtschaftsgeographie oder Geographische Informationssysteme, als zentrale Schwerpunkte mit überproportional vielen Verbindungen zu anderen Arbeitsgebieten hervor, während andere Schwerpunkte, wie z. B. die Hochgebirgsforschung oder die Bildungsgeographie, eher als spezialisierte Arbeitsgebiete mit weniger Verbindungen auffallen. Mit Hilfe der Netzwerkperspektive gelingt es, eine empirische Repräsentation sowohl der Struktur der Geographie als wissenschaftliche Disziplin als auch ihrer Verknüpfungen zu entwickeln, die nicht auf fachpolitischen Forderungen zur Gestalt der Geographie, sondern auf den Selbstbeschreibungen von Geographen beruht. Wenngleich das vorgestellte Modell im Ansatz an die britische Schule der 1970er-Jahre erinnert (Haggett 1991, S. 750), bleibt es im Unterschied zu normativen Modellen eine situative empirische Repräsentation.

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      Abb. 2.3 748 Wissenschaftler arbeiten in 52 Arbeitsbereichen der Geographie (nach Glückler und Goeke 2009, S. 268)

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      Abb. 2.4 Netzwerk der thematischen Arbeitsgebiete in der wissenschaftlichen Geographie 2006 (nach Glückler und Goeke 2009, S. 269)

      Die Wirtschaftsgeographie verfolgt im raumwissenschaftlichen Paradigma das Ziel, Raumgesetze für ökonomische Strukturen und Prozesse zu formulieren, d. h. Erklärungen von Standortstrukturen, Handelsbewegungen und räumlichen Konzentrationen von Unternehmen auf der Grundlage räumlicher Parameter zu entwickeln. Das Ergebnis dieser paradigmatischen Zielsetzung in der Wirtschaftsgeographie wird im Folgenden als Raumwirtschaftslehre bezeichnet (Schätzl 1981, Kap. 1; 1998, Kap. 1). Insgesamt stellt die raumwissenschaftliche Geographie eine methodologische Revolution dar, in der differenzierte analytische Verfahren, etwa der Regionalisierung (→ Kap. 4.1.4) und deduktiven Erklärung von Zusammenhängen, entwickelt werden (Werlen 1997, Kap. 2).

      In den 1980er-Jahren etablierte sich ein stärker sozialtheoretisch orientiertes Bewusstsein, das zuvor zwar in Ansätzen vorhanden (z. B. Hartke 1956), nicht aber dominant war und welches das raumwissenschaftliche Programm einer umfassenden Kritik unterzog. In der wissenschaftstheoretischen Revolution der Raumwissenschaft erkannten viele Kritiker vor allem eine methodisch-instrumentelle Revolution der Verfahren, nicht aber der zentralen Konzepte von Raum und dem Verhältnis von Raum und Gegenstand. Wenngleich Raum nicht mehr als natürliche Landschaft angesehen wurde, so doch als Erklärungsfaktor für soziale und wirtschaftliche Phänomene. Räumliche Distanz operiert in diesem Ansatz als Ordnungskraft menschlicher Entscheidungen und determiniert im Rahmen universeller Raumgesetze das Handeln. Diesem Verständnis folgend kann jedes soziale und materielle Phänomen zum Gegenstand raumwissenschaftlicher Forschungen werden, wenn die Distanz als Erklärungsgröße für Verteilungen und Austauschbeziehungen herangezogen wird.

      Empirisch und theoretisch lassen sich ökonomische Prozesse und Strukturen hingegen nicht als entfernungsdeterminiert nachweisen.