Eva-Maria Bast

Tatort Bodensee


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ihm angebotenen Stuhl nieder. Er warf den Kopf in den Nacken, streckte die Beine aus und ließ einen lang gezogenen Seufzer hören. »Brrr – tut das gut. Endlich mal ein bisschen Entspannung.« Er beugte sich vor und warf einen sehnsuchtsvollen Blick auf Horsts noch halb volles Weinglas. »Darf ich mal? Ich hab’s wirklich dringend nötig!«

      Ohne eine Antwort abzuwarten, griff sich Thomas das Glas und nahm einen ausgiebigen Schluck von dem kühlen Weißherbst zu sich. »Ahhh – fantastisch! So schnell geht’s einem besser, wenn das richtige Getränk auf dem Tisch steht! Hallo!« Mit diesem Ruf drehte er sich in Richtung der Kellnerin, die gerade am Nebentisch bediente, und deutete mit dem Zeigefinger auf das Glas. »Noch zwei, bitte – vom selben!« Er setzte das Weinglas ab und rieb sich mit der einen Hand heftig den linken Unterarm, dann den Unterschenkel. »Verdammt, da juckt was furchtbar. Mir scheint, ich hab die Krätze! Da guck mal hin!«

      In der Tat war der Arm, den Thomas gerade so heftig gerieben hatte, krebsrot geworden – eine ungesunde Farbe, die sich durch das Kratzen mit den Fingernägeln nun noch verstärkte.

      Horst schüttelte den Kopf. »Dann lass doch die Krat­zerei sein und hol dir eine Salbe aus der Apotheke. Das ist sicher irgendeine Allergie, da hast du vielleicht was gegessen, das du nicht verträgst, und da machst du es mit Kratzen nur noch schlimmer. Es ist schließlich Sommer, da schwirren jede Menge Pollen durch die Luft, da ist man empfindlicher gegen irgendwelches Zeugs als im Winter!« Horst als jahrzehntelanger Heuschnupfenkandidat wusste haargenau, wovon er sprach. Gott sei Dank war die Heuschnupfensaison bei ihm für dieses Jahr aber vorüber: sie dauerte alljährlich – man konnte regelrecht die Uhr danach stellen – immer sechs Wochen, von Mitte Mai bis Ende Juni.

      »Wahrscheinlich hast du recht«, nickte Thomas zustimmend. »Aber das ist grade erst gekommen, einfach so! Wird schon wieder verschwinden!« Sprach’s – und kratzte sich nun am Hinterkopf und danach intensiv am rechten Oberarm.

      In Horst regte sich allmählich Unmut. »Mensch, hör bloß auf! Die Leute gucken schon! Das sieht ja aus, als ob du Flöhe hättest!«

      Thomas verzog das Gesicht. »Du hast leicht reden, dich juckt’s ja nicht!«

      »Und wie oft habt ihr alle über mich und meine Heu­schnupfenattacken gelästert und behauptet, das sei alles nur psychisch – ich solle mit Claudia zur Eheberatung oder so und schon würde der Schnupfen aufhören? Jetzt weißt du mal, wie das ist – von wegen psychisch!« Horst erinnerte sich an mehr als ein Beispiel, wo er am liebsten an die Decke gehüpft wäre, wenn die Kollegen auf irgendeinem Lehrgang im Sommer mal wieder über seine ständig laufende Nase gelacht und ihm hämisch grinsend den Gang zum Psychologen angeraten hatten.

      Sein Gegenüber lächelte gequält. »Gar nicht mal so falsch mit der Psyche! Aber was ist denn nun mit dem Wein? Fräulein! Hallo!« Suchend blickte er sich um, bis er die Bedienung entdeckte. »Ja, genau! Denken Sie noch an unseren Weißherbst? Okay – wir sind nämlich grade am Verdursten!« In gespielter Verzweiflung die Augen rollend drehte er sich wieder zu Horst. »Ich sag’s dir, die Bedienungen am See sind auch nicht mehr das, was sie früher mal waren! Lauter Ausländer und von nichts eine Ahnung. Nur wenn’s ums Trinkgeld geht, da sind sie fit wie ein Turnschuh – fürchterlich!«

      Horst blickte seinen Kollegen verwundert an. Thomas, den er bisher nur als die Leutseligkeit in Person gekannt hatte, schien mit einem Mal ein ganz anderer geworden zu sein. Nervös, fahrig, sich ständig hastig umblickend, kratzend, polternd: So hatte er den Kriminalkommissar aus Meersburg noch nie erlebt! Er beugte sich leicht vor und sah Thomas direkt ins Gesicht: »Sag mal, ist alles in Ordnung mit dir? Du bist so nervös, wie ich dich noch nie vorher gesehen habe! Stimmt irgendetwas nicht?«

      Thomas schoss erkennbar die Röte ins Gesicht. Verlegen schaute er zur Seite, senkte den Kopf und sagte gar nichts. Horst spürte, dass da etwas war, mit dem Thomas innerlich kämpfte. Am besten, er wartete ab und ließ ihn den Kampf mit sich allein ausfechten. Erst nach einer ganzen Weile hob Thomas den Kopf und öffnete zögernd den Mund. »Ja also, weißt du, ich weiß gar nicht, wo ich anfangen …«

      Doch gerade in diesem Augenblick kam die Bedienung mit zwei Gläsern Wein und unterbrach die Unterhal­-

      tung. »Bitte schön, zwei Kaiserstühler Gutedel. Sehr zum Wohl!«

      Verwundert blickten die beiden erst sich, dann die Bedienung an. Horst fand als erster die Sprache wieder: »Wer hat denn hier Weißwein bestellt?«

      »Na, der Herr da neben Ihnen!« Für die Bedienung schien alles glasklar zu sein. Sie deutete mit dem Zeigefinger auf Thomas.

      Der reagierte mit einem zornigen Schnauben. »Also, jetzt glaub ich das auch noch! Ich und Weißwein, und dann noch«, er nahm einen vorsichtigen Schluck aus dem Glas. »Dachte ich’s mir doch! Honigsüß! Also, dass das klar ist!« Mit strengem Blick fixierte er die nun schon deutlich eingeschüchterte Bedienung. »Ich habe in meinem ganzen Leben noch kein Glas lieblichen Weißwein getrunken, und schon gar keinen Gutedel. Das kann ich also in hundert Jahren nicht bestellt haben. So – nehmen Sie also das Gesöff wieder mit«, damit griff er sich die beiden Gläser und stellte sie energisch zurück aufs Tablett, »und dann bringen Sie mir das, was ich auch bestellt habe: nämlich zwei Gläser Weißherbst, trocken natürlich. Und zwar Überlinger, Überlinger Spitalweingut! Und falls Sie das nicht haben, dann einen Birnauer oder einen Hagnauer oder meinetwegen einen Meersburger! Aber bitte: Weißherbst, trocken und kühl – Okay? Okay!« Mit einer energischen Handbewegung schob er die verdatterte Bedienung samt ihrer zwei vollen Weißweingläser zurück in Richtung Lokal und lehnte sich mit einem resignierten Seufzer zurück. »Ich sag’s ja: die Bedienungen am See! Es gibt Tage, da kommt wirklich alles zusammen!«

      Horst wunderte sich aufs Neue über die Aggressivität, die Thomas heute an den Tag legte. Beruhigend legte er seine Hand auf die Linke seines Gegenübers. »Na komm, ist doch kein Beinbruch! Kann doch mal passieren! Und wenn du es richtig betrachtest: Du hast doch nur das leere Glas gehoben und drauf gedeutet – da kann man doch schon mal im Eifer des Gefechts was verwechseln, oder?«

      »Fall du mir ruhig auch noch in den Rücken! Einer mehr oder weniger, das spielt ja allmählich auch keine Rolle mehr!« Bitter zog Thomas die Mundwinkel he­runter und starrte auf den Boden.

      »Aber jetzt halt mal langsam die Luft an! Keiner ist gegen dich! Ich zumindest nicht! Jetzt spuck aber endlich mal aus, wo denn eigentlich der Schuh drückt!« Horst stand auf und zupfte seinen Kollegen am Hemdsärmel. »Wir gehen aber besser rein, denn ich glaube, es dauert nimmer lang, und dann wütet es hier draußen wirklich!«

      Mittlerweile hatte sich das anfänglich so laue Som­mer­abendlüftchen in einen unangenehm blasenden Wind verwandelt, der auf dem See draußen für die ersten Schaumkronen auf den Wellen sorgte. Es war dämmrig geworden und der gerade eben noch so romantisch-friedlich schimmernde See hatte eine unschöne schwarzgraue Farbe angenommen. Das Alpenpanorama war wie mit einem Schlag verschwunden und dunkle Gewitterwolken verdeckten die Berge. Die orangenen Lichter an der Uferlinie blinkten mittlerweile hektischer – genau 90 Mal in der Minute: Sturmwarnung!

      Der nächste Morgen war grauenhaft – im wahrsten Sinn des Wortes. Dröhnende Kopfschmerzen hatten dazu geführt, dass Horst bereits um 6 Uhr in der Frühe aufgewacht war, an Weiterschlafen war überhaupt nicht mehr zu denken! Ein Blick aus dem Wohnwagenfenster ließ ihn zusätzlich schaudern: dunkelgraue schwere Regenwolken zogen in schneller Folge über den Himmel, ein ekelhaft-feiner Nieselregen strömte wie an unsichtbaren Fäden auf die Erde. Eine unangenehme Kälte machte sich im Wohnwagen breit und bemächtigte sich aller Glieder. Horst versuchte erst gar nicht, einen Blick durch die Hecke auf den knapp hundert Meter entfernten See zu werfen – er konnte sich auch so nur zu gut vorstellen, wie es da draußen jetzt aussehen mochte. Das waren die Tage, an denen er Campingurlaub am Bodensee genauso hasste, wie er sonst glücklich und zufrieden auf dem grünen Rasen am Strandbad die Sonne genoss und sich nichts Schöneres vorstellen konnte als einen legeren Sommerurlaub am See!

      Mit Sicherheit würden die dunklen Wolken über dem Wasser nicht einmal die Sicht zum höchstens zweieinhalb Kilometer entfernten gegenüberliegenden Ufer bei Din­gels­dorf