Harald Jacobsen

Tatort Ostsee


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mir bei einer Routineuntersuchung gratuliert hat.«

      »Du hast es doch nicht etwa wegmachen lassen?«

      Sophie sah sie empört an. »Natürlich nicht! Ich war nicht gerade sofort begeistert, um die Wahrheit zu sagen. Nach ein paar Tagen habe ich gemerkt, dass ich mich freue. Ich hatte Angst mit Felix zu sprechen, aber ich wusste, dass ich es tun muss.« Sophie schwieg kurz, um sich zu sammeln. »Ach Tina, ich weiß auch nicht, was ich erwartet habe. Sicher nicht, dass er vor Glück ausflippt und seine Familie verlässt, aber … ich habe nicht erwartet, dass er so ein Arschloch ist.« Sie konnte die Tränen nicht länger zurückhalten. Tina sprang vom Stuhl und nahm sie in den Arm. Sophie schluchzte auf. »Er wollte, dass ich es abtreiben lasse! Wir haben uns schrecklich gestritten. Ich habe ihm gesagt, dass er mich kreuzweise kann, und dass ich das Baby auch ohne ihn bekomme. Er ist aufgesprungen und hat seine Jacke genommen. An der Tür hat er sich umgedreht und mich wissen lassen, dass ich erst wieder mit ihm rechnen könne, wenn ich nicht mehr schwanger wäre, ohne Nachwuchs natürlich. Ich hab ihm hinterhergebrüllt, dass er sich nie wieder blicken lassen soll. Und das wars.« Tina sah sie fassungslos an. »Ich hab die ganze Nacht geheult und gehofft, dass er anruft und sich entschuldigt. Dass er einfach durchgedreht ist, weil er einen Schock hatte oder so.« Sophie zündete sich mit zitternden Händen noch eine Zigarette an. »Als mir klar wurde, dass alles aus ist, habe ich mich zusammengerissen, für das Baby.« Sie schluchzte laut auf. »Aber dann waren da diese Blutungen. Im Krankenhaus dachte ich, ich will sterben. Als im Fernsehen dann ein Beitrag über Felix und sein perfektes Familienglück gesendet wurde, habe ich beschlossen, dass ich nicht die Einzige sein sollte, die leidet. Ich wollte mich rächen!«

      Sonntag

      Stefan und sein Kollege Robert Feller warteten im Sektionssaal des Rechtsmedizinischen Instituts darauf, dass Lutz Franck mit der Obduktion beginnen würde. Sie blickten wie versteinert auf das Gesicht der toten Frau auf dem Stahltisch. Franck ging um den Tisch herum und sprach in sein Diktiergerät. »Wir haben hier eine weibliche Leiche, 1,75 m groß, etwa 65 Kilo schwer. Äußerlich auffällig sind leichte Hämatome im Brustbereich. Wir machen jetzt einen Abstrich und öffnen dann.«

      Stefan wippte ungeduldig auf und ab. Robert war blass geworden. Stefan hatte den sonst immer so gut gebräunten Kollegen noch nie so gesehen.

      »Die Leiche wurde am Strand von Gold auf Fehmarn gefunden«, diktierte Franck weiter. »Ich öffne jetzt den Brustkorb.«

      Stefan war schon oft Zeuge dieses Y-Schnitts gewesen.

      »Wir entnehmen nun die inneren Organe.« Lutz drückte auf die Stopptaste. »Besonders interessant ist natürlich die Lunge.« Robert nickte übertrieben und verließ überraschend den Sektionssaal.

      »Er ist noch nicht so lange dabei«, verteidigte Stefan seinen Kollegen. Gegen die leichte Schadenfreude kam er nicht an.

      Lutz nickte. »Selbst Schölzel war gestern fix und fertig, aber er war bei dem Baby dabei. So was muss ich zum Glück auch nicht alle Tage machen. Sonst wäre ich schon in der Klapsmühle. Weiter!« Seine Hände verschwanden in dem geöffneten Brustkorb. Er entnahm das erste Organ. Stefan würde sich nie daran gewöhnen. Außerdem ärgerte es ihn, dass er bei Obduktionen immer an seine Hochzeitsreise denken musste. Sie hatten die Flitterwochen in Thailand verbracht. In Bangkok hatten sie den Markt in Chinatown besucht und kaum glauben können, was der Mensch so alles essen kann. Die unterschiedlichsten Innereien warteten in der schwülen Hitze auf Kunden. Mit viel Geschnatter wurden sie von den Verkäuferinnen auf die Waage geworfen und anschließend in Plastiktüten auslaufsicher verpackt.

      »Das ist in der Tat merkwürdig!«, rief Lutz plötzlich.

      Stefan war schlagartig wieder bei der Sache. »Was?«

      Lutz schüttelte den Kopf und gab ihm ein Zeichen, sich noch einen Moment zu gedulden. Dann zerschnitt er den Lungenflügel und betrachtete die Schnittfläche. »Stefan! Das solltest du dir ansehen!«

      Widerwillig stellte er sich neben Franck und starrte auf die zerschnittene Lunge.

      »Und?«

      »Hier die Schnittfläche! Trocken!«

      »Trocken? Sie ist gar nicht ertrunken?«

      »Doch, doch, aber der Befund sollte indifferent sein.«

      »Indifferent? Verdammt, Lutz, sprich Deutsch mit mir!«

      »Die Schnittfläche dieser Lunge sollte normal sein. Ostseewasser hat einen Salzgehalt, der dem des menschlichen Körpers ungefähr entspricht. Obwohl diese Frau definitiv ertrunken ist, würde sich die Lunge auf den ersten Blick nicht von einer – auf Deutsch – Landleichenlunge unterscheiden.«

      Stefan sah ihn fragend an.

      »Osmotischer Austausch! Bei Salzwasser ist die Lunge voll mit Wasser, weil das Salz die Körperflüssigkeiten in die Lunge zieht. Das ist wie beim Kochen. Man soll sein Steak auch nie vor dem Braten salzen, weil es dann an Geschmack verliert. Na, jedenfalls wäre die Schnittfläche bei einer Salzwasserleiche feucht! Es würde Flüssigkeit raustropfen.«

      Stefan wurde fast schlecht bei dem Gedanken. Musste Franck ihm auch noch den Appetit auf sein geliebtes Steak nehmen?

      »Hörst du mir eigentlich zu?«

      Er riss sich zusammen und nickte.

      »Bei Süßwasser verhält sich die Sache wieder ganz anders. Weil der Körper einen höheren Salzgehalt hat, wird das Wasser automatisch aus der Lunge gezogen.«

      Stefan reichte der Unterricht für heute. »Und wie ist das Ende der Biologiestunde?«, fragte er eine Spur zu aggressiv.

      »Das ist Chemie!«, antwortete Franck beleidigt. »Was ich zu erklären versucht habe, ist Folgendes. Die Schnittfläche dieser Lunge ist trocken! Die Frau kann nicht in der Ostsee ertrunken sein!«

      Ben schob die Schiebetür zur Seite, um frische Luft reinzulassen. Der Himmel war wolkenlos und der Morgen schon jetzt angenehm warm. Das würde ein guter Tag werden. Nicht alle Tage waren gut. Oft wünschte er sich sein anderes Leben auf Phuket zurück. Auch wenn ihm diese Zeit dort mittlerweile fast unwirklich erschien, überfiel ihn die Sehnsucht mit einer solchen Heftigkeit, dass es ihm den Atem nahm. Dann sah er plötzlich wieder alles genau vor sich. Den Bang Tao Beach, die Palmen und die Surfer. Er vermisste die Tempel und die freundlichen Menschen, den Duft von Räucherstäbchen und das wunderbare Essen. Und ihm fehlte das Gefühl der unendlichen Freiheit, wenn er durch das kristallklare Wasser surfte. Er vermisste dann sogar die Dinge, die er dort manchmal verflucht hatte. Die aufdringlichen Verkäufer am Strand, das warme Bier, die Regenzeit und die Hitze in manchen Nächten. Wie oft hatte er gejammert, wenn er in seinem kleinen Bungalow ohne Klimaanlage nicht schlafen konnte und sein Bettlaken schweißnass war? Manchmal hatte er sich dann nach kalten Wintern und dicken Daunendecken gesehnt. Doch dieser Wunsch hatte nie lange angehalten. Spätestens am nächsten Morgen hatte er gewusst, dass es keinen schöneren Platz geben konnte. Er war damals glücklich, auch wenn seine Lebensweise sehr einfach war. Seine Behausung war spartanisch. Ein einfacher Holzbungalow mit wenigen Möbeln. Außer einem Bett, einem Tisch, einem Stuhl und einem kleinen Kühlschrank besaß er nichts. Doch er hatte seine Hütte geliebt und sie mit bunten Sarongs und Kerzen zu seinem Heim gemacht. In der kleinen Surfschule hatte er zwar nicht viel Geld verdient, doch irgendwie hatte es immer gereicht. Zwischendurch hatte er Privatstunden gegeben. Die Touristinnen hatten sich ihm regelrecht an den Hals geworfen. Er hatte selten eine Nacht allein verbracht. Er konnte sich unmöglich an Namen oder Gesichter erinnern. Sicher waren alle sehr süß gewesen, doch er hatte sich nie verliebt. Er war immer fair gewesen und hatte keiner Hoffnungen gemacht. Für ihn stand fest, dass er sich aus irgendeinem Grund nicht verlieben konnte. Bis zu diesem besonderen Moment, als er Lamai zum ersten Mal gesehen hatte. Er war eines Abends zum Essen in ein Strandrestaurant gegangen. Dieses bezaubernde Mädchen war an seinen Tisch gekommen, um seine Bestellung aufzunehmen. Er hatte auf Thai bestellt. Grünes Curry mit Huhn. Mühsam hatte er den auswendig gelernten Satz herausbekommen. Lamai hatte angefangen zu lachen. Nicht böse, sondern zauberhaft. Er hatte sie verzweifelt angesehen und dann mitgelacht. Nachdem