Harald Jacobsen

Tatort Ostsee


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Das alles war so unwirklich. Vorgestern hatten sie noch zusammen am Strand gesessen. Warum hatte sie Schluss gemacht? Sie hatten sich doch super verstanden, viel gelacht und konzentriert trainiert. Was wollte sie denn mehr? Ein anderer Mann? Wer war der Kerl? Er hatte immer gehofft, dass sie eines Tages ein richtiges Paar werden würden und davon geträumt, mit ihr zusammenzuleben, sie Tag und Nacht um sich zu haben. Vielleicht hätten sie sogar irgendwann geheiratet und Kinder bekommen. Vielleicht eine kleine Tochter mit langen blonden Haaren. So ein wildes Mädchen, das eher schwimmen als laufen würde. Ein lautes Platschen riss Olli aus seinen Gedanken. Wieder lag ein Kite im Wasser. Die beiden Schüler zerrten an den Leinen, doch der Schirm klebte mit der falschen Seite auf der Wasseroberfläche. »Ich komm schon!«, brüllte Olli und setzte sich in Bewegung. Er warf noch schnell einen Blick auf Sophie. Bei ihr war alles in Ordnung. Sie flog ruhig kleine saubere Achten. Bei den beiden Anfängern angekommen, kontrollierte er die Leinen und drehte den Schirm um. Er erklärte, wie man ihn jetzt in den Wind treiben lassen sollte, bevor man ihn erneut startete. Diesmal schafften sie es. Als Olli sicher sein konnte, dass alles okay war, marschierte er zurück zu Sophie. Sie bemerkte ihn gar nicht. Ihre ganze Aufmerksamkeit war auf den blauen Schirm gerichtet.

      »Hey, das läuft doch super!«

      Sophie ließ den Kite nicht aus den Augen. »Ha ha!«, lachte sie ironisch. »Du weißt doch, wie oft mir das Teil schon abgeschmiert ist. Ich hatte mir das etwas einfacher vorgestellt, um ehrlich zu sein. Meine Beine fühlen sich an wie Pudding.«

      »Du machst das wirklich gut. Morgen stehst du garantiert auf dem Brett!«

      Sie guckte skeptisch. »Ich mache bestimmt bald schlapp. An morgen will ich gar nicht denken. Wahrscheinlich komm ich nicht aus dem Bett.«

      »Unsinn! Gleich machen wir eine Mittagspause und dann geht es mit neuer Power weiter. Ich erkenn doch ein Talent. Warte, ich zeig dir noch mal eben was.« Olli stellte sich dicht hinter Sophie und nahm ihr die Bar, die Lenkstange, aus der Hand. Sein Oberkörper lehnte sich an ihren Rücken. Eine ganz normale Sache, wenn er Schülern etwas mit der Bar zeigen wollte. Doch jetzt fühlte er trotz der dicken Gummihaut, dass ihr Körper ihn nicht kalt ließ. Entschlossen lenkte er den Drachen in eine Kurve. Der Schirm bekam genug Kraft, um beide einen Meter aus dem Wasser zu heben. Sophie kreischte auf.

      »Alles unter Kontrolle!«, beruhigte er sie, als sie wieder gelandet waren.

      »Ich hab fast einen Herzinfarkt erlitten!«, lachte Sophie. »Ich kapiere langsam, dass der Sport süchtig machen kann.« Sie strahlte ihn an.

      »Aber hast du kapiert, wie ich das gemacht habe?« Olli freute sich, dass sie so begeistert war. »Du musst ihn in einer weiten Acht nach unten ziehen. Und gleich wieder rauf. Nachher zeig ich euch, wie ihr euch so durch das Wasser ziehen lassen könnt.«

      »Ich weiß schon, wie es ist, wenn man durchs Wasser gezogen wird. Vielen Dank!«

      »Ich rede vom sogenannten Bodydragging. Dein Körper erfüllt dabei die Funktion des Boards. Du legst dich auf den Bauch, steuerst den Kite und lässt dich einfach durch das Wasser gleiten.«

      »Einfach? Für mich klingt die Geschichte ziemlich kompliziert.«

      »Blödsinn! Du packst das. Vertrau mir einfach!«

      Sarah hatte ihm schließlich auch vertraut.

      Sophie stürmte zusammen mit den anderen Schülern das kleine Bistro. Sie war so hungrig, dass es ihr ganz egal war, was man ihr auf den Teller legen würde. Sie hoffte nur, dass die Portion groß genug war. Sie wunderte sich wirklich über sich selbst. Sonst zählte sie jede Kalorie. Als sie las, was als Tagesgericht vorgeschlagen war, lief ihr das Wasser im Mund zusammen. Currywurst! Sophie konnte sich gar nicht mehr erinnern, wann sie das letzte Mal Appetit auf so viel Fett gehabt hatte. Die Stimmung war ausgelassen. Alle lachten und quatschten durcheinander. Es war wirklich wie in einem Zeltlager und sie war überrascht, wie viel Spaß sie in der Runde hatte. Bis zu diesem Morgen hätte sie noch ein Vermögen gewettet, dass solche Gruppengeschichten nie und nimmer ihr Ding seien und jetzt saß sie plappernd mittendrin und amüsierte sich. Alle waren gut drauf und berichteten von ihren Pleiten und Pannen mit dem Kiteschirm. Niemand schien mehr an die Unfälle und die toten Frauen zu denken. Selbst Sophie hätte fast vergessen, aus welchem Grund sie sich für den Kurs angemeldet hatte. Sie sah sich die Kursteilnehmer genauer an. Ein ziemlich gemischter Haufen und sie war überrascht, wie spannend sie alle fand, obwohl niemand das Gesicht des Jahres war oder ein Verhältnis mit einem Filmstar hatte. Sie ging in Gedanken noch mal die Namen ihrer Mitstreiter durch. Da waren Nils, Freddy, Zecke und Jonny, vier ziemlich durchgeknallte Berliner Anfang 20. Sie hausten in zwei umgebauten Bussen, die mit lauter Graffitizeug besprüht waren. Die Jungs hatten eine unglaubliche Fahne, doch anstelle von Kopfschmerzen blendende Laune. Vor 10 Jahren hatte sie auch noch die ganze Nacht feiern können und war am nächsten Morgen topfit gewesen. Die Burschen würden auch noch älter werden. Ihr gegenüber saßen Indie und Wolf. Die beiden waren um die 50 und konnten ihre Hippievergangenheit nicht leugnen. Indie hatte ihre langen Haare hennarot gefärbt und trug einen Nasenring. Wolf saß im Lotussitz auf dem Stuhl und zwirbelte seinen langen Bart. Sie hatten ihre eigenen Teebeutel dabei. Beide hatten sich indische Tücher um die Schultern gelegt. Nach eigenen Angaben wollten sie eine neue gemeinsame Erfahrung machen. Im letzten Jahr hätten sie einen Tantrakurs gemacht, ließ Indie die anderen wissen. Das letzte Pärchen war fast noch skurriler. Bärchen wog sicher über 140 Kilo und seine Freundin Bienchen höchstens 50. Größere Gegensätze konnte es kaum geben. Bärchen war laut, Bienchen kriegte den Mund nicht auf. Er hatte einen Dreitagebart und roch etwas säuerlich, Bienchen hatte viel zu lange künstliche Nägel und war von einer Wolke edlen Parfüms umgeben. Es hatte sich im Kurs mittlerweile rumgesprochen, dass Hanjo allein ziemlich überfordert war und zudem auch noch den Tod seiner Frau zu verkraften hatte. Niemand schien es ihm unnötig schwer machen zu wollen. Sie bestellten alle Currywurst. Als das Essen auf die Tische gestellt wurde, futterten selbst Indie und Wolf mit großem Appetit. Sophie hatte eben einen Kaffee bestellt, als die Tür aufflog und zwei Männer die Gaststube betraten. Sie sahen nicht aus wie Surfer oder Touristen und sie grüßten auch nicht. Sie marschierten direkt zur Theke. Sophie beobachtete die Szene mit gemischten Gefühlen. Ihr war klar, dass es sich bei den Männern um Kripobeamte handeln musste, noch bevor die beiden ihre Ausweise zückten und sie dem überraschten Ben unter die Nase hielten.

      »Ingo Schölzel, Kriminalpolizei.« Er deutete auf seinen Kollegen. »Gerdt Hartwig.«

      »Scheiße, die Bullen!«, murmelte Zecke.

      Sie sahen sich alle verwirrt an. Sophie versuchte, sich zu konzentrieren. Was bedeutete das?

      »Sind Sie hier der Eigentümer?«, fragte Schölzel.

      Ben schüttelte den Kopf. »Nein, ich bin Surflehrer. Hanjo Peters ist der Besitzer. Er ist in der Küche. Soll ich ihn holen?«

      Ingo Schölzel gab seinem Kollegen ein Zeichen und Gerdt Hartwig öffnete einfach die Küchentür. Sophie war entsetzt, wie unsensibel die Beamten vorgingen. Ein paar Sekunden später kam Gerdt Hartwig mit Hanjo in die Gaststube. Schölzel nickte ihm zu. »Sie sind der Besitzer?«

      »Ja, Hanjo Peters. Worum gehts?«

      »Keine Sorge, es wird nicht lange dauern. Setzen Sie sich bitte zu Ihren Gästen. Dann erklär ich die Situation«, bemerkte Schölzel eine Spur freundlicher.

      Hanjo, Ben und Olli quetschten sich mit auf die Bank.

      »Es tut uns sehr leid, Sie belästigen zu müssen, aber wie Sie sicher alle mitbekommen haben, sind hier zwei junge Frauen ertrunken«, begann Schölzel. Er sah sich die Gäste des Bistros der Reihe nach an. Komm auf den Punkt, dachte Sophie. »Wir müssen Ihnen ein paar Fragen stellen. Wir sind auf der Suche nach Zeugen. Vielleicht hat hier jemand etwas mitbekommen, das uns weiterhelfen könnte.«

      Nach der ersten Schrecksekunde murmelte alles verwirrt durcheinander. Der Kripobeamte räusperte sich laut. »Ich werde Sie nacheinander in die Küche bitten. Es ist nur eine Routinebefragung.«

      »Brauchen wir einen Anwalt?«, kicherte einer der Berliner.

      Schölzel sah ihn genervt an. »Deine Drogengeschichten interessieren uns im Moment