Harald Jacobsen

Tatort Ostsee


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Gericht gebracht. Nach dem Essen hatte Lamai ihm erzählt, dass sie mit ihren Kolleginnen später noch auf ein Glas in einer Strandbar namens ›Coconuts‹ verabredet war. Er hatte sie fragend angesehen. Sie hatte mit den Schultern gezuckt und gelächelt. Natürlich war er auch dorthin gegangen. Von da an hatte er sie jeden Abend von der Arbeit abgeholt. Er hatte sie in verschiedene Restaurants eingeladen oder einfach nur zum Picknick am Strand. Er hatte nur noch den Wunsch, jede freie Minute bei ihr zu sein. Irgendwann hatten sie sich zum ersten Mal geküsst. Er hatte sich gefühlt, wie ein Teenager und die ganze Nacht nicht schlafen können. Er war nie zuvor so glücklich gewesen. Und dann kam der Tag, der ihm sein Glück nahm. Am Vorabend hatten sie zusammen am Bang Tao Beach Weihnachten gefeiert. Lamai war zwar Buddhistin, doch sie hatte darauf bestanden. Er hatte ihr einen Ring geschenkt, den er für sie hatte anfertigen lassen. Ein schlichtes Stück mit einem Tigerauge. Der Stein sollte sie beschützen, wenn er nicht bei ihr sein konnte. Am nächsten Morgen war Lamai an den Kamala Beach gefahren, um sich mit einer Freundin zu treffen. Es war der zweite Weihnachtstag und er hatte frei. Er hatte gerade seinen Bungalow verlassen, um in einem Strandrestaurant zu frühstücken, als er die Schreie hörte. Dann hatte er das Wasser kommen sehen.

      Sophie schlug die Augen auf. Sie war nass geschwitzt und ihr Herz hämmerte. Jemand quetschte sie an die Wand. Sie konnte sich kaum noch bewegen. Etwas Feuchtes drückte sich an ihren Hals. Vorsichtig tastete sie hinter sich. Pelle! Er war trotz Verbot in ihr Bett gesprungen. Erleichtert drehte sie sich um. »Pelle, du Blödmann!« Eigentlich sollte sie ihn hochkant rauswerfen, aber er sah einfach zu niedlich aus. Seine Pfoten zuckten und er knurrte leise. Wahrscheinlich verfolgte er im Traum ein Kaninchen. Vorsichtig schob Sophie den großen Hund etwas zur Seite und griff nach ihrem Handy, um auf die Uhr zu sehen. Sie drückte auf die Tastatur und sofort leuchtete das Display blau auf. 10 nach acht! Sophie rappelte sich verwundert auf. Sie hätte nicht gedacht, dass es schon so spät war. Der Kitekurs begann in knapp zwei Stunden. Sophie ließ sich zurück in ihr Kopfkissen fallen. Sie würde sich sputen müssen, aber fünf Minuten wollte sie sich noch gönnen. Plötzlich schreckte sie wieder hoch. Da war noch was auf dem Display! Sie hatte eine neue Nachricht. Schnell rief sie die SMS auf: ›Definitiv ertrunken! Lutz!‹ Sie hatte sich zum Narren gemacht. Stefan würde sich totlachen. Sie seufzte und las weiter: ›Nicht in der Ostsee‹. Sophie setzte sich kerzengerade auf. Ihr Puls raste. Was hatte das denn zu bedeuten? Nicht in der Ostsee? Sie hatten sie doch am Strand gefunden. Ihr war rätselhaft, was Lutz damit meinte. Ihre eigenen Worte fielen ihr wieder ein: ›Sie sieht irgendwie hingelegt aus‹. Irgendjemand hatte die Frau an den Strand gelegt, nachdem sie woanders ertrunken, nein, ertränkt worden war. Wo? In einem See oder einem Swimmingpool? Eigentlich war das im Moment fast egal, denn eine Tatsache stand wohl fest. Die junge Frau war nicht von selbst an den Strand gekommen. Irgendwer hatte sie, bereits tot, dort abgelegt. Es war Mord! Und Stefan hatte sie für eine oberschlaue Wichtigtuerin gehalten. Er sollte ihr dankbar sein! Ohne ihre Nörgelei am Tatort wäre die ganze Geschichte vielleicht nie ans Licht gekommen. Am liebsten hätte sie ihn sofort angerufen. Aber dann würde sie Lutz verpetzen und damit ihre Informationsquelle verraten. Sie musste unbedingt mehr über die Sache erfahren. Lutz wollte nicht, dass sie ihn anrief, aber eine SMS würde sie ihm schicken. Entschlossen tippte sie eine Nachricht. Lutz würde anrufen, da war sie sich sicher. Sophie sprang aus dem Bett und ging ins Bad. Sie sollte heute beim Kurs Augen und Ohren offen halten und sich ganz unauffällig in der Szene umschauen. Schließlich hatte sie die perfekte Tarnung. Sie machte nur einen Schnupperkurs. Als sie herunterkam, stand Tina in der Küche und hatte Finn auf dem Arm. Gleichzeitig balancierte sie Aufschnitt, Milch und Marmelade aus dem Kühlschrank.

      »Hier ist ja schon was los!«

      Tina rollte mit den Augen. »Meine Nacht war um halb sechs zu Ende. Finn wollte nicht wieder einschlafen und dann sind die Großen aufgewacht. Ich brauch dringend einen Kaffee! Lass uns erst mal frühstücken!«

      Sophie hörte gar nicht mehr zu, sondern starrte auf die Schlagzeile der Sonntagszeitung:

      ›Kiterin ertrunken! Schon der zweite furchtbare Unfall in dieser Saison. Sarah M. trainierte auf Fehmarn für die Deutschen Meisterschaften und galt als Favoritin. Wie ihre Sportkameradin Sandra L. ertrank auch Sarah M. nachts‹.

      Olli putzte sich in seinem komfortablen Wohnmobilbad unter der Dusche die Zähne. Ihm ging es endlich etwas besser. Er hatte die ganze Nacht durchgeschlafen. Seine Hände zitterten nicht mehr und der latente Kopfschmerz war verschwunden. Er durfte nur nicht an Sarah denken. Jede Erinnerung schmerzte zu sehr. Es war gut, dass er arbeiten musste. Wenn er abgelenkt war, konnte er nicht durchdrehen. Olli wickelte sich in ein Handtuch und machte sich in der kleinen Küche einen Kaffee. Dann zog er sich eine Badeshorts und ein T-Shirt an, setzte sich in seine gemütliche Sitzecke und sah sich um. Alles war wieder sauber und ordentlich, fast so, als wäre überhaupt nichts passiert. Olli liebte sein Motorhome. Hier hatte er alles, was er brauchte. Vom Bett aus konnte er sogar den Strand sehen. Das Wohnmobil war sein Refugium und er musste es mit nichts und niemandem teilen. Er war gerne mit Menschen zusammen, doch er brauchte gleichzeitig seine Unabhängigkeit.

      »Unabhängigkeit!«, murmelte Olli vor sich hin. Wenn er etwas nicht war, dann unabhängig. Er machte sich doch nur was vor. Irgendwann würde auch dieser Sommer zu Ende sein und dann musste er wieder auf dem Hof seiner Eltern leben, in seinem alten Kinderzimmer. Er würde sich wie jeden Winter um die Kühe kümmern. Seine Eltern hofften noch immer, dass er eines Tages den Hof übernehmen würde. Er hatte ihnen oft gesagt, dass er sich ein anderes Leben vorstellte. Das Problem war nur, dass er nicht wirklich wusste, was er eigentlich wollte. Er hatte es mit einem Studium versucht und sich für ein Wintersemester BWL eingeschrieben, doch das Studieren war auch nicht sein Ding. Seine Eltern versüßten sein Leben mit großzügigen Schecks und vor zwei Jahren hatten sie ihn an seinem Geburtstag mit dem Wohnmobil überrascht. Sie ließen ihm wirklich seine Freiheit. Er genoss es, ohne Druck die Sommermonate genießen zu können und auf einem Parkplatz am Strand zu leben. Mittlerweile fragte er sich aber selbst, wie seine Zukunft aussehen würde. Das Leben war schließlich kein ewiges Ferienlager. Durch Sarah war ihm klar geworden, dass er nicht für immer ein Surfboy bleiben konnte. Er hatte das erste Mal daran gedacht, dass ein erwachsenes Leben zu zweit, zu dem auch ein solider Job gehörte, vielleicht doch nicht so spießig sein musste, wie er immer befürchtet hatte. Er hatte ernsthaft überlegt ein Surferhotel zu eröffnen und Verantwortung zu übernehmen. Sarah! Nach so vielen Jahren hatte er sich tatsächlich wieder verliebt. Vorher hatte es mit keiner anderen wirklich gefunkt. Am Anfang hatte er sich fast schuldig gefühlt, so, als hätte er seine wahre Liebe verraten. Aber er war damals erst 15 gewesen. Kein Mensch würde erwarten, dass er für alle Ewigkeit allein blieb. Und seine Kleine hätte das am wenigsten gewollt. Trotzdem war er eines Nachts ans Wasser gegangen und hatte sie gebeten, ihm zu verzeihen. Er wollte frei sein für Sarah. Und nun war Sarah tot. Alles war umsonst gewesen. Er war wieder allein und stand vor demselben Problem. Wenn er nur sein Leben so aufräumen könnte wie sein Wohnmobil! Er sollte endlich damit anfangen. Er hatte sich damals geschworen, die Insel nie zu verlassen. Sie sollte immer wissen, wo er war. Aber nun? Er musste endlich aufhören, sich an Erinnerungen zu klammern. Warum konnte er nicht sein wie Ben? Einfach mal abhauen! Der schien nie zu zweifeln. Ben handelte einfach und fürchtete nie die Konsequenzen. Er wurde anscheinend mit allem fertig. Olli ärgerte sich über seine eigene Feigheit. Wenn er doch nur den Mut aufbringen könnte, endlich mal etwas zu ändern. Es würden noch andere Frauen in sein Leben treten und dann würde er alles richtig machen. Seine große Liebe würde nie zurückkehren, das war ihm nach 15 Jahren klar. Es würde kein Wunder geben. Er musste aufhören, sich schuldig zu fühlen. Er musste aufhören, eine Tote zu lieben.

      Sophie versuchte, zumindest ein Brötchen zu essen. Eigentlich war sie viel zu aufgeregt. Dass auch die erste Frau nachts ertrunken war, war beunruhigend. Zwei tote Frauen in drei Tagen, das konnte doch kein Zufall sein! Antonia und Paul tobten schon durch das Esszimmer. Sophie trank den letzten Schluck Kaffee und stand auf. »Ich sollte jetzt abzischen! Ich will Pelle am Strand noch etwas müde toben, damit er keinen Mist baut, wenn ich auf dem Wasser bin.« Im selben Moment knallte es. Tina zuckte zusammen.

      »Nichts passiert, Mami!«, krähte Antonia. »Pelle braucht eine Brille! Der hat den Stuhl umgerannt.«

      Sophie