Fußböden. Schließlich verbot man große Menschenansammlungen, weil sich die Seuche auch noch über Schweiß oder einen Händedruck verbreitete.Kasernen und Fabriken wurden zu regelrechten Seuchenschleudern, bevor man dazu überging, die Räume mit Chlor und anderen Mitteln großflächig zu desinfizieren.Schlimm war die Versorgung mit Blutkonserven. Es war längst üblich, in der Dritten Welt Blut zu sammeln, ohne dass strenge hygienische Maßnahmen durchgeführt wurden, und durch dieses Blut gelangte die Krankheit in den Wochen nach ihrem Ausbruch nach Europa und in die USA, zunächst völlig unerkannt. Auch 2058 war noch immer kein Impfstoff gefunden, und während die Seuche sich in Nordrhein-Westfalen verbreitete, wütete sie dutzendfach in anderen Teilen der Welt. Seltsamerweise starben nicht alle Patienten, die an KIS erkrankten, vor allem nicht in Europa. Die Virologen kannten inzwischen den Grund. Sie konnten sogar die gegen die Krankheit gebildeten Immunstoffe bestimmen und isolieren, aber es war bisher immer noch nicht gelungen, einen Impfstoff zu finden, der gegen die ständige Veränderung der Viren wirksam anzuwenden war. Claudio hatte Glück gehabt.
3. Als Claudio schließlich aus dem Krankenhaus entlassen wurde, war nichts mehr, wie es einmal war. Noch immer wütete die Krankheit. Sie hatte sich schließlich auf ganz NRW ausgedehnt. Sämtliche Ärzte in großem Umkreis waren in Alarmbereitschaft, doch auch Ärzte und Krankenschwestern gehörten längst zu den Opfern der Epidemie, die sich immer mehr ausbreitete. Erst nach sechs Monaten bekam man die Seuche in den Griff, durch rigorose Anordnungen und hunderte von freiwilligen Helfern, die den Gesundheitsbehörden, den Veterinärämtern, der Polizei und den Fortstellen unter Lebensgefahr halfen, um Krankheitsherde ausfindig zu machen. Weg war die Krankheit nicht. In diesen sechs Monaten hatte es allein in Nordrhein-Westfalen über 400.000 Tote gegeben.Überall wurden Messen gelesen, und im Kölner Dom wurde ein steter Strom an Pilgern gemessen, die stumm und ergriffen um eine Befreiung von dieser Seuche beteten, obwohl die Behörden in diesen Tagen große Menschenansammlungen verboten hatten.
4.
Für Claudio änderte sich das Leben im Sommer des Jahres 2058 grundlegend. Er litt unter dem Verlust des Vaters und der Zwillinge, aber er sah auch das Leid, das sich tief in das Gesicht seiner Mutter eingegraben hatte. Das Büro des Vaters war amtlicherseits fast einen Monat geschlossen worden. Allein dort waren zwölf Mitarbeiter an den Folgen der Seuche gestorben. Für alle anderen hatte man den Lohn weiterzahlen müssen, bevor die Krankenkasse einsprang. Alle Aufträge waren auf Eis gelegt. Mehrere Kunden sprangen ab, weil die Termine nicht gehalten werden konnten. In einem Fall gab es Schadenersatzforderungen und die Kunden hatten schließlich auch Angst, dass die Mitarbeiter des Büros die Krankheit auf die eigenen Mitarbeiter übertragen.Eine Versicherung für diesen Ausnahmefall gab es nicht. Claudios Mutter bemühte sich um Darlehen, aber die deckten nur einen Teil der Kosten ab. Schließlich sah sich Claudios Mutter gezwungen, das komplette Büro einschließlich der Immobilie und aller Lizenzrechte zu verkaufen. Das half ihr, dass sie wenigstens das Haus in Kleinenbroich behalten konnte.
Claudio ging wieder zur Schule, aber das große leere Haus war bedrückend. Noch lastete die Seuche wie ein Fluch auf der Ortschaft. Das Haus war unverkäuflich, aber sobald sich eine Gelegenheit ergeben würde, würde Mama mit Claudio in eine Mietwohnung umziehen und das Haus abstoßen. Schließlich hatte eine Holding mit Sitz auf den Seychellen das Ingenieurbüro gekauft und angeordnet, dass die Arbeit sich künftig mehr dem Schwerpunkt sanfter Technologien widmen solle. Die Holding hatte nicht üppig gezahlt, aber durch die von dem Ingenieurbüro gehaltenen Patente waren über hundert Millionen Euro zusammengekommen. So wurde Mama plötzlich reich und sie beschloss, einen Teil des Geldes für eine exzellente Ausbildung ihrer Sohnes zurückzulegen.
Claudios Tante Carola hatte den Deal eingefädelt. Sie war eine Cousine seines Vaters und sie lebte in Berlin, um dort Einfluss auf gesetzgebende Prozesse im Bereich sanfter Technologien zu nehmen. Sie beschäftigte dort einen ganzen Stab von Mitarbeitern und sie hatte ständigen Kontakt zu vielen Firmen aus der Solartechnik, der Homöopathie, der Wasseraufbereitung, oder Schadstoffmessung. Sie hatte auch Kontakt zu der Repräsentantin dieses Konsortiums, eine Frau Josefina Maierhauser-Vargas aus Böblingen, die im Bereich von Umwelttechnologien und Umweltschutz als eine Art Päpstin galt. Claudio wusste von seiner Tante Carola wenig, und von Josefina Maierhauser-Vargas wusste er nichts, außer dass er sie sie schon einigemale im Fernsehen gesehen hatte. Dort gab es Galas und eine regelmäßige Fernsehshow, die sich bedrohten Tier- und Pflanzenarten widmete und Spendengelder sammelte. Es ging da manchmal um Seerobben, manchmal um Schmetterlinge, oder seltene Pflanzen, um bedrohte Bienen, oder um Seeadler. Claudio liebte solche Sendungen, die voll waren mit schönen Tierbildern, und die an das Gefühl der Menschen appellierten. Er wusste zu diesem Zeitpunkt nicht, dass sein Vater in der Vergangenheit schon mehrere Projekte für Josefinas Firmen durchgeführt hatte, und dass Vaters Büro in Fachkreisen längst mit sanften Technologien in Verbindung gebracht wurde.
5.
Claudios Mutter bestand darauf, dass er die Grundschule in Kleinenbroich, und in seiner gewohnten Umgebung abschloss. Durch die ständigen Kontakte zu Tante Carola, zu Josefina Maierhauser-Vargas, ihren Anwälten und zu den Mitarbeitern des Ingenieursbüros wuchs Claudios Mutter aber Stück für Stück in diese neue Welt hinein. Ein besonderer Kontakt bestand zu dem Chefingenieur des Büros, der bei dieser Epidemie seine Frau verloren hatte. Anfangs war Jan de Witt verbittert, und er hatte Claudios Schwestern indirekt die Schuld am Tod seiner Frau gegeben, aber er hatte bald begriffen, dass die Seuche gleichzeitig an mehreren Stellen ausgebrochen war. Ein Geschäftsreisender hatte sie eingeschleppt. Irgendwann war diese Ablehnung in gemeinsames Leid und dann in Verständnis und Zuneigung umgeschlagen. Claudio ahnte, dass Mama und dieser Jan inzwischen das Bett miteinander teilten, zumindest war Jan an den Wochenenden des öfteren da, und er hatte so etwas wie eine väterliche Freundschaftsrolle für Claudio übernommen. Das gab Claudio Halt. Claudio hatte in dieser Epidemie Freunde verloren und eins hatte er gelernt: man braucht die Vertrautheit, die sich über Freunde manifestiert. Seine Mutter wirkte glücklicher, seit Jan sie regelmäßig besuchte, und sie hatte wieder angefangen stundenweise zu arbeiten. Diesmal hatte sie einen neuen Job. Sie arbeitete jetzt für die Stiftung von Josefina Maierhauser-Vargas, um Einfluss auf die Landespolitik zu nehmen, die in Düsseldorf gemacht wurde. Es gab da viel zu tun. Die klimatischen Bedingungen waren um 2050 dergestalt, dass man Gesetze, Verordnungen und Technologien brauchte, um das Überleben der Menschheit zu sichern. Das hatte auch Claudio inzwischen verinnerlicht. In der Grundschule hatte man sich ein Jahr lang der aktiven Trauerarbeit verschrieben. Man hatte viele Themen aufgegriffen, die sich mit der Bearbeitung von Leid, aber auch mit den Ursachen für solche Katastrophen beschäftigten. Es war ja längst nicht vorbei. Die Menschheit steckte mitten in einer globalen und übermächtigen Krise, und diese Seuche war nur ein Teil einer klimatisch chaotischen Entwicklung, welche die ganze Welt erfasst hatte.
6.
Mit Beginn der fünften Klasse wechselte Claudio in eine Schule, die als Kaderschmiede der Elite galt. Mama hatte Claudio mehrfach dorthin mitgenommen, und Claudio hatte schließlich zugestimmt, obwohl ihm das furchtbar weit weg von Zuhause erschien. Der Luftkurort Schmallenberg lag im Sauerland, etwa 130 Km Luftlinie von Neuss entfernt, an der Grenze zum Rothaargebirge in 400-440m Höhe. Viele Kinder von hohen Politikern und Industriellen lebten dort. An den Wochenenden oder in den Ferien wurden sie manchmal abgeholt.Was Claudio letztlich überzeugte, war, dass es dort neben dem regulären Unterricht diverse Kurse gab, von Ökonomie über Recht, der angewandten Physik und Chemie bis zu polytechnischen Werkstätten. Es gab ausgedehnte Sportanlagen und Freizeitaktivitäten. Außerdem war der Ort klein und überschaulich, ähnlich wie Kleinenbroich, und ringsherum gab es Waldwege, die zum Mountainbikefahren einluden. Für seine Mutter waren noch andere Gründe überzeugend. Die Johann-Heinrich-Klingenberg-Schule hatte sich inzwischen den Ruf einer Art Denkfabrik erworben. Das Fraunhofer-Institut für angewandte Molekularbiologie war im Ort ansässig. Es gab Schiefergruben, Bergbau, und einige Unternehmen der Laser-und Hochtechnologie, die alle Praktikumsplätze anboten. Wer hier zur Schule ging, der hatte eine goldene Zukunft, wenn er sich nicht besonders blöd anstellte, oder wenn er früh verstarb, was in diesen Tagen nichts ungewöhnliches war.
Für Claudio begann eine neue Welt. Er musste sich nicht nur gegen die Sprösslinge