und all die großen Flüsse, wie Weser, Elbe oder Themse mit gewaltigen Sperrwerken versah. Emden war hinter diesem Sperrwerk auf einer künstlich angeschütteten Anhöhe neu gebaut worden.
Diese Sperrwerke waren technische Meisterleistungen mit Schleusen, Windmühlen zur Stromerzeugung, Pumpen und Fischtreppen. Hinter manchen Sperrwerken waren große Binnenseen entstanden, die durch ständigen Austausch mit Frischwasser versorgt werden mussten, damit sie nicht wegen Sauerstoffarmut umkippen.Es gab am Boden verankerte frei schwimmende Bojen, die über Solarenergie ständig Sauerstoff in die tieferen Gewässerschichten pumpten, um der Algenbildung vorzubeugen. Innerhalb dieser Binnenseen hatte sich sogar ein neuer Fischreichtum entwickelt und das Angeln und Segeln war zum neuen Freizeitsport geworden. Allerdings war dieses Biotop äußerst fragil. Bei großer Hitze trieben die Fische von Zeit zu Zeit mit dem Bauch nach oben auf der Wasseroberfläche. Viele Küstenregionen lagen jetzt unterhalb des Meeresspiegels, geschützt nur durch gewaltige Deichanlagen. Wenn so ein Deich brach, dann wurden viele hundert Quadratkilometer Land unter Wasser gesetzt.Der Beruf des Deich-und Sperrwerkbauers war für die Wirtschaften des Landes und das Überleben der Menschen genauso überlebenswichtig geworden, wie viele andere Berufe rund um das Recycling von Rohstoffen, und die Erzeugung von Energie. Dazu gehörten auch Wasserwirte, Forstwirte, Agraringenieure und Biologen zur Rettung der Tier- und Pflanzenwelt. Man brauchte einfach Technologien und Verfahren zum Schutz der Lebensräume (der biologischen Kreisläufe), der Erzeugung von Nahrung und der Rückgewinnung von Wertstoffen. Es war ein guter Beruf, und Claudio würde wohl sein Leben lang sein Auskommen haben.
Auch das Binnenland war betroffen. England war immer wieder von Regenfällen geradezu überschwemmt worden. In anderen Regionen kam es zu anhaltenden Trockenheiten, Schneefällen oder orkanartigen Stürmen, die alles lahmlegten. Claudio war in eine schwierige Zeit hineingeboren worden. Eine Zeit, in der eine Natur- und Umweltkathastrophe durch die nächste abgelöst wurde, alles in schneller Folge. Tatsächlich gab es seit über 70 Jahren auch große Fortschritte in der Bekämpfung der umweltschädlichen Ursachen, aber das konnte die einmal eingetretenen Schäden nicht ungeschehen machen. Die Weltgemeinschaft hatte inzwischen verinnerlicht, dass man gemeinsam etwas gegen dieses Chaos unternehmen musste, das nicht nur aus hohlen Absichtserklärungen bestand.Es gab immer noch die wirtschaftliche Ausbeutung von Resourcen und organisierte Umweltsünder zerstörten die Umwelt massenhaft weiter, aus Profitgier oder Dummheit.Dennoch hatte die Menschheit insgesamt gelernt. Es gab inzwischen Abteilungen unter der Ägide der UN, die zumindest streckenweise die Einhaltung von Umweltgesetzen kontrollierte und Verstöße auch ahndete.
9.
Kluge Köpfe hatten der Menschheit stets vorgeworfen, dass die kollektive Dummheit grenzenlos sei, so wie z.B. der Philosoph Adorno, und das bedeutet übersetzt soviel, dass der Mensch kollektiv nicht lernfähig ist. Als Einzelner mag er ein vernunftsbegabtes Wesen sein, aber eben nicht im Kollektiv, und schon gar nicht, wenn radikale Fundamentalisten (gleich welcher Couleur) ihre Anhänger mobilisieren, und die Ausschaltung jeder Vernunft zum Ziel erheben. Das ist dann übertragen so, wie bei den Lemmingen, die nach irgendeinem geheimen Signal zu Tausenden irgendwohin rennen, um dann über die Klippe ins Meer zu stürzen. Ein kollektiver Selbstmord. Man kann sie nicht aufhalten. Adornos Theorie war nicht unumstritten, und er war schon in seiner Zeit nur unter den kritischen Wissenschaftlern hochgeachtet, aber seit 2030 war tatsächlich so etwas entstanden wie eine rationale Auseinandersetzung mit der Krise. Ein Quantensprung in der Geschichte? Wohl kaum. Eher ein Zufall. Ein Seitensprung. Ein Abweichen von der Regel. Ein Innehalten, Nachdenken und tief Einatmen. Ja, es war tatsächlich ein Wunder. Die Bedingungen erforderten auch spontanen und kreativen Einsatz und dynamisches, leidenschaftliches Handeln mit Herz und Verstand, etwas, was man auch mit dem Begriff Empathie fasst.
Jede Gesellschaft bringt solche Strömungen hervor, besonders dann, wenn die Not am Größten ist. Die Menschheit hatte spätestens seit 2040 mehrheitlich ein neues Denken verinnerlicht: „wenn wir nicht massiv gegensteuern, so werden wir als Gattung Mensch aussterben.“ Mehrheitlich bedeutet nicht, dass dies nun immer so ist und bleibt, sondern nur, dass der physikalischen Masse eine gewaltige zeitlich begrenzte Bewegungsenergie entgegengestemmt wird, die sie in eine bestimmte Richtung umlenkt, bis sie noch einmal umgeleitet wird, durch andere Energien. Aber natürlich war es so, wie zu allen Zeiten: Es gab eine richtungsweisende Gruppe, die in allen Erdteilen anzufinden war, es gab eine große Masse von Mitläufern.Es gab Widersacher, Unwissende, Gedankenlose, Gleichgültige, aber auch kriminelle Elemente, Panik-. und Geschäftemacher, korrupte Politiker, irregeführte Geheimdienste, übereifrige Polizisten, karrierebewusste Kader, und sendungsbewußte Geistliche. Es gab entgegengesetzte Theorien, die immer noch ein Spiel der freien Kräfte forderten. Damit hielten sie, in übertragenem Sinne, den Lauf der Lemminge in den Tod in Bewegung. So etwas wird es immer geben, aber irgendwie hatte ein glücklicher Umstand ausgelöst, dass sich der kollektive Schutzgedanke breit machte. Es gab entscheidende Impulse für diese Entwicklung, aber es war auch wirklich Glück. Es war eine Situation, die jederzeit umschlagen kann, wenn man die Kontrolle über die Entwicklung verliert.
In vielen Schulen wurden jetzt neue Dinge gelehrt, etwa der schonende Umgang mit Resourcen, und natürlich gab es auch Gebote, Verbote und Strafen bei Nichtbeachtung, die in Einzelfällen ziemlich drastisch waren. Alles das kam nicht über Nacht. Schauen wir einmal zurück ins Jahr 2002, als die Geschichte von Josefinas Familie begann, die von Claudio inzwischen als “Tante” bezeichnet wurde. Damals schien die Welt noch einigermaßen in Ordnung, wenn man auch die Augen vor den drohenden Gefahren mehrheitlich verschloss. Gehen wir dabei systematisch und chronologisch vor. Damals, vor 70 Jahren, hatte Rudolfo Vargas damit begonnen, ein Vermögen zu begründen. Josefina, ihre Kinder und ein dicht gesponnenes Geflecht aus vielen Freunden hatten das später gewinnbringend angelegt. Das hat nun scheinbar so gar nichts mit dem späteren Wetterchaos zu tun, das Claudios Leben einmal komplett bestimmen sollte, aber schauen wir einmal ganz genau hin. Die globale Entwicklung wäre wohl anders verlaufen, wenn es damals Rudolfo und Josefina nicht gegeben hätte.
Teil 1/ Kapitel 2.
Rudolfo, Josefina, das Erbe und die Maierhauser Ingeniering
1.
Die vorliegende Geschichte beginnt historisch mit Rudolfo Vargas, der im Jahr 2002 neben seinem Studium damit begonnen hatte für eine Bank zu arbeiten. Rudolfo studierte Betriebswirtschaft, aber er schloss sein Studium nicht ab, weil die Bank ihm eine goldene Zukunft bot. Er war ehrgeizig und intelligent, und er war ein Spieler. Er handelte im Auftrag der Bank mit Wertpapieren, Obligationen, Warentermingeschäften und sogenannten Hedgefonds. Er hatte den richtigen Riecher, und er war extrem produktiv und aggressiv. Bei einem solchen Job verzockst du dich des öfteren. Entscheidend ist, was unter dem Strich herauskommt, und Rudolfo war äußerst erfolgreich. In der Großbank, in der arbeitete, gab es nur noch drei andere, die genauso gut waren, und die lieferten sich tägliche Duelle, um sich gegenseitig zu übertreffen. Das Jahresgehalt wurde noch bei weitem übertroffen durch die Boni, die sie für ihre Gewinne einsackten. Die Bank achtete darauf, dass sie ihre besten Mitarbeiter bei der Stange hielt. Es gab genug Headhunter. Rudolfo hatte aber zwei Schwächen. Er dachte nicht im Traum daran, der Steuer irgendetwas abgeben zu wollen. Da war er kein Einzeltäter, sondern das galt damals als Sport. Er war ein Alphatier. Ein Rüde, der nach der Unterwerfung anderer unter seinen Willen strebte, und so hatte er auch einen unerschöpflichen Bedarf an Frauen. Das letztere änderte sich zumindest teilweise, als er 2007 die Biologiestudentin Josefina Ellenwang kennenlernte. Josefina war hochintelligent, sie war sexuell äußerst agil, und sie hatte bereits gelernt, dass es gut ist, ein Ziel zu haben. Eigentlich standen sie auf zwei verschiedenen Seiten. Als Biologin beschäftigte sich Josefina mit bedrohten Pflanzen und Tierarten, und so etwas ging Rudolfo am Arsch vorbei. Naja. Er hatte bisher keinen einzigen Gedanken an so etwas Sinnloses verschwendet.Trotzdem passierte zwischen den Beiden etwas, was man als seltenen Zufall bezeichnet. Vom ersten Augenblick an gab es eine gewaltige erotische und intellektuelle Spannung, die zu einer völligen gegenseitigen Abhängigkeit führte. Rudolfo verzichtete irgendwann sogar fast ganz auf seine sonstigen Techtelmechtel, aber nur fast. Er hörte nie ganz auf damit.