Stefan Storr

Klausurenkurs im Öffentlichen Wirtschaftsrecht


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Scheinauslandsgesellschaften). Die im deutschen Internationalen Gesellschaftsrecht traditionell zugrunde gelegte Sitztheorie, welche eine Begründung der Rechtsfähigkeit für den tatsächlichen Verwaltungssitz durch Neugründung verlangte, ist mit der Niederlassungsfreiheit gemäß Art. 49, 54 AEUV nicht zu vereinbaren[4]. Gegenüber zuziehenden Unternehmen aus Drittstaaten – dh solchen, die weder der EU noch dem EWR angehören – kommt aber weiter die Sitztheorie zur Anwendung mit der Folge des Gebots einer Neugründung zur Herstellung der Rechtsfähigkeit. Allerdings verschafft der BGH diesen Unternehmen insofern Erleichterungen, als sie zumindest nach den für die OHG und KG (§§ 124, 161 Abs. 2 HGB) oder die GbR[5] geltenden Grundsätzen rechts- und parteifähig sind[6]. Wegen der insoweit bestehenden vollen Parteifähigkeit sind Unternehmen aus Drittstaaten mit tatsächlichem Verwaltungssitz in Deutschland nach § 61 Nr. 1 Alt. 2 VwGO beteiligungsfähig[7].

      IV. Antragsbefugnis

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      Die MS Ltd. müsste analog § 42 Abs. 2 VwGO antragsbefugt sein. Hierzu muss sie geltend machen können, durch die sofortige Vollziehbarkeit der Fortsetzungsuntersagung in ihren Rechten verletzt zu sein. Grundsätzlich kann die MS Ltd. eine mögliche Verletzung von § 1 Abs. 1 GewO geltend machen. § 1 Abs. 1 GewO gestattet „jedermann“ den Betrieb eines Gewerbes und damit auch juristischen Personen[8]. Dass die MS Ltd. eine Gesellschaft irischen Rechts ist, ändert hieran nichts, denn auch ausländische juristische Personen sind jedermann iSv § 1 Abs. 1 GewO.

      Die Untersagung der Fortsetzung des Betriebs nach § 15 Abs. 2 S. 1 GewO hindert die MS Ltd. daran, den Betrieb ihres Gewerbes ungestört fortzusetzen. Es liegt ein Eingriff in die Gewerbefreiheit vor, der möglicherweise rechtswidrig ist.

      Exkurs:

      Sollte unter Verkennung des Anwendungsvorrangs des einfachen Rechts zur Begründung der Antragsbefugnis auf Art. 12 Abs. 1 GG abgestellt werden, bedürfte es der Erörterung der Frage, ob Art. 19 Abs. 3 GG erweiternd auf juristische Personen mit Aktionszentrum in einem anderen EU-Staat anzuwenden ist. Dies hat das BVerfG in seinem Grundsatzbeschluss vom 19.7.2011 zu Recht bejaht, sofern das staatliche Handeln ein Tätigwerden im Anwendungsbereich des EU-Rechts betrifft[9]. Sieht man mit dem BVerfG die für die teleologische Erweiterung des Grundrechtsschutzes maßgebliche Diskriminierung im Vorenthalten des spezifischen Rechtsbehelfs der Verfassungsbeschwerde, so erfasst die Erstreckung des Grundrechtsschutzes auf EU-Unternehmen auch die sog. Deutschengrundrechte und damit auch Art. 12 Abs. 1 GG. Fraglich ist, ob es einer gesonderten Diskussion des „Deutschen“-Begriffs in Art. 12 Abs. 1 GG bedarf. Dagegen spricht, dass Unternehmen keine Staatsangehörigkeit, sondern allenfalls eine Staatszugehörigkeit haben. Diese bestimmt sich im Übrigen nicht nach der Staatsangehörigkeit der sie beherrschenden Mitglieder, sondern nach dem Verwaltungssitz der Vereinigung in Deutschland bzw. in einem EU-Mitgliedstaat[10]. Gleichwohl hat die 3. Kammer des 2. Senats des BVerfG jüngst die Berufungsfähigkeit von EU-Unternehmen auf Art. 12 GG angezweifelt: In Anbetracht seines eindeutigen Wortlautes könnte eine unionsrechtskonforme Erweiterung des Art. 12 GG auf EU-Unternehmen die Wortlautgrenze übersteigen und zu einer Auslegung contra legem führen. Die Kammer tendiert offenbar dazu, stattdessen im Wege unionsrechtskonformer Auslegung von Art. 2 Abs. 1 GG EU-Unternehmen den von Art. 12 GG gewährleisteten Schutz zuteilwerden zu lassen[11].

      Die mögliche Rechtsverletzung durch die sofortige Vollziehbarkeit fällt jedenfalls beim Adressaten der Verfügung mit derjenigen zusammen, die aus dem belastenden Verwaltungsakt selbst resultieren kann. Da die Untersagung der Fortsetzung des Betriebs die MS Ltd. in ihrer Gewerbefreiheit nach § 1 GewO verletzen kann, ist sie auch hinsichtlich der sofortigen Vollziehbarkeit möglicherweise in ihren Rechten verletzt.

      Hinweis:

      Es ist genauer, wenn im Rahmen der Antragsbefugnis darauf abgestellt wird, ob der Antragsteller durch die sofortige Vollziehbarkeit des Verwaltungsakts in seinen Rechten verletzt wird. Allerdings lassen sich eine Rechtsverletzung durch den Verwaltungsakt und diejenige durch dessen Vollzug praktisch kaum trennen. Aus diesem Grund wird im Hinblick auf die Akzessorietät des vorläufigen Rechtsschutzes die Antragsbefugnis entsprechend § 42 Abs. 2 VwGO bejaht, wenn im Hauptsacheverfahren die Klagebefugnis wegen der Möglichkeit einer Rechtsverletzung besteht[12].

      V. Einlegung eines Widerspruchs

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      Nach § 80 Abs. 5 S. 2 VwGO ist der Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung bereits vor Erhebung der Anfechtungsklage zulässig. Allerdings muss spätestens mit dem Antrag nach § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO ein fristgerechter Widerspruch eingelegt werden, dessen aufschiebende Wirkung wiederhergestellt werden soll[13]. Diese Sachentscheidungsvoraussetzung muss die MS Ltd. erfüllen.

      Hinweis:

      Eine andere Ansicht ist mit dem Argument vertretbar, das Gebot eines zumindest gleichzeitigen Widerspruchs sei wegen der hiermit verbundenen Verkürzung der Rechtsbehelfsfristen im Hinblick auf Art. 19 Abs. 4 GG problematisch[14]. Allerdings darf auch nach dieser Ansicht der Verwaltungsakt noch nicht bestandskräftig geworden sein.

      VI. Allgemeines Rechtsschutzbedürfnis

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      Das allgemeine Rechtsschutzbedürfnis könnte zu verneinen sein, wenn die MS Ltd. zunächst gemäß § 80 Abs. 4 VwGO einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung an die Behörde stellen müsste. Jedoch normiert § 80 Abs. 6 S. 1 VwGO abschließend die Fälle, in denen zunächst die Behörde angerufen werden muss.

      Ein Antrag der MS Ltd. auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung wäre demgemäß zulässig.

      B. Begründetheit eines Antrags nach § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO

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      Ein Antrag nach § 80 Abs. 5 S. 1 Alt. 2 VwGO auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ist begründet, soweit die Voraussetzungen für die Anordnung der sofortigen Vollziehung nicht vorliegen (I.) oder das Vollzugsinteresse der Stadtverwaltung S das Interesse des MS Ltd. an der Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung nicht überwiegt (II.).

      I. Formelle Rechtmäßigkeit der Anordnung der sofortigen Vollziehung

      1. Zuständige Behörde

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      Die Stadtverwaltung müsste für die Anordnung der sofortigen Vollziehung zuständig gewesen sein. Nach § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO ist die Behörde zuständig, die auch den Ausgangsbescheid erlassen hat. Die Stadtverwaltung verfügte die Fortsetzungsuntersagung und ordnete die sofortige Vollziehung an. Sie war somit zuständig.

      2. Verfahren

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      Fraglich ist, ob es vor der Anordnung der sofortigen Vollziehung einer besonderen Anhörung gemäß § 28 Abs. 1 VwVfG bedarf, da die MS Ltd. ausdrücklich nur zu der Untersagung angehört wurde. Eine Anhörung wäre erforderlich, wenn es sich bei der Anordnung der sofortigen Vollziehung um einen Verwaltungsakt handelt. Dagegen spricht, dass die Anordnung der sofortigen Vollziehung nur einen unselbstständigen Annex zu einem Verwaltungsakt, eine Nebenentscheidung, darstellt[15]. Auch eine analoge Anwendung von § 28 Abs. 1 VwVfG scheidet mangels Regelungslücke aus, da § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 und Abs. 3 VwGO die formellen Anforderungen an die Vollziehbarkeitsanordnung abschließend regeln. Zudem bestehen für ein Vorgehen gegen die Vollziehungsanordnung keine Fristen und sie ist keiner Bestandskraft fähig, so dass kein Bedürfnis für eine Vorverlagerung des Rechtsschutzes besteht[16].

      Trotz fehlender Analogievoraussetzungen stellt sich die Frage, ob sich ein Anhörungsgebot unmittelbar aus dem Grundsatz der Gewährung rechtlichen Gehörs als Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips nach Art. 20 Abs. 3 GG herleiten ließe[17]. Insbesondere im vorliegenden Fall könnte dies damit zu begründen sein, dass eine Anhörung zu der Untersagung nach § 15 Abs. 2 GewO erfolgt ist und – unter Zugrundelegung einer