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Der Konsum von Süßigkeiten ist in Mitgliedstaaten der Europäischen Union in den letzten Jahren erheblich gestiegen. Jeder zehnte Europäer soll bereits übergewichtig und deshalb gesundheitlich gefährdet va im Hinblick auf Stoffwechselerkrankungen und Zahnkrankheiten sein. Um dem zu begegnen, haben einige Mitgliedstaaten sehr strenge Werbeverbote für Süßigkeiten (Gummibärchen, Schokoriegel, Bonbons, Lutscher, Speiseeis) erlassen. Andere Mitgliedstaaten wollen hingegen weiterhin eine liberale Gesundheitspolitik betreiben, in wieder anderen wird noch darüber diskutiert, ob Werbeverbote eingeführt werden sollen oder andere Schutzmaßnahmen getroffen werden können. Der Rat hält eine Förderung des Gesundheitsschutzes zwar für geboten, sieht die unterschiedliche Entwicklung in den Mitgliedstaaten aber kritisch.
In der Folge beschließt der Rat einstimmig auf Vorschlag der Kommission, nach Anhörung des Wirtschafts- und Sozialausschusses und nach Zustimmung des Parlaments eine „Verordnung zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über Werbung zugunsten von Süßigkeiten (‚Süßigkeitenwerbeverbotsverordnung‘)“. Danach darf für Süßigkeiten künftig generell nicht mehr geworben werden. Das Verbot ist umfassend und bezieht sich auf Anzeigen und Inserate in der Presse (Zeitungen und Zeitschriften), Rundfunkwerbung, Kinowerbung, Plakate, Broschüren und andere Werbeträger, wie zB auf Sonnenschirmen oder Fahnen vor Restaurants und Cafés, sowie auf werbebezogene Informationsveranstaltungen.
In den Erwägungen heißt es, dass diese Regelung dem Gesundheitsschutz diene; vor allem Kinder und Jugendliche seien vor den Gefahren des übermäßigen Süßigkeitenkonsums zu schützen. Außerdem stellten unterschiedliche nationale Regelungen zur Zulässigkeit von Werbung für Süßigkeiten Hemmnisse für den freien Warenverkehr und den Dienstleistungsverkehr dar und könnten zu Wettbewerbsverzerrungen im Binnenmarkt führen. Es bestehe die Gefahr, dass einige Mitgliedstaaten ihre Gesundheitspolitik künftig noch verschärfen, was zu weiteren Wettbewerbsverzerrungen führen könne.
Daher müsse das Süßigkeitenwerbeverbot umfassend sein. Damit der Absatz von Süßigkeiten reduziert wird, müssten sämtliche Waren und Dienstleistungen untersagt werden, die ausschließlich die Funktion der Werbung für Süßigkeiten haben (Plakate, Kinowerbung) sowie solche, die nicht ausschließlich als Medien für die Werbung zur Absatzsteigerung von Süßigkeiten (zB Zeitungen und Zeitschriften) dienen.
Die Bayerische Industrie- und Handelskammer lehnt die Süßigkeitenwerbeverbotsverordnung ab. Sie bezweifelt bereits die Kompetenz der EU für den Erlass eines derart umfassenden Süßigkeitenwerbeverbots. Damit würden nicht nur die Produzenten der Süßigkeiten, sondern auch Werbeagenturen und Presseunternehmen, die zB Tageszeitungen mit Werbung für Süßigkeiten vertreiben, erheblich betroffen. Diese Verordnung beseitige keine Hemmnisse des Binnenmarkts, sondern schaffe neue Beschränkungen. Die Union berücksichtige auch nicht, dass die Ein- und Ausfuhr von Presseerzeugnissen, die Werbung für Süßigkeiten enthalten, gegenwärtig auch in solchen Mitgliedstaaten zulässig ist, in denen diese Werbung grundsätzlich untersagt ist. Schließlich stehe einer europarechtlichen Harmonisierung Art. 168 Abs. 5 AEUV sowie das Subsidiaritätsprinzip entgegen. Ferner wären die Hersteller von Süßigkeiten, Presseunternehmen und Werbeagenturen erheblich in ihren Grundrechten betroffen.
Frage 1: Die Bayerische Industrie- und Handelskammer möchte wissen, ob die Süßigkeitenwerbeverbotsverordnung mit Unionsrecht vereinbar ist.
Frage 2: Unterstellt, die europäische Süßigkeitenwerbeverbotsverordnung ist nichtig. Wäre ein deutsches Süßigkeitenwerbeverbotsgesetz, das wie die europäische Süßigkeitenwerbeverbotsverordnung ein absolutes Werbeverbot für Süßigkeiten regelt, unionsrechtskonform?
Bearbeitervermerk:
Alle aufgeworfenen Rechtsfragen sind – gegebenenfalls hilfsweise – rechtsgutachterlich zu erörtern.
Anmerkung:
Auf geltende Richtlinien und Verordnungen der EU ist nicht einzugehen.
Fall 1 Süßigkeitenwerbung › Vorüberlegungen
Vorüberlegungen
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Der Fall ist (modifiziert) im ersten Staatsexamen gestellt worden. Der erste Fragenkreis betrifft das System der europäischen Rechtsetzungskompetenzen, die der EuGH maßgeblich in zwei Entscheidungen zum Tabakwerbeverbot entwickelt hat. Im Lissabonner Vertrag ist die Abgrenzung der Kompetenzen von Union und Mitgliedstaaten grundlegend geregelt worden. Zu prüfen sind spezifische Rechtssetzungsbefugnisse der Union zum Gesundheitsschutz und zum Binnenmarkt sowie die Flexibilitätsklausel und weitere Anforderungen wie das Subsidiaritätsprinzip. Ein weiterer Schwerpunkt liegt in der europäischen Grundrechtsdogmatik. Der zweite Teil betrifft Standardfragen der Prüfung von Grundfreiheiten.
Fall 1 Süßigkeitenwerbung › Gliederung
Gliederung
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Frage 1 | |||
A. | Zuständigkeit der EU zum Erlass des Süßigkeitenwerbeverbots | ||
I. | Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung | ||
II. | Zuständigkeit der EU | ||
III. | Rechtsgrundlage: Art. 168 Abs. 5 AEUV | ||
IV. | Art. 114 AEUV – Harmonisierung im Binnenmarkt | ||
1. | Reichweite des Art. 114 AEUV | ||
2. | Abbau von Behinderungen der Funktionsfähigkeit des Binnenmarkts | ||
3. | Ergebnis | ||
V. | Art. 53 Abs. 1 AEUV iVm Art. 62 AEUV | ||
VI. | Art. 115 AEUV | ||
VII. | Art. 352 AEUV – Flexibilitätsklausel | ||
VIII. | Verletzung des Subsidiaritätsprinzips, Art. 5 Abs. 3 EUV | ||
1. | Ausschließliche Zuständigkeit der Union? | ||
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