Mike Wienbracke

Allgemeines Verwaltungsrecht


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Festhalten an der ursprünglichen Regelung nicht zuzumuten ist, so kann diese Vertragspartei gem. § 60 Abs. 1 S. 1 VwVfG primär eine Anpassung des Vertragsinhalts an die geänderten Verhältnisse verlangen (Anpassungsanspruch[228]). Nur sofern dies nicht möglich oder einer Vertragspartei nicht zuzumuten ist, besteht ein Kündigungsrecht. Unabhängig hiervon kann die Behörde den Vertrag gem. § 60 Abs. 1 S. 2 VwVfG auch deshalb kündigen, um schwere Nachteile für das Gemeinwohl zu verhüten oder zu beseitigen.

      E ist Eigentümerin eines in der Innenstadt von S belegenen Grundstücks, für das sie die Erteilung einer Baugenehmigung beantragt hat. Auf Wunsch von E schloss S mit dieser einen Vertrag über die Ablösung der Stellplatzverpflichtung nach dem insoweit anwendbaren § 37 LBO BW gegen Zahlung von 25 000 €. In diesem Vertrag wird auf die „Richtlinien für die Ablösung der Stellplatzverpflichtung in der Stadt S“ Bezug genommen, nach deren § 2 in einem Vertrag über die Ablösung der Stellplatzpflicht „vereinbart werden kann, dass der Ablösungsbetrag von der Stadt S erstattet wird, wenn der Bauherr innerhalb von 2 Jahren nach Vertragsschluss einen geeigneten Stellplatz auf dem Baugrundstück oder in zumutbarer Entfernung auf einem anderen Grundstück nachweist.“ Eine solche Bestimmung haben E und S allerdings nicht in den Ablösevertrag mit aufgenommen. Nachdem E später 3 Stellplätze in einem nahe gelegenen Parkhaus erworben hatte, beantragte sie, diese auf ihre Stellplatzverpflichtung anzurechnen und die von ihr zu zahlende Ablösungssumme entsprechend herabzusetzen. S lehnt dies ab. Vor dem Verwaltungsgericht macht E nunmehr eine Anpassung des Vertragsinhalts an die geänderten Verhältnisse nach § 60 Abs. 1 S. 1 VwVfG geltend. Zu Recht?

      Nein. Nach § 60 Abs. 1 S. 1 VwVfG berechtigt nicht jede Änderung der Verhältnisse, die für die Festsetzung des Vertragsinhalts maßgebend gewesen sind, dazu, eine Anpassung des Vertrags zu verlangen. Dies ist vielmehr nur dann der Fall, wenn es sich um eine so wesentliche Änderung handelt, dass dem von ihr betroffenen Vertragspartner ein Festhalten an den geschlossenen Vereinbarungen nicht zuzumuten ist. Daran fehlt es jedoch u.a. dann, wenn nach den von den Parteien getroffenen Vereinbarungen angenommen werden muss, dass eine solche Änderung in den Risikobereich desjenigen fallen soll, der sich nunmehr auf sie beruft (Vorrang der vertraglichen Risikozuweisung). Danach ist eine wesentliche Änderung der Verhältnisse i.S.v. § 60 Abs. 1 S. 1 VwVfG vorliegend zu verneinen. Maßgebend hierfür ist der Umstand, dass die Richtlinien von S für die Ablösung der Stellplatzverpflichtung eine ausdrückliche Regelung für den hier gegebenen Fall enthalten. Diese Richtlinien werden in dem mit E geschlossenen Vertrag explizit zu dessen Grundlage erklärt. Eine Vereinbarung, wie sie § 2 der Richtlinien erlaubt, haben die Parteien hier jedoch gerade nicht getroffen. Daraus muss geschlossen werden, dass nach deren Willen das Risiko einer Entwicklung, wie sie dort genannt ist, von E getragen werden sollte. Die nachträglich eingetretene Möglichkeit, auf einem in zumutbarer Entfernung gelegenen Grundstück Stellplätze nachweisen zu können, gibt E daher nicht das Recht, eine Änderung des Vertrags zu verlangen, die S zur Rückzahlung der für die Ablösung dieser Stellplätze gezahlten Beträge verpflichtet.

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      Die allgemeine Vorschrift des § 59 Abs. 1 VwVfG gilt für alle Arten von Verwaltungsverträgen, wohingegen § 59 Abs. 2 VwVfG speziell nur die Nichtigkeit von subordinationsrechtlichen Verträgen (Rn. 109) regelt. Betrifft die Nichtigkeit nach § 59 Abs. 1 oder 2 VwVfG nur einen Teil des Verwaltungsvertrags, so ist dieser im Ganzen nichtig, wenn nicht anzunehmen ist, dass er auch ohne den nichtigen Teil geschlossen worden wäre, siehe § 59 Abs. 3 VwVfG (vgl. auch § 139 BGB).

      JURIQ-Klausurtipp

      In der Fallbearbeitung ist die Nichtigkeit eines subordinationsrechtlichen Vertrags (§ 54 S. 2 VwVfG) zunächst anhand der Spezialregelung des § 59 Abs. 2 VwVfG zu prüfen, der benannte Nichtigkeitsgründe enthält. Sofern danach keine Nichtigkeit vorliegt, gelangt die für alle Arten von Verwaltungsverträgen gültige Norm des § 59 Abs. 1 VwVfG mit ihren unbenannten Nichtigkeitsgründen zur Anwendung („ferner“).

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      Ein subordinationsrechtlicher Verwaltungsvertrag ist gem. § 59 Abs. 2 VwVfG nichtig, wenn

1. ein Verwaltungsakt mit entsprechendem Inhalt nichtig wäre (z.B. Vertrag über die Erteilung einer Baugenehmigung für ein Grundstück, das im örtlichen Zuständigkeitsbereich einer anderen Behörde liegt, siehe § 44 Abs. 2 Nr. 3 i.V.m. § 3 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG; Rn. 148 und Rn. 271);
2. ein Verwaltungsakt mit entsprechendem Inhalt nicht nur wegen eines Verfahrens- oder Formfehlers i.S.d. § 46 VwVfG (Rn. 282 ff.) rechtswidrig wäre und dies den Vertragschließenden bekannt war (Letzteres ist v.a. bei bewusstem und gewolltem Zusammenwirken der Vertragsschließenden der Fall, sog. Kollusion);
3.
4. sich die Behörde im Rahmen eines Austauschvertrags eine nach § 56 VwVfG unzulässige Gegenleistung versprechen lässt (Rn. 111; z.B. Verpflichtung des Bürgers zur Zahlung eines Geldbetrags an die Gemeinde für die zeitnahe Weiterleitung von dessen Baugesuch an die Baurechtsbehörde, obwohl dieser hierauf bereits nach § 53 Abs. 5 LBO BW einen Anspruch hat).

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      Darüber hinaus ist ein subordinationsrechtlicher Verwaltungsvertrag (Rn. 109) – ebenso wie ein koordinationsrechtlicher (Rn. 109) – gem. § 59 Abs. 1 VwVfG dann nichtig, wenn sich die Nichtigkeit aus der entsprechenden Anwendung von Vorschriften des BGB ergibt. Neben den §§ 105, 116 S. 2, 117 Abs. 1, 118, 138 und 142 Abs. 1 BGB ist insoweit v.a. die Vorschrift des § 125 S. 1 BGB (Nichtigkeit bei Verstoß gegen das Schriftformerfordernis des § 57 VwVfG; Rn. 106) sowie des § 134 BGB von Bedeutung. Nach Letzterer ist ein Rechtsgeschäft, das gegen ein gesetzliches Verbot – inkl. der zwingenden Vorschriften des Europarechts – verstößt, nichtig, wenn sich nicht aus dem Gesetz ein anderes ergibt.

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