Ines Gamelas

1968 in der westeuropäischen Literatur


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die von seinem Wunsch, an nichts zu denken, sich ganz dem Erleben der Gefühle des Augenblicks hinzugeben, geprägt wird. Zugleich macht er sich Gedanken über die Unfähigkeit, eine Antwort auf die Frage zu finden: »Was wollte er hier, wie war er hierhergeraten?« (L: 69). Danach nimmt er wieder Kontakt zu Pierra auf, einer jungen Schauspielerin, die er vor einiger Zeit in Berlin kennengelernt hatte. Während dieser Reflexionsphase des Protagonisten bezüglich seines Lebensweges zeigt sich Pierra bereit, ihm bei der Lösung seiner inneren Konflikte und seiner Unsicherheiten hinsichtlich der soziohistorischen Realität zu helfen.13 Durch sie hat Lenz die Gelegenheit, wahrzunehmen, wie die Italiener die Zeit der Studentenrevolte erleben. Sowohl auf einer Feier, auf der verschiedene Persönlichkeiten aus Kunst und Theater anwesend sind – alle revolutionär oder Sympathisanten der Revolte (vgl. Prinz, 1992: 231) –, wie auch im Zusammenleben in Pierras Freundeskreis erkennt der Protagonist, dass selbst unter jungen Menschen das Desinteresse über die politischen und sozialen Fragen vorherrscht (vgl. L: 87) und die Gespräche von persönlichen Problemen (und dem Privaten) dominiert werden:

      Teils aus Trotz, teils aus Interesse begann er, systematisch die Zeitungen zu lesen und Pierras Freunde durch Fragen nach den Anlässen der zahlreichen Demonstrationen zu provozieren. Er erklärte Pierra, was er empfand. Ihre Freunde, behauptete er, bewegten sich in einer ähnlich geschlossenen Welt wie die politischen Gruppen, in denen er es nicht mehr ausgehalten habe. Führten jene jeden Konflikt, auch noch den privatesten, auf den Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit zurück, so versteiften sich diese darauf, jeden Konflikt, auch noch den gesellschaftlichsten, aus der Familiensituation abzuleiten. Er wüßte nicht, welche von beiden Gruppen verrückter sei, nur, welche ihm lieber sei. (L: 88)

      Lenz’ endgültige Entscheidung für eine von diesen Gruppen bleibt zu erläutern, aber ihn beunruhigen gleichermaßen die Widersprüche zwischen revolutionär »sein« und revolutionär »aussehen« wie diese von ihm kritisch gesehene Besessenheit der jungen Italiener, ihre private Seite in der Öffentlichkeit zu zeigen. Aus diesem Grund spürt er weiterhin den Drang, sich von dieser Realität, in der er sich nicht gut integriert fühlt, zu entfernen. Dies macht deutlich, warum Lenz eine Einladung von Rom in den Norden Italiens zu fahren, annimmt. Der italienische Studentenführer Paolo und B., ein deutscher Intellektueller, Genosse von Lenz aus den Zeiten der Revolte in der Bundesrepublik, der aus Berlin gekommen ist, um an der Universität Trient einen Vortrag zu halten, wollen ihn an diese Universität mitnehmen – eine Universität, die seit Monaten durch die Studentenproteste erschüttert wird.

      In Trient erweitert sich die Erzählung auf die Jugendrevolte und auf einige Ereignisse (u.a. Streiks, Fakultätsbesetzungen, Demonstrationen), die den in Lenz dargestellten italienischen Aufruhr von 1968 bestimmen. Begeistert von dem warmen Empfang der jungen Aktivisten, die ihm die Stadt und verschiedene Orte des Protestes zeigen, lässt sich Lenz erneut von dem Geist der Studentenbewegung faszinieren (vgl. L: 100). Darüber hinaus versteckt er nicht seine Bewunderung für die große Nähe zwischen Studenten und Arbeitern, die gleichzeitg eine Rebellion gegen die autoritäre Macht der Professoren in der Universität und gegen die Besitzer der Fabriken führen. Um den lang ersehnten Sinn in der politischen Arbeit zu finden (vgl. ebd.: 101), entscheidet er sich, seinen Aufenthalt in Trient zu verlängern. Während einiger Wochen nimmt er an den Universitätsversammlungen teil, lebt mit Arbeitern und Gewerkschaftern zusammen und bemüht sich, die Ideen der Studenten aus der akademischen Welt heraus zu tragen und sie mit den Bedürfnissen der Gesellschaft zu verbinden (vgl. ebd.: 103f.).

      Dieses Gleichgewicht zwischen politischer Theorie und individueller Praxis führt zu einem neuen Engagement des Protagonisten. Die Erfahrung der italienischen Studentenbewegung gibt Lenz die Begeisterung und die Gewissheit über die Beweggründe seiner Generation wieder, die er gleich nach der Studentenrevolte in der Bundesrepublik und während der Phase der Überpolitisierung der Aktionen und Diskurse nicht mehr erkennen konnte. Tatsächlich, als er aus Trient aufgrund seiner Protestaktionen ausgewiesen wird und gezwungenermaßen nach Westberlin zurückkehren muss, scheint er optimistischer zu sein, was die Zukunft betrifft: Nach dieser Erfahrung scheint er dazu aufgelegt, die Schwierigkeiten bezüglich einer Wiedereingliederung in eine nach 1968 kaum veränderte bundesdeutsche Gesellschaft zu überwinden.14

      Wie zu erkennen ist, werden die Protagonisten von Heißer Sommer und von Lenz von den soziopolitischen nationalen und internationalen Ereignissen, die mit dem antiautoritären Kampf der jungen Generation Ende der 1960er-Jahre verbunden sind, nacheinander herausgefordert. Als junge Studenten und junge Intellektuelle während der Zeit des Tumults in der Bundesrepublik sehen Ullrich Krause und Lenz ihre Überzeugungen permanent auf die Probe gestellt, sehen sich mit ihren Zweifeln und Ängsten konfrontiert und dazu aufgerufen, über ihre Rolle in der Gesellschaft zu reflektieren. Das intensive Erleben verschiedener Momente der Studentenbewegung bringt sie nicht nur dazu, ihren Standort in der Welt zu überdenken, sondern es führt auch zu einer ausdauernden kritischen Haltung gegen das Establishment. Dieser Bruch zeigt sich in den Fragen, die die damalige politische Aktualität bestimmten, aber auch in denen des soziokulturellen Kontextes. Damit beschäftigt sich das folgende Unterkapitel.

      2.1.4 Liebe und Sexualität: die Revolution der Sitten

      Die kollektive Mobilisierung aus politischen Gründen ist entscheidend für das Bild der jungen Generation in Heißer Sommer und in Lenz, aber genauso relevant dafür ist die Rolle der sexuellen Revolution. Geleitet durch das Schlagwort »Das Private ist politisch!«, ließen sich die jungen Menschen aus dieser Zeit von der Liberalisierung der etablierten Sitten inspirieren (vgl. Kraushaar, 2000: 271). Und auch die jungen Figuren dieser zwei Werke der literarisierten Revolte sind bereit, das, was vorher privat war, öffentlich zu machen. Dabei lassen sie sich von dem Wunsch nach Bewusstseinsveränderung, nach einem bedingungslosen Ausleben von Liebesbeziehungen sowie nach dem kompromisslosen Ausdruck von Gefühlen leiten:

      Die Bewegung von 1968 lässt sich […] als eine umfassende Kulturrevolte begreifen: Als Intellektuellenbewegung richtete sie sich allgemein gegen tradierte Formen des kulturellen Zusammenlebens und fokussierte sich [sic!] dabei sowohl politisch-ökonomische Ziele gegen Technisierung, Anonymisierung und Bürokratisierung als auch soziale hinsichtlich der Geschlechterrollenbeziehung und des Umgangs mit Sexualität und Sinnlichkeit. (Germer, 2012: 98f.)

      Die bundesdeutsche Generation, die die 1968er-Bewegung erlebte, fand in hemmungslosem und provokativem sozialen Verhalten ihre Protestform und drückte im soziokulturellen Schock und in der Verbreitung der Alternativkultur ihre Unzufriedenheit mit dem konservativen und traditionellen Ethos ihrer Eltern aus. Als junge Menschen ihrer Zeit sind Ullrich und Lenz keine Ausnahme von der Regel. Die Veränderungen, die sich im soziokulturellen Bereich am Ende der 1960er-Jahre zeigen, sind auch für die individuellen Veränderungen der beiden bestimmend, und zwar sowohl auf der emotionalen wie auf der sexuellen Ebene.

      Im Falle von Heißer Sommer werden die Liebesbeziehungen, die Ullrich im Verlauf des Romans hat, dargestellt. Von den längeren Beziehungen bis zu den kurzen Abenteuern tragen sie zur persönlichen Entwicklung des Protagonisten bei und verfolgen auch die allmähliche Entfernung der Studentengeneration vom soziokulturellen Status quo während der aufrührerischen Jahre der Revolte.

      Zu Beginn der Handlung durchläuft Ullrich eine Krise, in der er sowohl über sein Studium als auch über sein Privatleben reflektiert. Dabei wird er von Zweifeln geplagt, die ihn über seine Beziehung zu Ingeborg nachdenken lassen. Mit dieser Studentin hatte er bis zum Sommer 1967 eine feste Beziehung. Im Laufe der Zeit ist der Protagonist mit der auf Treue und Verbindlichkeit gründenden Beziehung unzufrieden und verliert das Interesse – zwei Anzeichen, die als Symptome des Endes seiner Leidenschaft vorkommen. Der Drang, sich zu befreien, lässt Ullrich nach sexuellen Abenteuern suchen: Sowohl mit Gaby, einer Frau, die er eines Nachts in einer Bar kennenlernt, als auch mit anderen Frauen, zeigt er sich kühner und lässt sich von den momentanen Gefühlen mitreißen.1 Bewegt von dem Wunsch, sich zu amüsieren und neue unverbindliche Erfahrungen zu machen, scheint der Protagonist von Flirt zu Flirt mehr Vertrauen in den gewählten Weg zu bekommen – einen Weg, der von der Flucht vor der Routine der Traditionen und vor den guten Sitten, die ihn abstoßen und unterdrücken, geprägt ist.

      Von den zufälligen Begegnungen, die