ehemaliger Protestler, die in die Jahre gekommen sind. Ein weiteres wichtiges Zeugnis ist die autobiographische Erzählung Der Freund und der Fremde (2005), in der, ausgehend von den Erinnerungen Uwe Timms und seines Freundes Benno Ohnesorg aus der Jugend- und Studentenzeit, ein Bild der 1968er-Bewegung in der Bundesrepublik und in Frankreich gezeichnet wird (vgl. Nicklas, 2015: 81).20
Lenz und Heißer Sommer konzentrieren sich auf die utopischen Hoffnungen und auf die Erfahrungen der Enttäuschung oder Desillusionierung, die eine ganze Generation kennzeichnen. Beide Texte prägen die literarische Laufbahn beider Autoren, die sich durch ein akzentuiertes geschichtliches Bewusstsein, eine intensive Sozialkritik und die Neubetrachtung der Vergangenheit als Infragestellung des Verhaltens der jungen Generation am Ende der 1960er-Jahre charakterisieren lässt.21 Dieses Interesse für die verschiedenen Wertvorstellungen der Protestkultur zusammen mit einer ständigen Reflexion machen Schneider und Timm zu Autoren der 1968er-Generation par excellence. Beide machten aus der Studentenbewegung eine Art Leitmotiv ihrer literarischen Produktion (vgl. Durzak, 2006: 603) und erreichten schon in ihren Erstlingswerken eine problematisierende und in Frage stellende Darstellung der Studentenbewegung auf ihrem Höhepunkt.
2.1.2 Erzählstrategien
Eingerahmt von der »Neuen Subjektivität« der 1970er-Jahre sind Lenz und Heiβer Sommer zwei Werke, die ähnliche narratologische Optionen wählen. Sie tragen gemeinsame Züge einer literarischen Strömung, die sich durch die Vorherrschaft des Ich-Gefühls, durch die subjektive Verarbeitung der alltäglichen Erfahrungen und durch die Selbstbestimmung auszeichnet (vgl. Meid, 2004: 486).
Es ist besonders der individuelle, nach innen gerichtete Blick auf die historische Aktualität jener bewegten Zeit, die Lenz zu einem der Schlüsselwerke der »Neuen Subjektivität« macht (vgl. Platen, 2006: 28):
Man feierte den »Lenz« als literarischen Fürsprecher einer Neuorientierung, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, den verhärteten Kurs der linken Kadergruppen zu korrigieren und die Bewegung wieder an ihre ursprüngliche Idee, die Verbindung von Politik und Sensibilität, zu erinnern. Für die Literaturkritik ist denn der »Lenz« auch der literarische Markstein eines Umdenkens innerhalb der Bewegung, nicht nur was das inhaltliche Bekenntnis, sondern auch, was die literarische Darstellung betrifft. (Prinz, 1990: 213)
Als Eine Erzählung betitelt, ähnelt Lenz einer Chronik ohne konkrete Datumsangaben. Die Eintragungen scheinen nicht nur die Erlebnisse des Protagonisten in der unmittelbaren Zeit nach der Hauptphase der 1968er-Revolte, sondern auch auf eine intime und persönliche Weise seine Überlegungen und Beunruhigungen darzustellen.1 Interessanterweise ist Lenz dennoch keine autobiographische Erzählung – so wie viele andere Werke der »Neuen Subjektivität«, in denen in der ersten Person erzählt wird.2 Entsprechend der Terminologie von Franz Stanzel gibt es in Lenz eine Er-Erzählsituation, in der der Protagonist nah an der Rolle einer »Reflektorfigur« ist (Stanzel, 2008: 16).3 Alle Ereignisse der Erzählung werden durch die Wahrnehmung von Lenz gefiltert und nur das, was der Protagonist weiß, erlebt und denkt, wird bekannt gegeben. Zu dieser Nähe zwischen dem Erzähler und dem Protagonisten trägt die erlebte Rede bei: »Die Erzählung ist in erlebter Rede von einem Erzähler erzählt, der sehr selten den Blickwinkel des Protagonisten überschreitet« (Platen, 2006: 42).
Auch in Heißer Sommer verknüpfen sich die Zeichen der zeithistorischen Wirklichkeit der 1968er-Revolte mit den für die »Neue Subjektivität« kennzeichnenden Zügen:
Trotz der Nähe des Romans zum […] Konzept des politischen Realismus, gibt es auch in Heißer Sommer eben jene poetischen Durchschüsse, die auf eine subjektive Erfahrungsebene jenseits des ideologischen Überbaus verweisen. (Fuchs, 2003: 229)
So wie in Lenz entsteht diese subjektive Darstellung der Erlebnisse der Studentenbewegung in Heißer Sommer durch die Er-Erzählsituation, in der der Erzähler zurücktritt. Nach einem ersten Versuch, den Roman in der Ich-Erzählsituation zu verfassen, wählte Uwe Timm eine andere narrative Perspektive, die sich nah am autodiegetischen Fokus befindet. Darin übernimmt der Protagonist die Funktion des »Reflektors« (Stanzel, 2008: 16) und der Leser sieht die Welt durch Ullrichs Augen.4 In Heißer Sommer dominiert die Darstellung (nach Stanzel) und der Erzähler beschränkt sich darauf, die Narrative zu organisieren, und verzichtet auf wertende oder reflektierende Interventionen. Diese Unmittelbarkeit des Erzählten trägt dazu bei, die Zeichen von einer Vermittlung seitens des Erzählers zu mindern.
Im Verlauf des Romans folgt der Erzähler nicht nur anderthalb Jahren von Ullrichs Lebenslauf, sondern er begleitet auch die Überlegungen des Protagonisten über das, was passierte, und das, was er erlebte. Die Erinnerungen Ullrichs an seine Erlebnisse während der Studentenbewegung ebenso wie jene der Kindheit und Jugendzeit werden mithilfe von Analepsen vorgestellt, die direkt vom Protagonisten abhängen. Diese Analepsen ermöglichen die Darstellung einer individualisierten Perspektive der Zeit des Umbruchs 1968, da sie Ullrichs Anstrengungen bei seiner Identitätsfindung zeigen.
Diese Identitätsfindung und die Suche nach emotionaler Reife beider Protagonisten in bewegten Zeiten – einer Reife, die ihnen zu mehr Gelassenheit im Rahmen der von ihnen gemachten Erfahrungen während der Studentenrevolte (und danach) verhilft – sind ein Zeichen der Interdependenz zwischen dem Psychologischen und dem Politischen, die Peter Schneiders und Uwe Timms Werke charakterisiert. Sowohl Ullrichs als auch Lenzʼ Handeln wird nicht nur durch die historischen Ereignisse geprägt, sondern beide Protagonisten werden auch durch ihre introspektive Haltung und ihre Reflexionen, durch ihre emotionale Unzufriedenheit gestaltet, die sie antreibt und wachsen lässt. Wie im Folgenden dargestellt wird, versuchen beide, in Zeiten von Tumult und Agitation sowohl im Rahmen des politischen Aktivismus als auch der sexuellen Revolution und des Sittenwandels ihr Gleichgewicht und innere Ruhe zu finden.
2.1.3 Ereignisse der Studentenrevolte in Lenz und in Heißer Sommer
Nach der Regierungsübernahme durch Kurt Georg Kiesinger und dem Beginn der »Großen Koalition« aus CDU/CSU und SPD erlebte die Bundesrepublik die Entstehung eines ausdrücklichen soziopolitischen Widerstands. Während 1967 und 1968 traten viele Studenten in den Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) ein und engagierten sich in der Außerparlamentarischen Opposition (APO). Viele nahmen an Demonstrationen und Protestaktionen teil, um eine Veränderung der Universitäten und der Gesellschaft zu erreichen. Ereignisse wie die Tötung Benno Ohnesorgs oder das Attentat auf Rudi Dutschke waren nicht nur entscheidend für die Verstärkung der Proteste, sondern wurden auch als Symbole jener Zeit der Mobilisierung der jungen Generation betrachtet (vgl. Rinner, 2013: 2). Ende 1968 und Anfang 1969 verließ dennoch die Studentenbewegung die universitären Bühnen und die Straßen der großen Städte und erlebte zunehmend Gegenwind gegen den antiautoritären Kampf und eine kollektive Enttäuschung jener politischen Ideale, die sie vorher inspiriert hatten.
Diese Zeit der Entstehung, des Aufstiegs und des Abflauens der Unruhen der 1960er-Jahre bildet den geschichtlichen Hintergrund dieser zwei Werke der literarisierten Revolte in der Bundesrepublik. In Heißer Sommer tauchen die historischen Momente der Studentenbewegung in ihrer Blütezeit von 1967 und 1968 auf. Lenz zeigt die Nachwirkungen der Euphorie in einem Kontext von individuellen und kollektiven Unsicherheiten und Zweifeln am Erfolg der Revolte und an den von den radikalen Studenten postulierten Alternativen, um den Kampf für die Ideale der jungen Generation fortzuführen.1 Während beide Werke Geschichte und Fiktion verknüpfen, ergänzen sie also einander in der chronologischen Darstellung der historischen Episoden der akademischen und soziokulturellen Unruhen. So beschreiben sie die Entwicklung der jeweiligen Protagonisten während dieser Zeitphase und wie diese den unterschiedlichen Herausforderungen der Studentenbewegung begegnen. Obwohl Lenz ein Jahr vor Heißer Sommer erschien, soll hier zunächst der Roman von Uwe Timm dargestellt werden – auf diese Weise wird die chronologische Abfolge der historischen Zeit der zwei Werke respektiert. Dabei wird die Laufbahn jedes Protagonisten im Laufe der Ereignisse der 1968er-Bewegung hervorgehoben.
Die Handlung von Heißer Sommer beginnt im Sommer 1967 und verläuft bis Anfang 1969 parallel zu dem Weg des Aufruhrs und der Tumulte der bundesdeutschen