Spanien und in Portugal, wo das politische Leben durch das diktatorische Regime bestimmt wurde, war die Wirklichkeit anders, da die Freiheit der jungen Spanier und Portugiesen zum Protestieren und zum Demonstrieren eingeschränkt und dadurch die Aufbruchsstimmung nicht so ausgeprägt war. Trotz allem fehlen auch hier nicht die Zeichen jenes Willens, die Gesellschaft zu verändern, sichtbar nicht nur in den Universitäten (in Form von Demonstrationen gegen das Hochschulsystem und gegen das Regime Francos und Salazars), sondern auch in der Art und Weise, wie die junge spanische und portugiesische Generation sich gegen den Status quo auflehnte und dabei versuchte, die Vorteile einer zunehmend globalisierten Welt zu nutzen, um die alternativen Tendenzen der Gegenkultur jenseits der nationalen Grenzen zu verfolgen und zu erfahren.
Trotz der landesspezifischen soziopolitischen Besonderheiten teilt die junge Generation in der Bundesrepublik und in Frankreich, Italien, Spanien und Portugal den gemeinsamen Willen, ihren Dissens gegen das Establishment durch Provokation, Irreverenz und Aufsässigkeit auszudrücken. Das tut sie sowohl mit der Teilnahme an Protestaktionen und Demonstrationen, die die Widerstandshaltung der jungen Generation in den Vordergrund rücken, als auch mit dem Versuch, die jüngsten nationalen und internationalen Ereignisse zu begleiten und dazu ihre Meinung zu äußern. Viele von diesen soziopolitischen und kulturellen Ereignissen werden in den verschiedenen literarischen Werken, die zum Textkorpus der vorliegenden Arbeit gehören, bearbeitet. Sie sind entscheidend für die Räume und Milieus (u.a. Plätze, Straßen, Familie, Studenten-, Arbeiter- und Protestmilieu), die in den Texten geschaffen bzw. dargestellt werden, wie auch für den Aufbau der Diegese und sie haben einen direkten oder indirekten Einfluss auf den Weg der unterschiedlichen Protagonisten der jungen wie auch der älteren Generation von Heißer Sommer, Lenz, Derrière la vitre, I giorni del dissenso, Condenados a vivir und Sem Tecto, entre Ruínas.
2 Darstellung der Prosawerke
Als Nachwirkung der intensiven Jahre des akademischen Aufruhrs und der Unzufriedenheit der jungen Generation mit dem soziopolitischen Status quo am Ende der 1960er-Jahre kam die historische, politische und soziokulturelle Bewegung der roaring sixties in der literarischen Szene wieder zum Leben. Sie fand in verschiedenen Prosawerken in der Bundesrepublik, in Frankreich, Italien, Spanien und Portugal Ausdruck. Thematiken wie die Studentenrevolte, der Generationenkonflikt und der transnationale und transkulturelle Prozess der Kampferfahrungen gegen das Establishment hallen in jedem dieser Werke in vielfältigen individuellen und kollektiven Erlebnissen der jungen und nicht mehr jungen Figuren wider, die die historische Epoche der Protestkultur in den 1960er-Jahren erleben.
In diesem Kapitel werden die untersuchten Prosawerke einzeln analysiert. Dabei werden die Aspekte hervorgehoben, an denen sich die Ideologie- und Generationsspaltungen beobachten lassen. Nach einer kurzen Einordnung der Texte in das Werk des jeweiligen Autors und ihren literarischen Kontext werden die Erzählstrategien und der ästhetisch-literarische Ansatz der jeweiligen Prosawerke kommentiert. Danach wird in erster Linie fokussiert, in welcher Beziehung die Protagonisten und die Figuren der beiden im Streit befindlichen Generationen zur jeweils erzählten allgemeinen Geschichte jener Epoche stehen. Dabei wird ihre Rolle, sei es als Akteure oder Mitläufer, im Kontext der von ihnen erlebten Veränderungen reflektiert. Obwohl sie keine historischen Dokumente sind, stellt jedes der Werke ein fiktionales Bild jenes zeitgeschichtlichen Kontextes dar und rückt verschiedene Ereignisse in den Vordergrund, die die Diegese durchziehen und die mit der individuellen Wirklichkeit der Hauptfiguren verbunden sind. Hier werden die in den Texten erzählten Ereignisse behandelt, die mit dem antiautoritären Kampf verbunden sind, wie die akademischen Unruhen, der Generationenkonflikt und das nationale und internationale politische Tagesgeschehen. Diese Gegenstände der Erzählung zeigen die Verbindung zwischen der historischen Zeit und der individuellen Realität der Hauptfiguren jedes Textes. Anschließend, und wie in der historischen Zeit die Widerstandshaltung der jungen Generation sich nicht nur auf politischen Aktivismus beschränkte, werden andere öffentliche sowie private Momente in Augenschein genommen, die den Bruch der jungen Menschen mit den vorherrschenden Lebensentwürfen bedeuten: Das Ausleben der freien Liebe und der sexuellen Emanzipation ebenso wie das Auftauchen einer subversiven Gegenkultur sind einige der Zeichen der Aufsässigkeit der jungen Figuren, deren Darstellung in den Werken der Analyse bedarf.
2.1 Lenz von Peter Schneider und Heißer Sommer von Uwe Timm
2.1.1 Peter Schneider und Uwe Timm: die literarisierte Revolte in der Bundesrepublik
Nach dem Klima der Agitation, das an den Universitäten und auf den Straßen der Bundesrepublik 1967 und 1968 herrschte, erhielten die liberale Haltung der jungen Generation und ihre Erfahrung bei den Ereignissen des akademischen, politischen und soziokulturellen Aufruhrs Platz in der literarischen Szene. Sie zeigten sich in der literarisierten Revolte, d.h. in einer Reihe von Texten, die sich der fiktiven Darstellung der Studentenbewegung Ende der 1960er-Jahre widmeten.1 Herausgefordert durch die allmähliche Auflösung der Außerparlamentarischen Opposition (APO), durch das Auftauchen tiefer ideologischer Unterschiede, die zur Auflösung des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) führten (vgl. Scott Brown, 2013: 106), sowie durch das Abflauen der Mobilisierung der jungen Generation für die Erneuerung der politischen und soziokulturellen Strukturen Westdeutschlands, wurde die antiautoritäre Protestkultur als literarisierte Revolte fortan in den Bereich der Literatur verlagert.2 Die literarische Produktion, die im Kontext der literarisierten Revolte erschien, entstand vor allem in der ersten Hälfte der 1970er-Jahre durch eine neue Autorengeneration. Diese literarische Produktion fand in der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre ihren inhaltlichen Schwerpunkt und sie konzentrierte sich sowohl auf die politischen als auch auf die soziokulturellen Erfahrungen, die die junge Generation während und nach der Revolte machte:
Es ist eine Zeit-Literatur im genauen Sinn des Wortes: Reflex persönlicher Geschichten und gesellschaftlicher Entwicklung, Verarbeitung von Erlebnissen und Wandlungsprozessen, auch Kritik und Distanzierung festgefügter Standorte und Positionsbestimmungen. (Schnell, 2003: 388)
Im literarischen Milieu debütierend und vereint durch die Erfahrungen im Rahmen der intensiven Jahre der Studentenbewegung von 1968 (vgl. Talarczyk, 1988: 143), bemühte sich die neue Autorengeneration darum, Zeugnis des Erlebten abzulegen. Gleichzeitig reflektierte jeder Autor individuell über die ersehnten Utopien vom Wandel, über die sowohl im öffentlichen wie im privaten Bereich erreichten Veränderungen und auch über die persönliche und kollektive Erfolglosigkeit im Rahmen der Studentenbewegung.3 Weit über eine bloße Dokumentation der Jugendrevolte hinaus nahm sich diese junge Autorengeneration vor, der westdeutschen Literatur eine neue Richtung zu geben. Sie zielte auf eine politische Ausrichtung, die der linken Ideologie nahestand, und auf eine ausgeprägte soziale Verantwortung. Dieser Vorschlag der jungen Autoren der 1970er-Jahre distanzierte sich gleichermaßen von der »bourgeoisen« Sichtweise der »etablierten« Literatur – die sie lediglich als Unterhaltungsliteratur ohne eine politisch oder sozial engagierte Dimension ansahen (vgl. Bullivant, 1989: 37) –, wie von der Richtung einer politisierten Literatur der Gruppe 47.4 Sie schrieben der literarischen Produktion der neuen Dekade eine aktivere und zeitgemäßere Funktion von gesellschaftlicher Intervention zu, in der sie gleichermaßen zur Reflexion über die Fragen der Studentenbewegung anregen wie sich als Motor politischer und soziokultureller Veränderung präsentieren sollte.5
Trotz der starken dokumentarischen Komponente, die mit den historischen Ereignissen der 1960er-Jahre verbunden ist, beschränkt sich das literarische Ethos der literarisierten Revolte nicht auf ein realistisches Abbild der akademischen Unruhen und auch nicht auf einen mobilisierten Appell, um die Massen zum politischen Aktivismus und zur Umgestaltung der Gesellschaft zu bewegen. Es wird deutlich, dass dieses »minor genre« (Preece, 1992: 301)6 der 1970er-Jahre weder einem politischen noch einem vereinheitlichten literarischen Programm folgte, sondern sich durch individuelle Tendenzen und Stile leiten hieß (vgl. Hubert, 1992: 17): Dabei wurde die persönliche, subjektive Sichtweise eines jeden Autors auf die Unruhen am Ende der 1960er-Jahre bevorzugt. Diese persönliche Ansicht der politischen und soziokulturellen Ereignisse jener Zeit, die von einem starken autobiographischen Register bestimmt wurde, entspricht der individuellen und introspektiven Fokussierung der »Neuen Subjektivität« oder »Neuen Innerlichkeit«, einer literarischen