und Vorlesungs- und Prüfungsstreiks stattfanden.7
Am 1. März 1968 erfolgte jedoch eine Wendung der Studentenrevolte (vgl. Kurz/Tolomelli, 2008: 89): Die gewalttätigen Zusammenstöße von Studenten und Polizei vor den Toren der Architekturfakultät in Valle Giulia, in Rom, bedeuteten den Übergang zu den Straßenunruhen.8 Von diesem Tag an wurden Massendemonstrationen alltäglich und gewalttätig, die Städte wurden im Verlauf von 1968 zu großen Auditorien, in denen die Rufe nach einer radikalen Reform des Staates, nach Beendigung der Polizeirepression und gegen die konservative Presse lauter wurden.9 Die Annäherung von Studenten und Arbeitern wuchs ebenfalls ständig. Die Studenten solidarisierten sich mit der Arbeiterbewegung und verstärkten die Kampfesreihen des Proletariats bis 1970. Zum einen, dank der politischen und sozialen Bewusstwerdung, entschieden sich viele, »studenti-proletari« [Werkstudenten] zu werden, d.h. Studenten, die ihre Studien vor allem durch Fabrikarbeit finanzierten (vgl. Azzellini, 2008: 179). Zum anderen nahmen die jungen Menschen aktiv an den politischen Aktionen verschiedener Gruppen teil, die am Rande des Parlaments entstanden, und auch an den Streiks, die die Produktion in Unternehmen wie Pirelli oder Fiat während des Frühlings und des »autunno caldo« [heißen Herbsts] 1969 lahmlegten. So wird in Italien die Phase bezeichnet, in der die Arbeiterbewegung und der Kampf gegen den Autoritarismus auf allen Ebenen der Gesellschaft ihren Höhepunkt erreichten (vgl. Giachetti, 2012: 867).10
Schon vor der Phase des antiautoritären politischen Aktivismus des Jahres 1968 hatten die jungen Italiener in kultureller Hinsicht ihre Ablehnung gezeigt. Durch Rock’n’Roll und Anderssein – lange Haare, nachlässige Kleidung und Auszug von Zuhause (vgl. Casilio, 2013: 104f.) – markierte man in Italien die Entstehung einer Beatgeneration, mit Gruppen wie den »provos« [Provokateuren] und den »capelloni« [Langmähnigen], die die soziokulturelle Avantgarde am Ende der 1960er-Jahre bildete. Mithilfe eines Ausschnittes eines Flugblattes der Gruppe Provos stellen Marcello Flores und Alberto De Bernardi das neue Ethos der jungen Menschen in der Zeit der Gegenkultur dar:
Non siamo figli, né padri di nessuno […] siamo uomini che non vogliono credere in niente e a nessuno: senza dio, senza famiglia, senza patria, senza religione, senza legge, senza governo, senza stato, senza polizia […]. Ecco siamo dei bastardi. (zit. nach Flores/De Bernardi, 2003: 167)
[Wir sind weder die Kinder noch die Eltern von irgendjemandem […] wir sind Menschen, die an nichts und niemanden glauben wollen: ohne Gott, ohne Familie, ohne Heimat, ohne Religion, ohne Gesetz, ohne Regierung, ohne Staat, ohne Polizei […]. Das ist es, wir sind Bastarde.]
Es war diese junge Generation, die es in den Studentenversammlungen wagte, Themen wie Scheidung, voreheliche sexuelle Beziehungen, Pille und Abtreibung anzusprechen. Dies waren Themen, die die Gesellschaft provozierten und herausforderten – eine Gesellschaft, die zwischen Katholizismus und einem unumkehrbaren Modernisierungsprozess in einer stetig stärker industrialisierten und globaleren Welt stand.11
Der »Frühling« der italienischen Jugendrevolte war zweifelsohne einer der längsten und intensivsten im Rahmen der westeuropäischen Aufbruchsbewegungen. Der Kampf der jungen Generation gegen die Repression fing mit der antiautoritären Bewegung in den Universitäten an und setzte sich allmählich für den Wandel eines politischen Systems ein, das viele als ineffizient und wenig transparent betrachteten (vgl. Borgna, 2012: 113). Die Revolte war gleichzeitig durch die Solidarität mit der Arbeiterbewegung, durch ein Bewusstsein für die Probleme der sogenannten Dritten Welt und durch die öffentliche Debatte über die Gültigkeit der katholischen Werte gekennzeichnet, die die italienische Gesellschaft prägten. Zu diesem Widerspruch eines Italiens im wirtschaftlichen Aufschwung und dennoch im Stillstand, was die Demokratisierung ihrer Strukturen betrifft, schrieben Marcello Flores und Alberto De Bernardi: Die 1968er-Bewegung war »un esito imprevisto e traumatico di una frattura sempre più profonda tra giovani e società […]« (Flores/De Bernardi, 2003: 191) [ein unvorhergesehenes und traumatisches Ereignis eines ständig zunehmenden Bruches zwischen den jungen Menschen und der Gesellschaft […]].
1.5 Öffnung vs. Beharren: die Dissidenz der jungen Spanier in den 1960er-Jahren
Wie bisher ausgeführt setzten sich Ende der 1960er-Jahre die deutschen, französischen und italienischen jungen Frauen und Männer im Kampf gegen die Repression ein, um die akademischen und politischen Institutionen transparenter und demokratischer zu machen. Die junge spanische Generation ihrerseits befand sich schon seit Langem in einem dauerhaften Kampf gegen ein autoritäres und unterdrückerisches System. Geboren nach dem Ende eines blutigen Bürgerkriegs (1936–1939), der Republikaner traditionalistischen Nationalisten gegenüberstellte, kannten diese jungen Spanier der 1960er-Jahre nichts anderes als eine militaristische, despotische und repressive Diktatur, die gewaltsam gegen alle vorging, die sich zu widersetzen wagten. Das antiparlamentarische, antiliberale und antikommunistische Regime des General Franco stützte sich seit 1939 einerseits auf eine Allianz mit der katholischen Kirche und andererseits auf ein Einparteiensystem, um das Leben der Menschen zu kontrollieren.1 Selbst nach dem Zusammenbruch des Faschismus in Deutschland und Italien am Ende des Zweiten Weltkriegs und nach dem Demokratisierungsprozess in vielen Ländern Westeuropas gab das repressive System nicht nach und blieb bis 1975, dem Todesjahr Francos, an der Macht.
Neben der politischen und ideologischen Kontrolle machte sich die autoritäre Führung des Franquismus auch im sozioökonomischen Bereich bemerkbar. Francos Beharrung auf einer Politik wirtschaftlicher Autarkie (vgl. Tosstorff, 2008: 189) brachte die spanischen Familien in den 1940er- und 1950er-Jahren in große Existenznöte. Nach der Periode von Armut, Rationierung und wirtschaftlicher Depression in der Zeit des Bürgerkriegs und des Zweiten Weltkriegs dauerten die Entbehrungen fort, verschärft durch eine Situation internationaler Isolierung.2 Während der 1950er-Jahre gab es punktuelle Anzeichen von Fortschritt dank der Kredite, die die USA dem Franco-Regime gewährten (vgl. Tusell, 2005: 156), und dank der beschränkten Grenzöffnung für Industrielle und die Bourgeoisie.3 Nutznießer dieser Fortschrittsanzeichen blieben dennoch lediglich die Geldeliten der großen Städte wie Madrid und Barcelona, die entwickelter waren als der Rest des Landes.
Der Wendepunkt von der Stagnation zum wirtschaftlichen Boom erfolgte am Ende dieser Dekade. Er wurde in erster Linie ausgelöst vom wachsenden Einfluss der mit dem Opus Dei verbundenen Technokraten in der Regierung, die Vertreter einer größeren Liberalisierung der Wirtschaft waren (vgl. Gracia/Ruiz Carnicer, 2004: 237), und nach 1959 dank des in Kraft gesetzten Stabilisierungsplanes. Dieser Plan, der Neuerungen brachte, war den (unproduktiven) Maßnahmen der Selbstversorgung entgegengesetzt, die das Regime vertreten hatte. Er begünstigte die Privatwirtschaft, belebte die Industrie und zog ausländisches Kapital an. Auf diese Weise bekam die nachfolgende Generation mehr Kaufkraft und Zugang zu den Neuerungen der Massenkultur. Außerdem gab es andere wichtige Faktoren, die den Weg für eine Veränderung der rückständigen und isolierten Agrargesellschaft in den 1960er-Jahren öffneten: das Aufkommen des Massentourismus (besonders in den Küstenregionen), die Migrationsbewegungen aus den ländlichen Gebieten in die großen Städte und die Emigration vieler Erwerbstätiger nach Frankreich, Belgien und in die Bundesrepublik. Letztere war entscheidend sowohl für Geldüberweisungen nach Spanien als auch für die Verbreitung internationaler Nachrichten aus demokratischen Ländern, die das Franco-Regime nicht mitteilte.
Es war die Erkenntnis des Widerspruchs zwischen dem Modernisierungsszenario und dem Beharren einer repressiven Politik, die den Aufruhr der jungen Generation jener Zeit ganz besonders im akademischen Milieu auslöste.4 Am Beginn der Dekade begann der Protest für die Autonomie der akademischen Strukturen hinsichtlich der Staatsorientierungen in Barcelona und sprang auf Madrid und andere Universitäten über (vgl. Gómez Oliver, 2008: 97).5 Für diese Generation war der wirtschaftliche und soziale Boom mehr als ein Vorwand, das Bildungssystem der Zeit nach dem Bürgerkrieg zu verändern. Dieses System war dem Nationalkatholizismus unterworfen und insistierte auf autoritären Konzepten wie der strikten Auswahl der Dozenten nach dem ideologischen Programm Francos (unabhängig von ihrem wissenschaftlichen Verdienst) und auf der Zwangsmitgliedschaft der Studenten in dem Sindicato Español Universitario (SEU), der einzigen vom Regime zugelassenen Studentengewerkschaft. Zwischen 1962 und 1966 gründeten die Studenten illegale Organisationen wie Federación Universitaria Democrática Española (FUDE) [Spanischer Demokratischer Studentenverband] und streikten,