Ines Gamelas

1968 in der westeuropäischen Literatur


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verstärkte die Gegenkultur den Aufruf zum Widerstand der 1968er-Generation und präsentierte sich damit als moderne Alternative zum reaktionären und traditionsverhafteten Establishment im Europa der Nachkriegszeit:

      Sovversione e protesta hanno coinvolto la sfera pubblica e quella privata, la dimensione collettiva e lo spazio individuale. Politica e musica, droga e religione, arte e sesso hanno formato per il mondo giovanile un intreccio che ha cambiato in profondo la propria vita: era inevitabile che la baby boom generation riversasse quel mutamento sull’intera società, e cercasse di farlo rapidamente e dovunque. (Flores/De Bernardi, 2003: 115; Hervorhebung im Original)

      [Subversion und Protest erreichten die öffentliche und private Sphäre, die kollektive Dimension und den persönlichen Raum. Politik und Musik, Drogen und Religion, Kunst und Sexualität verknüpften sich so auf eine Weise in der Welt der jungen Menschen, die das Leben selbst so tief veränderte: Es war unvermeidlich, dass die Baby-Boomer-Generation diese Veränderungen in die ganze Gesellschaft trug und dies schnell und überall.]

      Wie die Historiker Marcello Flores und Alberto De Bernardi im letzten Zitat aufzeigen, kannte der revolutionäre Charakter der jungen Europäer keine Grenzen. So sehr die Art Protest auszudrücken auch variierte, sie beruhte doch immer auf derselben Utopie von Veränderung. Es war diese Utopie, die die Identität der jungen Deutschen, Franzosen, Italiener, Spanier und Portugiesen am Ende der 1960er-Jahre definierte.

      Nach der Präsentation der allgemeinen historischen, politischen und soziokulturellen Umstände und Bedingungen des generation gap Westeuropas soll jetzt eine detaillierte Darbietung des »extratextuellen Kontext[es; IG]« (Danneberg, 2007: 334) folgen. Dieser Kontext liegt den Darstellungen des studentischen Aufruhrs und des Generationenkonfliktes in den einzelnen Prosawerken zugrunde und stellt den Hintergrund ihrer Narrative dar.

      1.2 Die Bundesrepublik: die Herausbildung einer Alternativkultur

      Am Anfang der 1960er-Jahre war die Bundesrepublik eine junge Republik, die erst wenig älter als eine Dekade war. Sie erlebte eine Realität, die durch eine solide Regierung und durch eine ungehemmte Kraft der Industrie geregelt wurde, angetrieben vom Wirtschaftswunder der 1950er-Jahre. Dieses Phänomen großen wirtschaftlichen Wachstums, das in den Grundsätzen der Sozialen Marktwirtschaft fundiert war (vgl. Ambrosius, 1989: 56f.), hatte direkte soziale Auswirkungen. Sie bestanden nicht nur in einem allgemeinen finanziellen Wohlstand, sondern auch im Wandel der Sitten und des Lebensstils vieler deutscher Familien, die die Gelegenheit hatten, die Annehmlichkeiten der Konsumgesellschaft zu erleben und die bürgerlichen Konzepte der »Kultur des Scheins« anzunehmen.1

      Mitte der 1960er-Jahre begann jedoch der wirtschaftliche Optimismus erste Zeichen eines Abflauens zu zeigen. Die Prognosen eines Einbruchs des ökonomischen und finanziellen Booms – und dessen unheilvollen Konsequenzen im sozialen Bereich – führten zu einer Infragestellung sowohl der kapitalistischen Grundfesten der Überflussgesellschaft als auch der politischen Realität des Landes. Rolf Uesseler beschreibt diesen historischen Wendepunkt:

      Die Bundesrepublik und die meisten westlichen Länder befanden sich Mitte der 60er Jahre in einer Situation, in der auf einmal – aus scheinbar unerfindlichen Gründen – all das nicht mehr funktionieren wollte, was bis dahin so reibungslos geklappt hatte: steigender Wohlstand, Vollbeschäftigung, Abwesenheit von Wirtschaftskrisen, allseits vorhandener moralischer Grundkonsens und somit allgemeine Zufriedenheit und ein verbindendes Wir-Gefühl. (Uesseler, 1998: 15)

      Seit dem Anfang der Ära Adenauer im Jahre 1949 war die Christlich Demokratische Union (CDU) – entweder allein oder in Koalitionen – an der Macht und seitdem bestimmte sie die Politik der Bundesrepublik der 1950er- und 1960er-Jahre. Mit dem Verfall des wirtschaftlichen Aufschwungs und dem Beginn der »ersten wirklichen Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit« (Ambrosius, 1989: 63) im Jahre 1966 wurde diese Mitterechtspartei zur Zielscheibe der Kritik. Diese Kritik kam hauptsächlich von Studenten, die entschlossen waren, einen Protest, den Knut Hickethier als »Protest gegen den CDU-Staat« bezeichnete, in Angriff zu nehmen: »[ein Staat; IG], den man nicht nur als vermufft und angestaubt, sondern auch als zu wenig offen, zu wenig weltläufig und zu wenig modern fand« (Hickethier, 2003: 19). Die Proteststimmung wuchs Ende 1966 mit der Entstehung einer neuen Koalitionsregierung aus den beiden größten Parteien der Bundesrepublik: die Christlich Demokratische Union (CDU) und die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD). Diese »Große Koalition«, als die sie damals bekannt wurde, wurde zu einem Symbol der Verständigung zwischen zwei politischen Parteien, die ursprünglich unterschiedliche Ideologien und Perspektiven für die Regierungsarbeit hatten. Mit ihrer Bildung wurde jedoch zugleich auch ein Problem geschaffen, denn dadurch fehlte im Parlament gegenüber der absoluten Mehrheit eine tatsächliche Opposition. Dieses einheitliche politische Bild rief auch außerhalb des Parlaments Oppositionsbewegungen hervor. Die bedeutendste war die Außerparlamentarische Opposition (APO), eine Bürger- und Studenteninitiative, die zusammen mit dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) in den Universitäten die Avantgarde der soziopolitischen Alternative bildete.2

      Es war in diesem aufgeladenen Kontext, dass im Sommer 1967 anlässlich des Schahbesuchs ein Ereignis stattfand, das den Auslöser für die deutsche Studentenbewegung bildete: der Tod des Studenten Benno Ohnesorg. Ohne Vorwarnung wurde Ohnesorg am 2. Juni von der Polizei erschossen, als er an einer vom SDS organisierten Demonstration persischer und deutscher Studenten teilnahm.3 Seine Tötung führte zu einer beispiellosen Protestwelle (vgl. Klimke, 2008: 97): Studenten, Intellektuelle und Kritiker des Establishments drückten ihre Missbilligung der Brutalität des Polizeiansatzes aus und nahmen an großen Demonstrationen teil, die 1967 und 1968 in vielen Universitätsstädten der Bundesrepublik stattfanden.

      Im Prozess der Mobilisierung der jungen Generation für mehr Teilhabe am politischen Leben muss die Rolle des Sozialistischen Deutschen Studentenbunds (SDS) hervorgehoben werden. Unter der Führung von Rudi Dutschke, der Hauptfigur der westdeutschen Studentenrevolte bis zu dem Moment eines Attentatsversuchs auf ihn im April 1968, orientierte sich der SDS an sozialistischen und marxistischen Leitlinien. Sie sollten zu einer radikalen Umgestaltung der Gesellschaft führen, und zwar durch Sichtbarmachung der repressiven Züge im Bildungswesen, im soziopolitischen Bereich und auch in den Familien.4 Aus der Perspektive der jungen Protestler, die das sogenannte Dritte Reich entweder überhaupt nicht oder nur in der Kindheit erlebt hatten, fehlte der Bundesrepublik sowohl eine Demokratisierung als auch ein Auseinandersetzen mit der NS-Vergangenheit, die sie vom »Muff der 1000 Jahre« (zit. nach Kraushaar, 2000: 196) des Nationalsozialismus befreien konnte.5 Aus diesem Grund beharrte der SDS darauf, dass die unantastbare Autorität der Hochschullehrenden abgeschafft wurde. Dagegen und wegen drängender politischer Themen wie der Besuch des Schahs und die umstrittenen Notstandsgesetze organisierte er Demonstrationen.6

      Im Rahmen des Kampfes für die freie Meinungsäußerung protestierten die Studenten dabei vor allem gegen die Springer-Presse, den übermächtigen Zeitungskonzern, der ihrer Meinung nach die Wahrhaftigkeit und die Unabhängigkeit eines Informationsmediums verstieß (vgl. Frei, 2008: 124). Am Ende der 1960er-Jahre war die Berichterstattung traditionell konservativer Zeitungen dieses Verlags durch den Stil der sensationslüsternen Klatschpresse geprägt. Unter ihnen stach besonders die auflagenstarke Bild-Zeitung hervor, die die Proteste der jungen Generation öffentlich diskreditierte und das Vorgehen der Autoritäten gegen die sogenannten »Rebellen«, d.h. gegen die Studenten und die Kritiker der gegenwärtigen Politik, unterstützte. Daher ist es nicht verwunderlich, dass die Kampagne des SDS gegen den Springerkonzern Erfolg bei den jungen Menschen hatte, die in den großen Städten wie Berlin, Hamburg oder München vor den Redaktionen und Verlagstoren demonstrierten, um die Auslieferung und den Verkauf der Bild-Zeitung zu verhindern.7

      Neben der Kritik an der Innenpolitik war der Vernichtungskrieg der USA gegen die Guerillakämpfer der Vietcong der Hauptgrund für das internationale Engagement der deutschen Studentenbewegung (vgl. Dahmer, 1998: 25).8 In den 1960er-Jahren diskutierten und kritisierten die jungen Leute zentrale Ereignisse wie den Bau der Berliner Mauer und die Kubakrise zwar schon fernab eines einfachen, polarisierenden Ost-West-Gegensatzes, der ausschließlich zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und der Sowjetunion existierte.9 Jedoch wurde mit dem Vietnamkrieg der Ton der Kritik gegen die Legitimation der Großmächte, sich in innere Angelegenheiten der sogenannten