284f.).7 In den zwei darauffolgenden Jahrzehnten gibt es mit der Ausnahme von Ralf Schnell – der in einem kurzen Unterkapitel in seinen Literaturgeschichten nach 1945 über die literarisierte Revolte schrieb; vgl. Die Literatur der Bundesrepublik: Autoren, Geschichte, Literaturbetrieb (1986): 284–288 und Geschichte der deutschsprachigen Literatur seit 1945 (1993): 420–4248 – nur wenige Untersuchungen über den Widerhall der Studentenrevolte in der bundesdeutschen Literatur. Dennoch gibt es fünf umfassende Studien, die Werke verschiedener deutscher Autoren vergleichend analysieren.9 Die erste, von Keith Bullivant verfasst und betitelt Realism Today. Aspects of the Contemporary West German Novel (1987), befasst sich mit Texten, die die Erfahrungen der jungen Menschen während der Unruhen am Ende der 1960er-Jahre im Rahmen der »Neuen Subjektivität« oder »Neuen Innerlichkeit« in den Vordergrund rücken. Die zweite ist die Dissertation des polnischen Germanisten Andrezej Talarczyk, der 1988 an der Universität Stettin mit der Arbeit Die Studentenbewegung als Thema der Literatur der BRD promovierte.10 Eine weitere Studie, Der poetische Mensch im Schatten der Utopie: Zur politisch-weltanschaulichen Idee der 68’er Studentenbewegung und deren Auswirkung auf die Literatur (1990) von Alois Prinz, beschäftigt sich mit der Frage der Utopie, die sich durch die Prosawerke über die Studentenbewegung von Peter Schneider und Uwe Timm sowie durch Nicolas Borns Die erdabgewandte Seite der Geschichte (1976) zieht. In Politisierung der Literatur – Ästhetisierung der Politik (1992) konzentriert sich Martin Hubert auf Heißer Sommer, Lenz und Die Reise (1977) von Bernward Vesper. Zwei Jahre später wird das Buch Abschied von der Revolte: Studien zur deutschsprachigen Literatur der siebziger Jahre (1994) veröffentlicht. Ingeborg Gerlach analysiert darin Texte von Autoren wie Karin Struck, Peter Schneider, Uwe Timm und Peter-Paul Zahl (unter anderen) und ordnet sie der »Neuen Subjektivität« zu.
Abgesehen von diesen Studien ist das Interesse der Germanisten an der literarisierten Revolte bis zum Ende der 1990er-Jahre gering ausgeprägt. Erst zu Beginn des 21. Jahrhunderts nimmt es wieder zu.11 Ingo Cornils ist einer der Forscher, die sich dieser Thematik am intensivsten gewidmet haben. Von besonderer Bedeutung sind ›(Un-)erfüllte Wirklichkeit‹. Neue Studien zu Uwe Timms Werk (2006) – eine zusammen mit Frank Finlay herausgegebene Sammlung, die sich ausschließlich mit dem Werk von Uwe Timm befasst – und Writing the Revolution: The Construction of ‹1968› in Germany (2016).12 Susanne Rinner ist eine weitere wichtige Forscherin. In ihrem Aufsatz »From Student Movement to the Generation of 1968: Generational Conflicts in German Novels from the 1970s and the 1990s« (2010) analysiert sie die deutsche Studentenrevolte der 1960er-Jahre in Lenz und Heißer Sommer und untersucht sie diese vergleichend mit späteren Werken der beiden Autoren. Diese komparatistische Gegenüberstellung wird in der Studie The German Student Movement and the Literary Imagination: Transnational Memories of Protest and Dissent (2013) wieder aufgenommen und erstreckt sich mithilfe eines literatur- und kulturwissenschaftlichen Ansatzes auf Texte von Peter Schneider, Uwe Timm, Bernhard Schlink, Ulrike Kolb, Irmtraud Morgner und Emine Sevgi Özdamar.13
Dazu gibt es umfassende Veröffentlichungen über einzelne deutsche Autoren der 1968er-Generation (vgl. Rinner, 2010: 139). Besonders Peter Schneider und Uwe Timm, die wichtigsten Vertreter dieser Autorengeneration (vgl. ebd.: 141), haben die Aufmerksamkeit der Literaturwissenschaftler auf sich gezogen. Hervorzuheben sind Peter Schneiders Erzählung ›Lenz‹: Zur Entstehung eines Kultbuches. Eine Fallstudie (1997) – eine umfassende Analyse der Erzählung Lenz von Markus Meik –, Zwischen Dableiben und Verschwinden: Zur Kontinuität im Werk von Peter Schneider (2006) von Petra Platen und drei Studien über das Gesamtwerk von Uwe Timm zur Studentenbewegung: Die 68er-Revolte im Werk von Uwe Timm (2009) von Sabine Weisz, (Ent-)Mythologisierung deutscher Geschichte: Uwe Timms narrative Ästhetik (2012) von Kerstin Germer und ›Erinnern führt ins Innere‹: Erinnerung und Identität bei Uwe Timm (2015) von Simone Christina Nicklas. Obwohl keine dieser Studien sich ausschließlich auf die Darstellung des Generationenkonfliktes und des akademischen Aufruhrs konzentriert, wie es in dieser Arbeit geschehen soll, dienen sie als Analysehilfe bei meiner Untersuchung von Lenz und Heißer Sommer.
Was den literarischen und kulturellen Raum Frankreichs betrifft, ist die Zahl der Publikationen deutlich geringer und konzentriert sich fast ausschließlich auf die literarische Verarbeitung der Ereignisse vom Mai 68. Patrick Combes war der erste, der eine umfassendere Studie über die Fiktionalisierung der 1968er-Revolte in der französischen Literatur veröffentlichte: Littérature & le mouvement de Mai 68. Écriture, mythes, critique, écrivains 1968–1981 (1984), in der er ungefähr fünfzig Werke (vor allem Romane) über den Mai 68 und die Erfahrungen bei den Jugendprotesten am Ende der 1960er-Jahre identifiziert. Sowohl in dieser als auch in einer weiteren Studie, 2008 veröffentlicht und betitelt Mai 68, les écrivains, la littérature, hebt Combes den Roman Derrière la vitre von Robert Merle hervor. Auch Ingrid Eichelberg, eine deutsche Romanistin, beschäftigte sich in den 1980er-Jahren mit der französischen Studentenrevolte und den Ereignissen vom Mai 68 in der Literatur und veröffentlichte drei Studien dazu: Mai ’68 in der Literatur. Die Suche nach menschlichem Glück in einer besseren Gesellschaft (1987),14 Mai 1968: une crise de la civilisation française; anthologie critique de documents politiques et littéraires (1986) und L’écriture de Mai 68 (1987), die zwei letzten auf Französisch geschrieben zusammen mit Wolfgang Drost. Margaret Attack beschäftigte sich in May 68 in French Fiction and Film: Rethinking Society, Rethinking Representation (1999) auch mit dem Roman von Robert Merle, den sie damals für den berühmtesten über den Mai 68 hielt (vgl. Attack, 1999: 33). Die Lektüre dieser Studien bestärkte meine Entscheidung für Derrière la vitre, einen Roman, der erst in den letzten Jahren eine größere Aufmerksamkeit der Forschung erlangte.15
In Italien gibt es wenige Publikationen über italienische Autoren, die den Aufruhr von 1968 und die Protestkultur der jungen Menschen in Literatur verwandelten, und noch weniger sind die, die das Werk Giorgio Cesaranos erwähnen, eines wenig bekannten Schriftstellers. Unter denen, die sich dem literarischen Schaffen zu 1968 in Italien widmen und die I giorni del dissenso unter den Werken der 1960er- und 1970er-Jahre hervorheben, die sich mit der Studentenbewegung und dem akademischen Aufruhr beschäftigen, gehören besonders: Linea rossa: Intellettuali, letteratura e lotta di classe, 1965–1975 (1982) und der Sammelband Cercando il ’68. Documenti, cronache, analisi, memorie (2012), beide von Giampaolo Borghello, Letteratura italiana d’oggi, 1965–1985 (1987) von Giuliano Manacorda und der Aufsatz »Il percorso letterario di Giorgio Cesarano« (2011) von Giorgio Luzzi.
Ähnlich ist es mit der Forschung zum Werk von José María Gironella in Spanien, besonders zum Roman Condenados a vivir. Die einzige Ausnahme scheint die Doktorarbeit von Pedro Fernandez-Blanco mit dem Titel José María Gironella, romancier témoin de son époque (1985) zu sein, in der er die Figuren und die Themen in jedem einzelnen Roman des umfangreichen Gesamtwerkes von Gironella analysiert. In der vorliegenden Arbeit werde ich diese Studien gelegentlich erwähnen und heranziehen und zugleich versuchen, nicht nur neue Wege der Forschung zu den Werken Cesaranos und Gironellas zu eröffnen, sondern auch die Relevanz dieser zwei Autoren für die literarische Behandlung der Studentenunruhen und des Generationenkonfliktes in Italien und Spanien hervorzuheben.
Was die Analyse des Romans von Abelaira betrifft, ist die Aufgabe, die ich mir vorgenommen habe, identisch. Von den wenigen vorhandenen Studien über Sem Tecto, entre Ruínas wird deutlich, dass sie den Roman nur aus der Sicht der Elterngeneration untersuchen und die junge Generation und ihren Willen nach Veränderung nicht beachten. Publikationen wie »Augusto Abelaira: a Palha e o Resto« (1986), Um Romance de Impoder. A Paragem da História na Ficção Portuguesa Contemporânea (1994) – beide von Luís Mourão –, Entre a Utopia e o Apocalipse: Augusto Abelaira e o Fim da História (2003) von Carlos Machado sowie Imagens Líquidas na Obra de Augusto Abelaira: Sujeito e História na Pós-Modernidade (2007) und »De Brandão a Abelaira: um tempo de desesperança« (2008) von Edimara Luciana Sartori untersuchen vor allem die Darstellungen von Machtlosigkeit, Trägheit und Verzweiflung, die sich in Sem Tecto, entre Ruínas im Zusammenhang mit der älteren Generation finden lassen.
Nach diesem ersten Forschungsüberblick sollen die in dieser Arbeit angewandten theoretischen und methodologischen