eine Untersuchung der literarischen Darstellungen der Studentenunruhen und des Generationenbruchs sowie der soziokulturellen und politischen Spaltungen jener Epoche. Der Begriff literarisierte Revolte, der von Ralf Schnell geprägt wurde, erscheint zum ersten Mal im Band Literatur der Bundesrepublik: Autoren, Geschichte, Literaturbetrieb (1986). Schnell identifiziert eine Reihe von Texten (vor allem Romane und Erzählungen), die die politischen und soziokulturellen Ereignisse der Studentenbewegung von 1968 in der Bundesrepublik zum Thema der Literatur machen (vgl. Schnell, 2003: 388f.). In meiner Arbeit wird dieser Begriff im weiteren Sinne verwendet, da er über die Grenzen der deutschen Literatur hinausgeht und für Prosawerke aus Westeuropa gilt, die ebenfalls die Protestkultur, die Studentenrevolte und den Generationenkonflikt am Ende der 1960er-Jahre fiktionalisieren. Indem das Konzept der literarisierten Revolte erweitert wird, werden die Gemeinsamkeiten und Einzelheiten, wie auch die Unterschiede und Ähnlichkeiten der Darstellung des Generationenkonfliktes und der akademischen Unruhen in den Texten der deutschen, französischen, italienischen, spanischen und portugiesischen Literatur erforscht.
Der komparatistische Ansatz fokussiert die literarische Behandlung verschiedener Fragen, die alle Texte durchziehen. Unter diesen Fragen sind besonders relevant: die Zeichen von Bruch und Spaltung, die die Beziehung zwischen den Generationen in den 1960er-Jahren prägen; der politische Aktivismus der jungen Menschen und ihr Wille, die Gesellschaft zu verändern; das Ausleben der sexuellen Revolution; und schließlich die narrativen Optionen bei dem Aufbau der Erzählung, die eher die Fiktionalisierung der turbulenten Zeiten vor und nach 1968 oder eher die Reflexion über diese Zeiten in den Vordergrund stellen. In dieser komparatistischen Gegenüberstellung werden ebenfalls die Erzählstrategien im Hinblick auf die Erzählsituationen, den narrativen Aufbau und den Diskurs betrachtet.
Bevor ich die Auswahlkriterien des literarischen Korpus dieser Arbeit erkläre, werde ich kurz die Gründe nennen, die zum Ausschluss der in den Staaten des Warschauer Paktes veröffentlichten Texte aus dieser Zeit geführt haben. Der erste Grund liegt in meinen Kenntnissen von Fremdsprachen: Da ich die Sprachen dieser Länder nicht beherrsche, wäre es unmöglich gewesen, jene Texte – und die entsprechende Sekundärliteratur – im Original zu lesen. Der zweite Grund liegt in der politischen Lage. Unbestreitbar erlebten auch einige der Staaten des kommunistischen Lagers wie Ungarn, Polen und die Tschechoslowakei im Jahre 1968 einen sogenannten Frühling der Jugendrevolte, mit Zusammenstößen zwischen Studenten und den Ordnungskräften. Dennoch war die Lebenswirklichkeit in diesen Ländern eine andere als in der Mehrzahl der westeuropäischen Länder. Die deutlichen Unterschiede in der Geschichte, Politik und Kultur der Länder des Warschauer Paktes und Westeuropas in den Zeiten des Kalten Krieges würden eine eigene Untersuchung erfordern.
Selbst im westeuropäischen Raum gibt es große Variationen in der literarischen Verarbeitung der Studentenrevolte. Als deutlichstes Beispiel dafür sei Großbritannien genannt. Auch in die englische Literatur fanden die Studentenunruhen von 1968 Eingang, vor allem in campus novels wie Changing Places (1975) von David Lodge und The History Man (1975) von Malcom Bradbury.3 Aber der satirische Blick dieser und anderer englischer Romane auf die akademische Welt und auf die Studentenbewegung (vgl. Moseley, 2007: 110) ist weit entfernt von der vorherrschenden engagierten Orientierung der Erzählprosa Kontinentaleuropas. Aus diesem Grund wird die englische Literatur in dieser Studie nicht berücksichtigt.
Für die Auswahl jedes Werkes in das Textkorpus dieser Arbeit gab es diverse Kriterien. Das Hauptkriterium liegt in der Zentralität des Generationenkonfliktes und des von der jungen Generation angeführten akademischen und politischen Aufruhrs in der Diegese jedes Werkes. Außer diesem Kriterium sei bemerkt, dass nur zwischen 1968 und Anfang der 1970er-Jahre verfasste Werke ausgewählt wurden. Daher sind alle behandelten Werke gleich 1968, also noch im Jahr der Studentenrevolte, oder einige Jahre später geschrieben.4 Diese zeitliche Eingrenzung zielt darauf ab, einen Vergleich der Verarbeitung des Generationenkonfliktes und der Studentenrevolte zu ermöglichen, der die zeitliche Nähe des Verfassens der Texte zu den Ereignissen von 1968 mitberücksichtigt. So fiel die Wahl auf die folgenden Werke: Lenz (1973) von Peter Schneider, Heißer Sommer (1974) von Uwe Timm, Derrière la vitre (1970) [Hinter Glas] von Robert Merle, I giorni del dissenso (1968) [Die Tage des Dissenses] von Giorgio Cesarano, Condenados a vivir (1971) [Zum Leben verurteilt] von José María Gironella und Sem Tecto, entre Ruínas (1979) [Ohne Dach, zwischen Ruinen] von Augusto Abelaira.5
Gemeinsamkeiten in den Biographien oder in der literarischen Laufbahn der Autoren und ihrer Werke boten sich auch für die Analyse als interessant an, waren aber kein ausschlaggebendes Auswahlkriterium. Nachdem sie Ende der 1960er-Jahre als Studenten aktiv an der Studentenbewegung in Westdeutschland beteiligt waren, veröffentlichten Peter Schneider und Uwe Timm mit Lenz und Heißer Sommer zwei Werke, die die Studentenrevolte literarisch verarbeiten und in denen sich einige autobiographische Spuren ihrer Erlebnisse im Widerstand finden. Giorgio Cesarano und Augusto Abelaira waren am Ende der 1960er-Jahre schon ältere Autoren, beide in ihren Vierzigern und mit mehreren Veröffentlichungen. Sie verfolgten aufmerksam die Proteste der jungen Menschen in Italien, in Portugal und auch in ganz Westeuropa. Das war auch der Fall von José María Gironella, zu der Zeit schon über fünfzig, und Robert Merle mit über sechzig, zwei Schriftsteller mit einer etablierten literarischen Karriere. Trotz der Altersunterschiede ist ihnen jedoch allen gemeinsam eine mehr oder weniger sichtbare Sympathie mit den Idealen der politischen Linken (die einzige Ausnahme ist der spanische Autor) und das Interesse, die zeitgeschichtlichen Ereignisse in die Literatur zu tragen. Darüber hinaus teilen sie eine literarische Grundeinstellung, die von einem auffallenden historischen Bewusstsein und von der Verbindung der Literatur mit der Gesellschaft gekennzeichnet ist.
Wie zu bemerken ist, umfasst das Textkorpus dieser Arbeit wenigstens jeweils ein Werk der analysierten literarisch-kulturellen Räume. Der Grund für die stärkere Präsenz deutscher Werke liegt im besonders häufigen Vorkommen der literarisierten Revolte in der deutschsprachigen Literatur. Obwohl die Jugendrevolte in Europa am Ende der 1960er-Jahre (und Anfang der 1970er-Jahre) sich quer durch viele Länder zieht, hat ihre literarische Verarbeitung mehr Bedeutung im deutschen Raum, wo die Anzahl von Werken, die sich diesem Thema widmen, ungleich größer ist als in den anderen Literaturen Westeuropas. Mit Lenz und Heißer Sommer wurden zwei Werke ausgewählt, die von der Kritik als die repräsentativsten Texte der literarisierten Revolte in der Bundesrepublik angesehen werden (vgl. Cornils, 2000: 116). Außerdem ergänzen sich beide Texte auf gewisse Weise im Hinblick auf die fiktionale Darstellung der 1968er-Zeit (vgl. Götze, 1981: 379; Rinner, 2013: 36). Von den französischen Romanen, die gleich nach 1968 die diversen Facetten der Studentenbewegung und die Erfahrungen der jungen Aktivisten während des Mai 68 in Frankreich verarbeitet haben, ist Derrière la vitre der einzige, der bei der Fiktionalisierung der Revolte das universitäre Milieu betont (vgl. Combes, 1984: 148; Combes, 2008: 161; Eichelberg, 1987: 23). Für Italien fiel die Wahl auf I giorni del dissenso von Giorgio Cesarano, eines der wenigen Beispiele der italienischen Literatur, das die Universitätsrevolte von 1968 in Mailand herausstellt. In Spanien und in Portugal sind Condenados a vivir und Sem Tecto, entre Ruínas Einzelfälle von Werken, die noch in den 1970er-Jahren die Atmosphäre des Widerstands der jungen Generation in die Literatur einfließen lassen. Sie stellen nicht die Proteste und die Stimmung des Aufruhrs in den Universitäten in den Mittelpunkt, sondern eher den Generationenkonflikt und die unterschiedlichen Weltsichten von Eltern und Kindern in der spanischen und portugiesischen Gesellschaft der 1960er-Jahre.
Bis heute wurde noch keine vergleichende Studie zur literarischen Bearbeitung der Studentenunruhen und der Generationenkonflikte in den 1960er-Jahren in Westeuropa durchgeführt, die mehrere Werke aus verschiedenen nationalen Literaturen betrachtet. Auch sonst gibt es nur wenige literaturwissenschaftliche Studien zu diesem Thema.6 Darüber hinaus beziehen sich die wenigen diesbezüglichen Veröffentlichungen auf einen einzelnen literarischen Raum und beschränken sich in der Regel auf die Analyse eines einzigen Werkes. Im Folgenden wird die wichtigste Sekundärliteratur vorgestellt, die sich mit den in dieser Arbeit untersuchten Prosawerken befasst.
Die meisten Studien über Werke und Autoren der 1968er-Jugendrevolte sind bislang in Deutschland erschienen. Die Aufmerksamkeit der Germanistik begann in den 1970er-Jahren, kurz nach dem Erscheinen von