Ines Gamelas

1968 in der westeuropäischen Literatur


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folgt die Einführung in jedes einzelne Werk. Nach der kurzen geschichtlichen und literarischen Einordnung der ausgewählten Texte liegt der Fokus auf den Erzählstrategien sowie auf Aspekten wie der Verknüpfung der Fiktion mit der Zeitgeschichte und den Wahrnehmungen der akademischen Unruhen und der Revolte gegen das Establishment auf öffentlicher und privater Ebene. Diese Einführung der unterschiedlichen Texte dient dazu, das Hauptkapitel dieser Arbeit vorzubereiten, d.h. das dritte Kapitel, das dem Vergleich der Darstellungen des Generationenkonfliktes und des akademischen, politischen und soziokulturellen Aufstands gewidmet ist.

      Im dritten Kapitel erfolgt eine systematische Gegenüberstellung der ausgewählten Werke, wobei relevante Fragen, die alle Texte durchziehen, hervorgehoben werden (siehe S. 15). Zunächst werden die Profile der Generation der Eltern und der Kinder verglichen und dabei die Differenzierungen des Generationenkonfliktes analysiert. Die beiden folgenden Unterkapitel leiten über zum Vergleich der Darstellungen der Jugend, indem zwei grundlegende Fragen untersucht werden: die Frage des politischen Aktivismus der jungen Generation und die der sexuellen Befreiung und der Revolution der Sitten in den 1960er-Jahren. Im vierten und letzten Unterkapitel wird versucht, die Strategien bei dem Aufbau der Erzählung einander vergleichend gegenüberzustellen, besonders was die Aktion – meistens mit den Studentenunruhen und dem Bruch der jungen Menschen mit dem Establishment verbunden – oder was die Reflexion über die Zeit des Wandels betrifft. Die Erforschung all dieser Fragen mittels einer vergleichenden kulturwissenschaftlichen Lektüre dient der Untersuchung der Berührungspunkte und der Divergenzen in den verschiedenen literarischen Bearbeitungen der Atmosphäre von Bruch und Spaltung am Ende der 1960er-Jahre.

      Dadurch dass die vorliegende Arbeit fünf literarische Räume untersucht, wird die Erforschung der interliterarischen und interkulturellen Beziehungen der literarisierten Revolte in einem größeren internationalen Maßstab weiter vorangetrieben. Ich hoffe, dass diese transnationale Perspektivierung neue Sichtweisen für eine vergleichende Lektüre von Schlüsseltexten der deutschen, französischen, italienischen, spanischen und portugiesischen Literatur eröffnet, die durch den Generationenkonflikt und die akademischen, politischen und soziokulturellen Unruhen in Westeuropa am Ende der 1960er-Jahre verbunden sind.

      1 Historischer und kultureller Rahmen der akademischen Unruhen und des Generationenkonfliktes der 1960er-Jahre in Westeuropa

      Die Zeit der akademischen Unruhen und des Generationenkonfliktes am Ende der 1960er-Jahre ist ein zentraler Aspekt der Diegese jedes der in dieser Arbeit analysierten Prosawerke. Die geschichtlichen Ereignisse des Jugendprotestes gegen das Establishment sind nicht nur miteinander im Erzählfaden verwoben, sondern sie spielen auch eine Hauptrolle für das Verhalten, die Mentalität und den Lebenslauf der verschiedenen Figuren in jedem Text. Seien sie durch aktivistische Überzeugungen bedingt oder lediglich durch Neugier, die Ereignisse der sogenannten »Neuen Zeiten« zu begleiten, bleiben viele der jungen und nicht mehr jungen Figuren nicht unbetroffen von den Vorkommnissen jener Epoche und fühlen das Bedürfnis, die nationale und internationale Wirklichkeit auf eine kritische Weise zu lesen.

      Da die Darstellung des Generationenkonfliktes und der ideologischen Brüche in der Handlung jedes Prosatextes über die nationalen Grenzen hinausgeht und sich nicht allein auf die Unruhen des Jahres 1968 beschränkt, ist es notwendig, die verschiedenen ökonomischen, soziopolitischen und kulturellen Faktoren der 1960er-Jahre zu berücksichtigen. Durch den supranationalen Charakter dieser Faktoren können die Gemeinsamkeit der Erfahrungen, die die junge Generation der roaring sixties überall in den unterschiedlichen Ländern in Westeuropa erlebte, besser hervorgehoben werden. In diesem Kapitel wird somit eine historische, politische und soziokulturelle Darstellung vorgenommen, die sich sowohl auf einen transnationalen als auch auf einen zeitlich breiter angelegten Rahmen bezieht. Ihr Ziel ist es, die Vorläufer dieses Jahres des Aufruhrs sowie einige der Konsequenzen der Zeit danach zu erörtern.1 Angesichts der Besonderheiten der Herkunftsländer der einzelnen Prosawerke wird auch eine ausführliche Schilderung der landesspezifischen historischen Ereignisse gegeben. Diese soll die Entstehung und die Entwicklung der Studentenbewegung und des Generationenkonfliktes der 1960er-Jahre in der Bundesrepublik Deutschland, in Frankreich, Italien, Spanien und Portugal verdeutlichen.

      1.1 Das soziokulturelle Brodeln im Westeuropa der späten 1960er-Jahre

      Die 1968er-Studentenbewegung und die Protestkultur der jungen Generation am Ende der 1960er-Jahre nahmen weltweit eine einzigartige Gestalt an und wurden somit zur »ersten globalen Revolte« (Kraushaar, 2000: 19) nach dem Zweiten Weltkrieg.1 Die Vielzahl der Protestorte, die Originalität der Protestaktionen und die Intensität der Unruhen sind prägende Zeichen der 1968er-Studentenbewegung. Sie erreichte ihren symbolischen Höhepunkt 1968, das als Schlüsseljahr des Aufruhrs bekannt wurde (vgl. Marwick, 1998: 585). 1968 war nicht nur für den Protest gegen die etablierten Werte entscheidend, sondern gab auch ein Zeichen für eine einzigartige soziokulturelle Wende der westlichen Welt. Provokation, Konfrontation und Widerstand internationalisierten sich und verwandelten sich in Parolen der jungen Menschen. Sie gaben der erneuernden Geisteshaltung Ausdruck, die eine ganze Generation zusammengebracht hat. Wie Mark Kurlansky in 1968: The year that rocked the world (2004) schreibt:

      What was unique about 1968 was that people were rebelling over disparate issues and had in common only that desire to rebel, ideas about how to do it, a sense of alienation from the established order, and a profound distaste for authoritarianism in any form. […] The rebels rejected most institutions, political leaders, and political parties. (Kurlansky, 2004: xvii)

      Diese »Rebellen« waren vorwiegend junge Menschen in ihren Zwanzigern, hauptsächlich Studenten, deren Familien meist der Mittel- und Oberschicht angehörten und die sich als Kraft politischer und soziokultureller Veränderung behaupten wollten, indem sie sich von den etablierten Weltanschauungen, Lebensstilen wie auch von den verschiedenen Formen, in Gemeinschaft zu sein, zu unterscheiden beabsichtigten. Diese jungen Protestler der 1960er-Jahre gehörten zwar verschiedenen Ländern mit unterschiedlichen soziokulturellen Wirklichkeiten an und hatten daher auch landesspezifische Protestziele. Aber der Wille, die Gesellschaft zu verändern und mit dem Status quo zu brechen, vereinte die junge Generation auf der Suche nach einer Utopie von transnationalem Wandel. Die Grenzen jedes Landes überschreitend hat sich diese Utopie teils latenter, teils offenkundiger in vielen westeuropäischen Ländern verbreitet.2 Trotz der bestehenden Divergenzen in den politischen Systemen wurde der Kampf der Aktivisten überall spürbar, sowohl in den demokratischen Gesellschaften als auch in Ländern, die sich in Westeuropa noch unter dem diktatorischen Joch befanden – was der Fall in Spanien und Portugal war. In der Sichtweise der europäischen Protestler basierte das Hauptproblem auf der Diskrepanz zwischen der Realpolitik, die von ihnen als dysphorisch wahrgenommen wurde, und dem Bild von Ruhe und Wohlstand, welches durch die Regierung verbreitet wurde. Ende der 1960er-Jahre waren die Bundesrepublik, Frankreich und Italien – zusammen mit dem Vereinigten Königreich – die am höchsten entwickelten Ökonomien in Westeuropa. Sie alle wurden von Verfechtern des Kapitalismus und konservativen Regierungen, parlamentarischen Mehrheiten oder großen Koalitionen geführt, so dass die rebellierenden Studenten sie als autoritär, manipulierend und desinteressiert an der Schaffung von Alternativen kritisierten. Selbst im totalitären Spanien und Portugal hatte sich dieses Bild von friedlichen und wohlhabenden Ländern verbreitet. Hier jedoch war der Begriff, den die jungen Menschen von Propaganda und Manipulation hatten, ein ganz anderer und trotz der Repression demonstrierten sie und organisierten verschiedene Protestaktionen gegen die herrschenden Regime.3

      Diese gemeinsame Widerstandsbereitschaft kennzeichnet wiederum die ideologische und soziokulturelle Generationenspaltung jener Zeit. Für die jungen Menschen repräsentierte die ältere Generation real und symbolisch die herrschende Ordnung, die von bürgerlichen, traditionellen und konservativen Vorstellungen geleitet wurde. Sie sahen in dieser Ordnung eine Kultur der Oberflächlichkeit und des Scheins, die sie beenden wollten, und profilierten sich als Verteidiger einer Erneuerung. Ihr Ziel war es, eine neue Welt zu erbauen, eine Welt, die auf Kreativität, Freiheit und auch auf politischem und gesellschaftlichem Engagement beruht. Diese neue Ordnung predigte das Ende des West-Ost-Konfliktes des Kalten Krieges und somit eine gerechtere und humanere globale Gesellschaft. Wie Rudi Dutschke, einer der Anführer der westdeutschen Studentenbewegung am