Ines Gamelas

1968 in der westeuropäischen Literatur


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und der soziopolitischen Unruhen von 1968 konzentriert, stützt sich meine Studie der ausgewählten Prosawerke auf einen vergleichenden kulturwissenschaftlichen Ansatz.

      Die gegenwärtige Methodologie zur Untersuchung literarischer Werke mithilfe eines kulturwissenschaftlichen Ansatzes beruht auf dem Konzept der Interdisziplinarität. Die kulturwissenschaftliche Neuorientierung der Literaturwissenschaft wird von immer mehr Forschern der Anglistik, Germanistik und Romanistik umgesetzt – besonders im Bereich der Untersuchungen, die einen vergleichenden Zweck haben (vgl. Nünning/Sommer, 2004: 9) – mit dem Ziel, den sprachenübergreifenden und interdisziplinären Dialog zu verstärken.16 Im Sammelband Kulturwissenschaftliche Literaturwissenschaft (2004) stellen Ansgar Nünning und Roy Sommer fest, dass eine kulturwissenschaftliche Literaturwissenschaft nicht nur ihre Berechtigung hat, sondern auch von großer Bedeutung in der Gegenwart ist, indem sie erlaubt, das Wertesystem, die Normen und Perspektiven sowie die Kollektivvorstellungen zu untersuchen, die sich in literarischen Texten zeigen (vgl. ebd.: 19).17 Die kulturwissenschaftliche Literaturwissenschaft bedeutet keineswegs, die in der Literatur- und in der Kulturwissenschaft vorhandenen Analyseparadigmen außer Acht zu lassen. Im Gegenteil: Was Ansgar Nünning und Roy Sommer als »einen neuen Diskurs« (ebd.: 10) der Annäherung von Literatur- und Kulturwissenschaft bezeichnen, das berücksichtigt die Besonderheiten beider Disziplinen. Auf diese Weise werden die in dieser Arbeit analysierten Werke in ihrer Qualität als kulturelle Dokumente und als literarische Texte verstanden. Es wird angestrebt, auf ihre Singularität zu achten, die unbestreitbar durch die Fiktionalität und durch einen einzigartigen semiotischen Charakter geprägt ist.

      Im Rahmen dieser theoretischen und methodologischen Ausrichtung muss der Beitrag von Doris Bachmann-Medick erwähnt werden, die die »Hybridisierung« bei der Analyse literarischer Texte verteidigt (vgl. Bachmann-Medick, 2004: 156) und die sich dabei Analyseinstrumente anderer Disziplinen der Sozial- und Geisteswissenschaften bedient.18 Dennoch soll diese »Hybridisierung« die Vorgehensweise jeder einzelnen Disziplin nicht in Frage stellen. Für den konkreten Fall der Literaturwissenschaft bemerkt die Autorin, dass nur eine kulturwissenschaftliche Sichtweise, die die Eigenart des jeweiligen literarischen Textes berücksichtigt, dazu beitragen könne, die Verbindungen zwischen kultureller Bedeutung und Textualität zu erkennen, nämlich das, was die Fiktionalisierung, die wirkungsästhetischen Strategien und die stilistischen und formalen Innovationen betrifft (vgl. ebd.).19

      Mein Interesse für die kulturwissenschaftliche Literaturwissenschaft wird durch die in den Prosawerken dieser Arbeit vorliegende Verbindung zwischen literarischem und politisch-soziokulturellem Diskurs gerechtfertigt: Die Zeitgeschichte ist mit der Fiktion verwoben und die Ereignisse der Epoche spielen eine herausragende Rolle in der Entwicklung, dem Verhalten und der Mentalität der unterschiedlichen Figuren der einzelnen Werke. In ihrer Interpretation von »Kultur als Text« verteidigt Doris Bachmann-Medick, dass die literatur- und kulturwissenschaftliche Hermeneutik der Gegenwart nicht von den sozialen Ereignissen und von den Handlungszusammenhängen, die zu einer gewissen wahrgenommenen Realität gehören, getrennt werden darf (vgl. Bachmann-Medick, 2014: 77). Auch im Sammelband Methoden der literatur- und kulturwissenschaftlichen Textanalyse (2010), herausgegeben von Vera und Ansgar Nünning, wird erwähnt, dass die kulturelle Dimension eines literarischen Textes (beziehungsweise der kulturelle Kontext, der soziale Hintergrund und die soziokulturelle Umgebung) bei der literarischen Analyse durch ein Verfahren des wide reading berücksichtigt werden muss (vgl. Hallet, 2010: 293f.). Dieses Verfahren, das eine ausgedehnte komplementäre Lektüre ermöglicht, auch durch den Zugang zu nicht-literarischen Texten, ist besonders wichtig bei der Analyse literarischer Texte mit einer starken zeitgeschichtlichen und soziokulturellen Komponente, wie es bei den Prosawerken dieser Arbeit der Fall ist. Indem ich den Schwerpunkt meiner Studie auf die Darstellungen der Jugend und auf die literarische Bearbeitung des soziopolitischen Aufruhrs der Jugendrevolte lege, beabsichtige ich, zu untersuchen, auf welche Weise jedes der ausgewählten Werke nicht nur dazu beiträgt, das kulturelle Gedächtnis der zeitgeschichtlichen, politischen und sozialen Ereignisse von 1968 herauszukristallisieren, sondern auch ein originelles Bild des Generationenkonfliktes und der Studentenunruhen am Ende der 1960er-Jahre zu schaffen: originell, denn es ist nicht in den Zwängen der geschichtswissenschaftlichen und soziologischen Perspektive gefangen, sondern geht vom kritischen und persönlichen Blick eines jeden Autors aus, der die der Literatur eigene kreative Freiheit dazu benutzt, Wirklichkeiten zu konstruieren, die sich nicht darauf beschränken, die reale Welt, von der sie erzählen, widerzuspiegeln.20

      Ausgehend von dem Bild, das jedes einzelne Werk vom Generationenkonflikt und der Studentenrevolte bietet, liegt das Ziel meiner Studie auf der Darstellung eines heterogenen und vielfältigen Porträts der Berührungspunkte und Divergenzen, die bei der Fiktionalisierung der Erlebnisse der Jungen und nicht mehr Jungen im Laufe der 1960er-Jahre vorkommen. Auf diese Weise, und dem komparativen Charakter der vorliegenden Studie entsprechend, wird den jüngsten Tendenzen und methodologischen Ansätzen im Rahmen der Vergleichenden Literaturwissenschaft spezielle Aufmerksamkeit gewidmet. Diese Disziplin, so Steven Tötösy de Zepetnek, steht in der Tradition der Förderung interdisziplinärer und interkultureller Studien von Literatur und Kultur (vgl. Tötösy de Zepetnek, 2003: 235).

      Die Forscher César Domínguez, Haun Saussy und Darío Villanueva unterstreichen in Introducing Comparative Literature. New Trends and Applications (2015), dass die Vergleichende Literaturwissenschaft am Ende des 20. Jahrhunderts in ein »neues Paradigma« eintrat, das eine eher kulturwissenschaftliche Interpretation der Literatur voraussetzt (vgl. Domínguez/Saussy/Villanueva, 2015: 13).21 Diese Interpretation soll nicht nur auf den literarischen Text als solchen, sondern auch auf den Kontext seiner Entstehung, seine Rezeption und auch auf soziale Faktoren achten, deren Analyse auch über nationale Grenzen hinausgehen sollte (vgl. ebd.). Darüber hinaus heben diese Forscher hervor, dass es noch eine andere Dimension gibt, die im Rahmen des »neuen Paradigmas« berücksichtigt werden muss: »It consists, basically, in the imperative of abandoning of any supposed genetic relation to justify comparative analysis, and attending to the empirical evidence that is available to us« (ebd.: 15). Wie sie verdeutlichen, bezieht sich diese »empirische Evidenz« auf ein gemeinsames Element zwischen zwei literarischen Systemen oder zwischen einem literarischen Werk und einem Werk aus einem anderen künstlerischen Bereich, ohne dass eine Abhängigkeit zwischen zwei oder mehr Werken unterstellt wird (vgl. ebd.). Diese Perspektive der Vergleichenden Literaturwissenschaft ist besonders hilfreich in der vergleichenden Gegenüberstellung von Darstellungen, Themen oder Stoffen, die diversen literarischen Texten gemeinsam sind, unabhängig von ihrer Gattung (vgl. Nebrig, 2012: 91–96).

      In diesem Rahmen hat diese Arbeit das Ziel, Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Texten verschiedener Literaturen zu untersuchen, die sich mit dem Generationenkonflikt, den akademischen Unruhen und der Studentenrevolte der 1960er-Jahre befassen und diese bearbeiten. Konkret wird dabei dem methodologischen Vorschlag von Peter Zima gefolgt, der ein Analysemodell der intertextuellen Beziehungen vorstellt, welches auf eine Differenzierung zwischen »typologischem Vergleich« und »genetischem Vergleich« beruht.22 So wie Zima erklärt (der Ausführung von Gerhard R. Kaiser folgend): »Während der genetische Vergleich als Kontaktstudie […] Ähnlichkeiten zum Gegenstand hat, die durch Kontakt, d.h. durch direkte oder indirekte Beeinflussung entstehen, werden im Rahmen eines typologischen Vergleichs Ähnlichkeiten untersucht, die ohne Kontakt aufgrund von analogen Produktions- oder Rezeptionsbedingungen zustande kommen« (Zima, 2011: 105; Hervorhebung im Original). In der vorliegenden Arbeit sind die Beziehungen zwischen den Texten typologischer Natur und der Vergleich wird in diesem Rahmen stattfinden.

      Nach der Vorstellung der methodologischen Koordinaten sollen nun die Struktur und die Gliederung dieser Arbeit verdeutlicht werden.

      Im ersten Kapitel werden die Studentenrevolte und der Aufruhr der jungen Generation von 1968 sowie die Vorgeschichte und die Nachwirkungen der Folgejahre dargestellt. Damit werden die wichtigsten Momente und Ereignisse in Westeuropa zunächst im Allgemeinen und dann spezifisch in jenen Ländern identifiziert, in denen die untersuchten literarischen Werke entstanden sind. Diese geschichtliche und soziokulturelle Kontextualisierung der außerliterarischen Wirklichkeit folgt den Prinzipien des wide reading. Da die zeitgeschichtlichen Ereignisse dieser Epoche mit der Diegese eines jeden Werkes verwoben sind und eine hervorgehobene Rolle in der Entwicklung, dem Verhalten und dem Charakter