will, Verhältnisse einzuführen, unter denen die Menschen ein schöpferisches Leben ohne Krieg, Hunger und repressiver [sic!] Arbeit führen können, muß heute notwendigerweise global sein. Die Globalisierung der revolutionären Kräfte ist die wichtigste Aufgabe der ganzen historischen Periode, in der wir heute leben und an der menschlichen Emanzipation arbeiten. (Dutschke, 1968: 85)
Zur Entstehung der Widerstandsbereitschaft der jungen Generation und ihrer Kritik an der Gesellschaft trugen historische, soziopolitische und kulturelle Faktoren bei, die sich überall in Westeuropa manifestierten und die jungen Leute vereinigten. In seiner Analyse der Vorläufer von 1968 charakterisiert Laurent Joffrin den ökomischen Kontext der Nachkriegszeit und hebt ähnliche Merkmale dieser jungen Generation vor:
Dans l’après-guerre occidental, les « baby-boomers » reçoivent d’emblée, par le hasard de l’histoire, des traits marquants, communs à des millions d’enfants sur trois continents. Ils ne connaîtront plus la guerre sur leur sol […]. Ils grandiront dans une atmosphère de croissance rapide et régulière. Ils vivront tous les effets, culturels, bienfaisants ou pervers, de la « société d’abondance ». […] Nés dans la pénurie, les « baby-boomers » sont nubiles dans un début d’abondance et adultes dans la prospérité. (Joffrin, 2008: 36f.)
[In der Nachkriegszeit im Westen haben die »Babyboomer« sofort, durch historischen Zufall, markante Züge bekommen, die Millionen von Kindern auf drei Kontinenten gemeinsam sind. Sie werden keinen Krieg im eigenen Land kennen lernen […]. Sie werden in einem Umfeld schnellen und beständigen Wachstums groß werden. Sie werden alle Effekte, kulturell, wohltuend oder pervers, der »Überflussgesellschaft« erleben […]. In Mangelzeiten geboren, wurden die »Babyboomer« in einem anfänglichen Kontext von Überfluss zu Jugendlichen und im Wohlstand Erwachsene.]
Der Zerstörung durch den Zweiten Weltkrieg folgte in Europa eine Zeit des physischen und psychischen Wiederaufbaus. Sie war angetrieben durch Bevölkerungswachstum in städtischen Bereichen und durch eine beispiellose Industrialisierung.4 Das Klima von allgemeinem Wachstum, Wohlstand und Sicherheit (vgl. Flores/De Bernardi, 2003: 92) verbunden mit der Wahrnehmung von soziopolitischer Stabilität der 1950er-Jahre bereitete den Boden für die Entstehung der Überflussgesellschaft. Die Babyboomer, die in der Konsumgesellschaft erzogen wurden, in der der Kapitalismus und standardisierte Verhaltensregeln dominierten, hatten die Gelegenheit, nicht nur den technologischen Fortschritt zu verfolgen, sondern auch die Vorteile des modernen Luxus zu genießen. Viele von diesen Vorteilen wurden durch die Industrialisierung für einen Großteil der Bevölkerung zugänglich. Der Fernseher, zum Beispiel, wurde damals zum allmächtigen Massenkommunikationsmittel und Unterhaltungsmedium (vgl. Marwick, 1998: 80f.). Außerdem wurden Vorteile wie schicke Modekleidung, Urlaubsreisen ins Ausland, der Kauf eines eigenen Autos und andere äußere Statusmerkmale zu Symbolen einer Scheinwelt, die die Mentalität der bürgerlichen Schichten im Europa der 1950er- und 1960er-Jahre prägten. Gemäß der anerkannten Standards des American way of life wurde das materielle Besitztum conditio sine qua non sowohl für einen außergewöhnlich hohen Sozialstatus als auch für einen vom Komfort geprägten Lebensstil.5 Dieser Lebensstil sollte durch ein konservatives Verhalten, durch Moralvorstellungen und gutes Benehmen eingehalten werden.6
Auf der einen Seite ermöglichte der wirtschaftliche Aufschwung eine allgemeine Verbesserung der Lebensbedingungen in Westeuropa, aber auf der anderen Seite endete er in einem ideologischen Zwiespalt, der ein erstes Zeichen war für den Antagonismus zwischen Eltern und Kindern. Die Herausbildung einer Kultur des Konsums und der bürgerlichen Werte in den 1950er-Jahren und bis zur Mitte der 1960er-Jahre (vgl. Judt, 2010: 485), das verbreitete Szenario politischer Stagnation sowie ein Paradigmenwechsel im Wirtschaftsbereich waren in den Augen der jungen Menschen zentrale Aspekte, die Ende der 1960er-Jahre den Weg für Aufruhr bereiteten.7
1966, 1967 und 1968 erlebten die Bundesrepublik, Frankreich, das Vereinigte Königreich und Italien – alle damaligen Antriebskräfte der westeuropäischen Ökonomie – eine Rezession, die der erste systemische Krisenmoment des Kapitalismus nach dem Zweiten Weltkrieg war. Nach dem Klima des wirtschaftlichen Optimismus der 1950er- bis zur Mitte der 1960er-Jahre, die für viele der goldene Zeitraum des Kapitalismus war (vgl. Flores/De Bernardi, 2003: 22), folgte eine Verlangsamung der Industrialisierung in ganz Europa, die direkte Auswirkungen im Finanzsektor dieser Länder hatte. Da die Regierungen sich gezwungen sahen, das Haushaltsdefizit zu kontrollieren, investierten sie weniger in den Sozialstaat und in den öffentlichen Sektor und optierten sie für Lohnsenkungen und für Steuererhöhungen bei den Arbeiterklassen. Diese waren es, die am meisten unter der Krise litten. Die negativen Folgen dieser Politik manifestierten sich im Anstieg der Arbeitslosenzahlen, in einer starken Inflationsrate und in der Verschlechterung der Lebensbedingungen der Ärmsten.
All diese Maßnahmen und ihre sozialen Konsequenzen brachten eine Unzufriedenheit in die Gesellschaft, die ein wichtiges Fundament der 1968er-Studentenbewegung wurde. Angesichts der Unfähigkeit der Regierungen, auf die ökonomische Krise zu reagieren und grundlegende Änderungen in der parteipolitischen Ideologie vorzunehmen, wurde die Unzufriedenheit der jungen Generation zuerst im akademischen Milieu und danach auf den Straßen großer Städte lauter. Diese Generation drückte ihre Empörung über den zunehmenden sozialen Abstieg und ihren Willen zu einer radikalen Transformation der vorherrschenden Institutionen aus.
Der Protest der jungen Leute Ende der 1960er-Jahre in Westeuropa wurde in den Universitäten entzündet, wo die Studenten nach einer grundlegenden Reform der akademischen und administrativen Strukturen des Hochschulsystems verlangten.8 Unter den Fahnen des Studentenkampfes verbreiteten sich besonders die Forderungen nach einer größeren Anpassung des Curriculums an die außeruniversitäre Wirklichkeit, nach Öffnung des Lehrkörpers zu dringenden Themen der Aktualität und nach mehr Investitionen im Bildungsbereich.9 Auf der anderen Seite wurden die hohe Zahl von Studenten pro Professor, das Fehlen von Stipendien und die geringe Rate von Neueinstellungen aufgrund von Kürzungen im Bildungsetat als Zeichen des Niedergangs der europäischen Hochschulen identifiziert. Die Universitäten beruhten auf veralteten Modellen, die nicht zu den neuen Zeiten passten, die der zunehmenden Zahl von Studenten kaum eine Ausbildung mit Qualität boten und ihnen die Teilhabe an Hochschulpolitik verwehrten. In einem Manifest, das 1968 veröffentlicht wurde, beschrieb der italienische Studentenführer Guido Viale die Wirklichkeit der damaligen Universitäten (in Italien und nicht nur dort), wie sie die Studenten erlebten:
[…] per la maggioranza degli studenti […] l’Università funziona come strumento di manipolazione ideologica e politica teso ad instillare in essi uno spirito di subordinazione rispetto al potere (qualsiasi esso sia) ed a cancellare, nella struttura psichica e mentale di ciascuno di essi, la dimensione collettiva delle esigenze personali e la capacità di avere dei rapporti con il prossimo che non siano puramente di carattere competitivo. (Viale, 2008: 77)
[[…] für die Mehrheit der Studenten […] funktioniert die Universität als Instrument für ideologische und politische Manipulation und dies mit dem Ziel, ihnen einen Geist von Unterordnung unter die Macht (egal welcher Art) einzutrichtern sowie die kollektive Dimension der persönlichen Forderungen und die Fähigkeit, mit dem Nächsten Beziehungen zu führen, die nicht nur rein kompetitiv sind, aus der psychischen und mentalen Struktur jedes Studenten zu löschen.]
Geleitet durch einen reformistischen Geist setzten sich die Studenten für eine demokratische Erneuerung der Universitäten ein und forderten öffentlich eine höhere Autonomie der Hochschulen bei den Verwaltungsentscheidungen, die frei von staatlichen Einflüssen bleiben sollten.10 Durch originelle Protestformen, wie Barrikaden, Sit-ins, Fakultätsbesetzungen, Parolen und Massendemonstrationen auf den Campus der Universitäten, versuchten sie, die Aufmerksamkeit der Bevölkerung auf die ihrer Auffassung nach fehlende Freiheit der Meinungsäußerung – sowohl innerhalb der akademischen Welt als auch in der Öffentlichkeit – zu erregen und rebellierten sie gegen die pseudodemokratische Farce, in der sie zu leben glaubten.11
Sowohl im Kampf gegen den Autoritarismus des Establishments als auch durch die Zurückweisung des standardisierten bürgerlichen Lebens – welches sie als konservativ, kleinlich, beklemmend und repressiv betrachteten (vgl. Morin et al., 2008: 14) – verlangten die jungen Leute mehr Transparenz und Befreiung der sozialen Kommunikationsmedien.12 Sie forderten auch die Herabsetzung des Wahlalters