Ines Gamelas

1968 in der westeuropäischen Literatur


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Radikalisierung des Protestes gegen die Polizeigewalt und den Autoritarismus eines von de Gaulles dominierten Staats.9

      Während der Maiaufstand die Abgrenzung der jungen Menschen von den konservativen Werten der Fünften Französischen Republik – mit ihrem schon 77-jährigen General de Gaulle an der Spitze – deutlich machte, trug er auch dazu bei, die Unzulänglichkeiten der nationalen und internationalen Politik der damaligen Regierung offenzulegen. Dafür war der Protest der Studenten gegen den Vietnamkrieg ein Beleg. Trotz seiner offiziellen Stellungnahme, in der de Gaulle den Krieg verurteilt, zeigte er sich unfähig, diese Position gegenüber den US-Amerikanern mit Nachdruck zu vertreten, und lehnte es sogar ab, das Vietnam-Kriegsverbrechen-Tribunal auf französischem Boden stattfinden zu lassen (vgl. Fauré, 1998: 19). Da die junge Generation den Algerienkrieg um die Unabhängigkeit von Frankreich nicht vergessen hatte, entschied sie, ihre Empörung in Bezug auf den US-Imperialismus und auf die unterwürfige Haltung anderer Großmächte nicht zu verschweigen.10 Dem Schweigen des gaullistischen Frankreichs auf der internationalen Bühne entgegneten die jungen Protestler mit der Unterstützung der Befreiungsbewegungen der sogenannten Dritten Welt. Darüber hinaus solidarisierten sie sich mit den Bürgern aus ehemaligen Kolonien oder diktatorischer Regime, die in beklagenswerten Umständen in den Vororten großer französischer Städte lebten.11

      Noch bevor die Streitfälle in den Universitäten und die Tumulte in Paris zu Sinnbildern der Utopie des Wandels der jungen Franzosen wurden, hatten diese schon andere Barrikaden gegen die vorherrschenden Gebräuche der konservativen gaullistischen Gesellschaft errichtet. Beeinflusst von der Kultur des Rock’n’Rolls ahmten die jungen Menschen im Verlauf der 1960er-Jahre den Stil der Stars des yéyé wie Johnny Hallyday, Sylvie Vartan und Claude François nach – eine von den anglosächsischen Rhythmen inspirierte Musikrichtung, die das Bewusstsein der Teenager und Twens jener Zeit revolutionieren sollte (vgl. Joffrin, 2008: 39) – und ließen sich von den Drogen und der Hippiebewegung anstecken. Ende der 1960er-Jahre wurde auch in den großen Metropolen die Herausbildung unterschiedlicher Jugendkulturen, die sich der Massenkultur und -ideologie widersetzten, deutlich (vgl. Capdevielle/Rey, 2008: 140). Die Unangepasstheit der jungen Generation in Bezug auf die von der Konsumgesellschaft aufgezwungenen Moderichtungen fand auf unterschiedlichste Art und Weise Ausdruck, zum Beispiel durch die Zugehörigkeit zu künstlerisch-literarischen Gruppierungen wie den Beatniks, den Surrealisten oder den Existentialisten oder selbst durch die Zuschaustellung von Bärten und langen Haaren, den Stil Che Guevaras und Fidel Castros nachahmend.12

      Zu diesem soziokulturellen Umsturz kamen auch andere Themen im Rahmen der sexuellen Revolution: Die Kämpfe für die Legalisierung von Verhütungsmitteln (durch das Neuwirth-Gesetz von 1967 umgesetzt) und für die Aufhebung der Geschlechtertrennung in Studentenheimen waren als eine offene Konfrontation dessen gedacht, was aus Sicht der jungen Menschen eine oberflächliche und obsolete Koketterie der Elterngeneration war.13

      Mit dem Appell an die Phantasie, die Kreativität und Veränderung der Wirklichkeit versuchten die jungen Franzosen, sowohl das Schweigen, zu dem sie sich in politischer und medialer Hinsicht gezwungen fühlten, zu brechen als auch das Recht auf Andersartigkeit und Teilhabe an der Gesellschaft einzufordern.14 Die Ereignisse vom Mai 1968 waren im Laufe der Jahre Gegenstand verschiedenster soziologischer Interpretationen und noch heute ist man sich nicht ganz einig in Bezug auf die sozialen, politischen und kulturellen Auswirkungen des Geschehens dieser Zeit.15 Eins ist dabei jedoch unbestritten: Die »expérience utopique« (Morin et al., 2008: 41) [utopische Erfahrung] der jungen Menschen stellt sich sowohl als ein Meilenstein der soziopolitischen und kulturellen Geschichte Frankreichs im 20. Jahrhundert als auch als eine Referenz im Rahmen der Studentenbewegung der 1960er-Jahre in Europa dar. So wie die Geschichtswissenschaftler Marcello Flores und Alberto De Bernardi behaupten: »È a maggio che il 1968 diventa il ‹Sessantotto›« (Flores/De Bernardi, 2003: 71) [Im Mai wurde 1968 zur 1968er-Jugendrevolte].

      1.4 Die italienische 1968er-Bewegung: ein langer und heftiger Frühling

      Am Ende der 1960er-Jahre war Italien ein weiteres demokratisches Land in Europa, in dem die junge Generation gegen die herrschenden Sitten rebellierte und heftig bis kämpferisch versuchte, das Signal zu einem politischen, sozialen und kulturellen Aufbruch zu geben. Die Studentenunruhen begannen 1967 in den Universitäten, verlagerten sich aber schon 1968 schnell auf die Straßen der Städte landesweit (vgl. Casilio, 2013: 130f.), wo sie bis Ende 1969 andauerten. Die italienische Protestbewegung fand in der Allianz von Studenten und Arbeitern die höchste Ausdrucksform eines gemeinsamen Willens, die autoritäre, stark hierarchische, wenig offene und konservative Realität zu reformieren – eine Realität, die nicht dem Partisanentraum von Freiheit, Fortschritt und Demokratie entsprach, der die junge Republik Südeuropas nach dem Zweiten Weltkrieg bei ihrer Gründung angetrieben hatte.

      Auf seinem langen Weg zur Demokratie kannte Italien große Fortschritte: Dank dem sogenannten »Wirtschaftswunder« am Ende der 1950er-Jahre und in der ersten Hälfte der 1960er und dem Wiedererstarken der Industrie beobachtete man eine Erhöhung der Kaufkraft und eine allgemeine Verbesserung der Lebensbedingungen sowie die Herausbildung einer modernen und urbanen Mittelschicht, die hauptsächlich freie Berufe ausübte und nicht so einem traditionellen Lebensstil folgte.1 Diese wirtschaftliche und industrielle Entwicklung führte jedoch keineswegs zu einer allgemeinen Liberalisierung der Gesellschaft (vgl. Azzellini, 2008: 173), die die Kritiker der traditionellen parlamentarischen Politik und die jungen Menschen für dringend erforderlich hielten, besonders wegen des Widerstrebens der politischen und akademischen Institutionen gegen jegliche Veränderung.

      Neben den gewöhnlichen Krisen in den Regierungen war die Politik gekennzeichnet durch das Fehlen einer starken parlamentarischen Opposition im Parlament und durch Stagnation, Mangel an neuen Ideen und Vorschlägen.2 Als 1964 Aldo Moro an die Macht kam, wurde Italien von einer großen Koalition aus vier Mittelinksparteien regiert. Sie waren dennoch unfähig, sich über die Umsetzung struktureller Reformen zu einigen.3

      Der Unmut der Studenten über die akademische Lage wuchs parallel mit der politischen Ziellosigkeit, dem Ansteigen der Arbeitslosenzahlen, den Streiks. In den Universitäten von Mailand, Rom, Pisa und Trient gab es erste Anzeichen einer Studentenbewegung, die sich ab 1965 verstärkten. Das war das Jahr, in dem im Parlament eine Reform des Hochschulsystems beraten wurde, deren Ziel es war, die Anzahl der Studienjahre zu reduzieren und die Bildung auf den Bedarf der Wirtschaft auszurichten (vgl. Frei, 2008: 166). Diesem Ansinnen widersetzten sich die Studenten und ergänzten die Liste der Kritikpunkte um die Starrheit des Curriculums und die zu geringe Anzahl an Dozenten, den Mangel an Kommunikation zwischen Professoren und Studierenden (vgl. ebd.) und das Fehlen einer demokratischen Entwicklung der akademischen Strukturen, die von der unhinterfragten Autorität der Professoren geprägt wurde. Über die akademische Realität in Italien am Ende der 1960er-Jahre schreibt Fred Halliday:

      The Italian universities have a most authoritarian pedagogical tradition: professors teach courses from manuals they have themselves written, and both set and mark examinations themselves on these courses; this is clearly not a situation in which a critical approach to what the student is offered is advisable if he wishes to get good marks. (Halliday, 1969: 304)

      1967 wurde zum ersten Jahr einer langen Periode von studentischer Mobilisierung (vgl. Flores/De Bernardi, 2003: 194). Die Studentenbewegung erlangte größere Ausdruckskraft, verstärkt durch die Protestinitiativen unterschiedlicher Spontangruppen, die an den Universitäten eine Vielzahl von Aktionen organisierten, welche lokalen wie internationalen Strömungen entsprachen.4 Nur um zwei Beispiele zu nennen: An der Universität von Trient war es die Debatte über den Vietnamkrieg, welche die Gemüter der Menschen befeuerte und die Revolte auslöste (vgl. Horn, 2007: 81). Dies führte zu den ersten Fakultätsbesetzungen und Streiks und verhinderte auch die fristgerechte und reguläre Eröffnung des akademischen Jahres 1967/1968.5 Und in Mailand fand das erste Sit-in im November 1967 in der Katholischen Universität statt. Dabei handelte es sich um eine Protestaktion, die gegen die Erhöhung der Studentengebühren organisiert wurde. Als die Anführer des Protestes exmatrikuliert wurden – unter ihnen der charismatische Führer der Studentenorganisation Movimento Studentesco (MS) [Studentenbewegung], Mario Capanna – brachte dies eine Welle der Solidarität unter den Studenten hervor.6 Ende 1967 und Anfang 1968 verbreiteten sich die Unruhen aus Trient und Mailand