sie sich mit den Arbeitern und Angestellten bei Streiks und Demonstrationen für mehr soziale Gerechtigkeit. Dies erwähnen Martin Klimke und Joachim Scharloth in ihrer Einführung zum Sammelband 1968 in Europe: A History of Protest and Activism (2008):
Decrying the alienation and the lack of democratic participation in their societies, students from Western Europe largely blamed capitalism for the rise of technocratic and authoritarian structures. […] In this process, the universities could serve as «centers of revolutionary protest» to prevent domestic repression, connect to the working class, and transform the underlying roots of society […]. (Klimke/Scharloth, 2008: 1)
Entscheidend für die Vereinigung der europäischen jungen Leute und für die Verbreitung ihrer Proteststimmung war auch die Rolle der Studentenführer. Einer linken Ausrichtung treu, sei diese marxistisch, kommunistisch oder anarchistisch, engagierten sie sich auch in den Medien für eine Verstärkung des Aufruhrs. Rudi Dutschke, Daniel Cohn-Bendit, Mario Capanna oder Tariq Ali gaben Ende der 1960er-Jahre der Proteststimmung ein Gesicht. Und dank ihrer Stimmen und ihrer Initiativen wurden Mobilisierungsformen entwickelt und die Koordination der gemeinsamen Ideen und ihrer Verbreitung in den verschiedenen nationalen Bewegungen geleistet.13
Es sei daran erinnert, dass der allerorts vorhandene Zugang zu den verschiedensten Informationen in den Medien ̶ vor allem im Fernsehen14 – zum Interesse der Studenten für die Probleme der unterdrückten Völker und sozial Marginalisierten beitrug. So vereinten sie sich bei internationalen Protestaktionen. Der Kampf gegen Rassendiskriminierung und die Forderungen nach dem Ende der diktatorischen Regime, die selbst in europäischen Ländern wie Spanien und Portugal fortbestanden, sind Beispiele des Aufstands der jungen Menschen für eine gerechtere, freiere und egalitärere Gesellschaft. Außerdem fügten sich die Unterstützung von Befreiungsbewegungen der sogenannten Dritten Welt und die Verehrung von revolutionären Führern wie Che Guevara und Fidel Castro in den antiautoritären Kampf der jungen Generation damals ein. Dessen Ziel war es, koloniale und imperialistische Unterdrückung und Tyrannei, besonders in Afrika und Lateinamerika, zu beenden.15
Im Kontext des antiimperialistischen Engagements der jungen Generation stand kein historisches Ereignis der 1960er-Jahre so sehr im Fokus der Kritik wie der Vietnamkrieg. Beim Hinterfragen der Legitimität der amerikanischen Bombenangriffe auf Vietnam, die sowohl durch das Fernsehen seit 1965 als auch durch Fotos weltweit übertragen wurden, betrachteten die Studenten diesen Krieg als den Katalysator des Protestes gegen die weltweite US-Hegemonie (vgl. Kraushaar, 2000: 24). Arthur Marwick beschreibt es folgendermaßen:
The Vietnam War – the attempt of the Americans to bolster the corrupt regime in South Vietnam against Communist North Vietnam and the Communist Vietcong in South Vietnam – waging a brutal campaign against ordinary villagers, killing hostages, using napalm, defoliants and other poisons, and then carrying the bombing raids to North Vietnam was the biggest single cause of protests and demonstrations [in the USA and Western Europe; IG]. (Marwick, 1998: 15)
Sprechchöre und der dabei wiederholte Ausruf des Namens des vietnamesischen Widerstandsführers Ho-Chi-Minh in den Hörsälen verschiedener westeuropäischer Hochschulen (vgl. Frei, 2008: 213) sowie die Verbreitung des Mottos »Make love, not war« waren sowohl für die US-amerikanischen jungen Protestler als auch für die europäischen ein Ventil für ihre Empörung gegen den Vietnamkrieg. Tatsächlich, und gemäß der Prophezeiungen Herbert Marcuses,16 der damals als der geistige Vater der internationalen Studentenbewegung betrachtet wurde (vgl. Joffrin, 2008: 95), sollte die rebellierende europäische junge Generation in die Fußstapfen der US-amerikanischen treten und in die Haut junger Revolutionäre schlüpfen:
Diese Jungen und Mädchen teilen nicht mehr die repressiven Bedürfnisse nach den Wohltaten und nach der Sicherheit der Herrschaft – in ihnen erscheint vielleicht ein neues Bewußtsein, ein neuer Typus mit einem anderen Instinkt für die Wirklichkeit, fürs Leben und fürs Glück; sie haben die Sensibilität für eine Freiheit, die mit den in der vergreisten Gesellschaft praktizierten Freiheiten nichts zu tun hat und nichts zu tun haben will. (Marcuse, 1967: 6)
Der politische Aktivismus der 1968er-Studentenrevolte wurde von einer kulturellen Revolution begleitet, in der verschiedene Experimente im Rahmen eines interkontinentalen Phänomens gemacht wurden. Dieses wurde als »Gegenkultur« bekannt und umfasst laut Arthur Marwick die verschiedenen Formen, Aktivitäten und Verhältnisse, die von den Lebensweisen und Werten der sogenannten mainstream culture abweichen oder diese in Frage stellen (vgl. Marwick, 1998: 12).17 Die Vorliebe der jungen Menschen für Provokation und für die Zurückweisung der etablierten Sitten und Gebräuche – die sowohl in den USA als auch in Westeuropa als Quintessenz der 1968er-Gegenkultur betrachtet wurde (vgl. Tanner, 2008: 75) – war charakteristisch für die Suche nach kreativen und avantgardistischen Alternativen zu der Doktrin des traditionellen und konservativen Ethos ihrer Eltern. Indem sie der Vorstellungskraft Raum gab, fand die junge Generation durch bunte und gewagte Kleidung, durch den Schock der visuellen Künste und den subversiven Klang des Beats und des Rock’n’Rolls die Ausdrucksformen einer internationalen Protest- und Widerstandssprache. Jeans und lange Haare, die Ausstrahlung der pazifistischen Strömung flower power ebenso wie die frenetischen Rhythmen der Beatles und Rolling Stones, neben den Protestliedern von Bob Dylan und Joan Baez, sind nicht nur einige Zeichen des Verschmelzens der Popkultur mit politischen Motivationen, sondern sie trugen auch zur Kennzeichnung der jungen, rebellischen 1968er-Generation bei. Darüber hinaus kannte das Westeuropa der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre eine wachsende Hippiebewegung, in der Musikgruppen mit psychedelischer Musik und Erfahrungen mit Drogen – unter anderem mit LSD – bei den jungen Leuten beliebt waren. Damit strebten die jungen Männer und Frauen nach einer Horizonterweiterung jenseits der Welt ihrer Eltern.18
Es war in diesem Kontext intensiver Provokation und Proteste gegen konservative Sitten und Gebräuche, dass die sexuelle Revolution stattfand – eine Revolution, die im Streben der jungen Menschen nach Freiheit und Emanzipation verankert war. Was vorher ausschließlich in die Privatsphäre gehört hatte, wurde öffentlich gemacht. Teile der jungen Generation machten spontanes Ausleben von Sexualität öffentlich und machten aus Permissivität ein Schlüsselelement der Gegenkultur der 1960er-Jahre im Westen: »‹Permissiveness› […] [refers to; IG] a general sexual liberation, entailing striking changes in public and private morals and […] a new frankness, openness, and indeed honesty in personal relations and modes of expression« (Marwick, 1998: 18).
Mit einer Verknüpfung von Öffentlichem und Privatem, von Persönlichem und Politischem kam es Ende der 1960er-Jahre in Westeuropa zu einer Verbreitung des hedonistischen peace & love – einer Weltanschauung, die vom Genießen der Empfindungen und von der Hervorhebung der Emotionen und Instinkte geprägt war. Das Erleben des gegenwärtigen Augenblicks, des Hier und Jetzt, wurde zu einem Imperativ, der die freie Liebe verteidigte, d.h. das Erleben von Beziehungen ohne Beschränkungen, Verbote oder Verbindlichkeiten.19 Dem zementierten rigiden Lebensentwurf der Älteren, so sahen es die Jungen, stellten sie ihr alternatives Modell entgegen: eine tolerantere und offenere Gesellschaft angesichts der sexuellen Freiheiten des Einzelnen, frei von moralischen Vorurteilen. Unter der Schirmherrschaft von Transparenz und Öffnung der Mentalitäten wurden nicht nur Tabuthemen wie die Pille, Kondome und Abtreibung, die zum Alltagsleben vieler Menschen der jungen Generation gehörten, sondern auch Fragen bezüglich Rollenstereotypen und Familienmodellen öffentlich diskutiert.
Dank der Infragestellung soziokultureller Konventionen und einer Zurschaustellung des Intimlebens der 1968er-Generation hat der Feminismus am Ende der 1960er-Jahre an Bedeutung gewonnen. Noch mehr Widerhall bekam er in den 1970er-Jahren (vgl. Schulz, 2008: 281f.). Aktivistinnen wie die Französin Simone de Beauvoir, die Deutschen Alice Schwarzer und Helke Sander, die Italienerin Carla Lonzi und die Britin Sheila Rowbotham brachten die nationalen Feministinnengruppen zu einem gemeinsamen Anliegen zusammen. Sie orientierten sich an einem Kampf für das Engagement der Frau in der Gesellschaft, für die Gleichheit der Rechte zwischen Männern und Frauen, für gleichen Lohn in den Fabriken und im Dienstleistungssektor und für das Recht auf Schwangerschaftsabbruch.20
Durch mehr oder weniger durchdachte politische Überzeugungen motiviert oder lediglich um einen Gegensatz zu einer ihrer Meinung nach ökonomisch entfremdeten Gesellschaft zu setzen, wurde die Kultur des sex, drugs & rock’n’roll