die ökonomische Interessen über die Menschenrechte stellte. Im Jahre 1968 – das als das symbolische Jahr des Aufruhrs in der Bundesrepublik und im Westen gilt (vgl. Uesseler, 1998: 282) – wurde die transnationale Dimension der Protestbewegung offenkundig, indem die jungen Deutschen sich auch für viele internationalen Ereignisse interessierten. Sie befürworteten die revolutionären Ideen des Pariser Mai und solidarisierten sich mit der Bürgerrechtsbewegung in den USA (diese wurde von Martin Luther King angeführt, der 1968 ermordet wurde). Dazu kämpften sie ebenfalls für die Befreiungsbewegungen in den sogenannten Dritte-Welt-Ländern und demonstrierten für die von Alexander Dubčeks vorgeschlagenen Reformen im Rahmen des »Prager Frühlings«.10
Wie in anderen Ländern Westeuropas beschränkte sich die Utopie des Wandels der jungen Deutschen nicht auf politischen Aktivismus: Durch die kosmopolitischen und städtischen Studenten erlebte die Bundesrepublik die Herausbildung einer »Alternativkultur« (Hickethier, 2003: 26) – eine Kultur, die im Rock’n’Roll und in der Popmusik Inspiration für die von Unbefangenheit und Kampfgeist geprägte Geisteshaltung der jungen Leute fand. Wie Volker Brand ausführt:
Die neu entstandene musikalische Popkultur der Jugendlichen äußerte sich immer mehr als Affront gegen die materielle, spießig-versteinerte Erwachsenenwelt. Dafür spricht jedenfalls der Erfolg von Rockgruppen wie »The Who« oder »The Rolling Stones«, die bewußt provozierend gegen die »guten Sitten« der Gesellschaft verstießen. (Brand, 1993: 134)
Begierig auf ein modernes Leben, das ihnen gleichermaßen neue Erfahrungen und einen von moralischen Vorhaltungen freien Lebensstil ermöglichte, entschieden sich viele deutsche Studenten am Ende der 1960er-Jahre auch für andere Wohnformen. Sie verließen die engen Zimmer in Studentenheimen und zogen in sogenannte gemischte Wohngemeinschaften, wo junge unverheiratete Männer und Frauen ohne Verpflichtungen zusammenlebten.11 Wegen des eindeutigen Verstoßes gegen die herrschende soziale Norm überrascht es nicht, dass die konservativeren gesellschaftlichen Kreise und die öffentliche Meinung von skandalösen Zuständen sprachen, insbesondere aufgrund der sogenannten »sexuellen Revolution« und des ihrer Meinung nach promiskuitiven und unmoralischen Verhaltens der jungen Generation.
Der Versuch, Ende der 1960er-Jahre in der deutschen Gesellschaft eine »Alternativkultur« zu implantieren, hatte laut Helmut Dahmer andauernde politische und soziokulturelle Folgen:
Die Jugendrevolte der sechziger Jahre hat in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft neue »Werte« kreiert und eine Änderung der Mentalität und Lebensweise durchgesetzt. Sie bereitete damit den (Bildungs- und Rechts-)Reformen und den neuen »sozialen Bewegungen« der siebziger und achtziger Jahre (der feministischen, der pazifistischen und der »grünen«) den Weg. In der Nach-68er-Bundesrepublik ließ es sich freier atmen, der Horizont der Gesellschaft schien bedeutend erweitert, und es gab einen neuen Toleranz-Spielraum für »alternative« Denk- und Lebensweisen. (Dahmer, 1998: 33)
Die 1968er-Generation trat für einen Bruch mit der Vergangenheit und für das Entwerfen neuer Horizonte ein und versuchte, sich als alternative Kraft für die Gestaltung der jungen Bundesrepublik zu profilieren. Dabei betonte sie ein von Grund auf neues Ethos, das sich sowohl von den geerbten autoritären Tendenzen des Nationalsozialismus als auch von den konservativen gesellschaftlichen Zügen der Ära Adenauer radikal unterscheidet. Das junge Engagement hinsichtlich der antiautoritären Bewegung zusammen mit dem Willen, die Gesellschaft für die neuen Zeiten zu öffnen, waren Leitmotive der deutschen Studentenbewegung und trugen bei zur Bekräftigung von 1968 als dem Jahr der Jugendrevolte, das nach der Meinung von Wolfgang Kraushaar große Veränderungen in der Bundesrepublik nach sich zog (vgl. Kraushaar, 1998: 323).
1.3 »Sois jeune et tais toi«:1 der Ausbruch des Mai 68 in Frankreich
Während in der Bundesrepublik die Hauptphase der 1968er-Studentenbewegung die Jahre 1967 und 1968 umfasste und von unterschiedlichen Ereignissen geprägt wurde, die den Revolutionsenthusiasmus der Studenten ständig erneuerten, kristallisierte sich in Frankreich der Höhepunkt des Aufruhrs in den Vorkommnissen des Mai 68. Die Intensität der Proteste, die hohe Zahl der Beteiligten, die auf beiden Seiten der Barrikaden standen – Studenten und Arbeiter vs. Staatsmacht und Polizisten –, das beispiellose Medieninteresse für die Widerstandsaktionen und die Verbreitung aufgeheizter Reaktionen in der öffentlichen Meinung trugen zum Stilisieren des Mai 68 als Mythos bei und machten sie zur Standarte der Studentenbewegungen in Europa.2 Der Mai 68 war jedoch kein isoliertes Ereignis im Kampf der jungen Franzosen für eine Veränderung des Establishments: So wie in anderen westeuropäischen Ländern fanden die jungen Franzosen die Triebkraft für ihre révolution in einer Wirklichkeit mit zahlreichen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Problemen.
1967 erlebte Frankreich eine Verlangsamung des seit dem Zweiten Weltkrieg andauernden wirtschaftlichen Wachstums, was zur Implementierung eines Sparmaßnahmenkatalogs im öffentlichen und im privaten Wirtschaftssektor führte. Die Befürchtung, dass eine Krise und eine Rezession, wie sie auch andere große Mächte wie die Bundesrepublik, das Vereinigte Königreich und die USA erlebten, sich auf das unternehmerische und industrielle französische Netz ausbreiten würden, führte zu einer Zügelung in der von General de Gaulle betriebenen politique de grandeur – eine Politik, die neben der Betonung der Autonomie Frankreichs in Bezug auf die Außenpolitik auf ständigen ökonomischen Fortschritt basierte. Die Implementierung dieser Maßnahmen führte zu allgemeiner Unzufriedenheit der Arbeiterklasse, die unter Kaufkraftverlust und geringen Möglichkeiten in der Karriereentwicklung litt. Die junge Generation, besonders die Studenten und Studienabsolventen, spürte ebenfalls diese Unzufriedenheit und sah sich in einer prekären Lage wegen der fehlenden beruflichen Perspektiven auf dem Arbeitsmarkt und den steigenden Arbeitslosenbeiträgen.3
Entscheidend für die Zuspitzung der Jugendproteste im Verlauf des Jahres 1968 waren die von der jungen Generation gefühlte Ausgrenzung von der Gesellschaft und die Krise im Hochschulwesen.4 Trotz der seit einer halben Dekade vorgenommenen Änderungen infolge der Bildungsreform der Minister Christian Fouchet und Alain Peyrefitte, die eine Umgestaltung des Hochschulwesens anhand einer hauptsächlich ökonomischen Perspektive beabsichtigten, sahen sich die französischen Studenten am nde der 1960er-Jahre in einem defizitären Bildungswesen.5 Die Überfüllung der Hörsäle, ein zu kleiner Lehrkörper gegenüber der hohen Studentenzahl, die Wertlosigkeit der akademischen Abschlüsse und Diplome, sowie der autoritäre und elitäre, obsolet gewordene Lehrstil, waren allgemeine Probleme der Universitäten. Diese Probleme bestanden seit Langem sowohl innerhalb der Universitäten als auch auf den neuen Campus, die im Verlauf der 1960er-Jahre in der Peripherie der großen Städte entstanden waren, um der wachsenden Zahl der Studenten zu begegnen.6 Trotz der modernen Bauweise waren diese Universitätsgelände nicht geeignet, die Erwartungen an eine Erneuerung der Ausbildungsstrukturen zu erfüllen und wurden durch den Gegensatz von moderner Architektur und akademischer Stagnation selbst zu Gründen weiterer studentischen Proteste.
Es war auf dem Campus von Nanterre, einer Dependance der geisteswissenschaftlichen Fakultät der Sorbonne in der Umgebung von Paris, wo die Studentenrevolte begann, bevor diese sich in die Hauptstadt verlagerte. Am 22. März 1968, im Anschluss an die Festnahme von Aktivisten durch die Polizei bei einer Demonstration gegen den Vietnamkrieg in Paris, entschieden sich Cohn-Bendit und unterschiedliche kommunistische Gruppen, Trotzkisten, Marxisten und Anarchisten aus Nanterre, dazu, in den Verwaltungsturm der geisteswissenschaftlichen Fakultät einzudringen und den Raum des akademischen Rats zu besetzen. Dabei forderten sie die Einrichtung einer sogenannten kritischen Universität (vgl. Gilcher-Holtey, 2008: 112), d.h. eines neuen Universitätsmodells, das auf kritischem Denken und auf freier Meinungsäußerung basierte.7 Im Verlauf der Monate März und April erlebte Nanterre eine Eskalation des Aufstands. Die Studenten organisierten Demonstrationen, Examensstreiks und Boykotts der Lehrveranstaltungen im Protest gegen die Universität, gegen die Polizei und auch gegen einen stark bürokratisierten und zentralisierten Staat, der traditionell aus geschlossenen Institutionen bestand, welche staatlichen Anordnungen unterstanden (vgl. Judt, 2010: 411). Jedoch war es erst Anfang Mai, als sich die Bewegung aus der Umgebung zur Sorbonne und in die Straßen der Hauptstadt verlagerte, dass die Jugendproteste größere Ausmaße annahmen: Die Verwandlung von Paris in ein »Schlachtfeld« – ein Ereignis, das seinen Höhepunkt in der »langen Nacht der Barrikaden« fand8 – sowie die