Ines Gamelas

1968 in der westeuropäischen Literatur


Скачать книгу

anderthalb Jahre des Lebens von Ullrich Krause begleitet: ein Germanistikstudent fast am Ende seines Studiums, der sich in persönlicher wie akademischer Hinsicht in einer schwierigen Phase befindet. Während dieser Zeit lässt er sich von der Faszination für die Studentenrevolte, vom Gefühl universitärer Solidarität und von der kollektiven politischen Mobilisierung Ende der 1960er-Jahre zunächst in München und dann in Hamburg anstecken.

      Diese Umbruchsphase des Protagonisten zeigt sich deutlich gleich im Sommer 1967 und wird durch zwei Gründe verursacht. Einerseits macht die Beziehung mit seiner Freundin Ingeborg eine Zeit der Unsicherheit und Krise durch. Andererseits spürt er keine Motivation, seine Abschlussarbeit an der Universität in München zu schreiben und sein Studium abzuschließen.2 In dem Maße, wie die Zeit vergeht – und Ullrich Entscheidungen verschiebt, die diese Situationen lösen würden –, merkt er, dass seine individuellen Beunruhigungen die einzelne Person überschreiten und sich mit der politischen Realität verbinden. Insbesondere ist es die Nachricht vom Tod Benno Ohnesorgs anlässlich des Schahbesuches in Berlin, die das politische Bewusstsein des Protagonisten weckt. Die Gewalt und die Brutalität, mit der die Polizei gegen Demonstranten vorging, bewegt ihn dazu, an einer Demonstration gegen die angebliche Tötung des jungen Mannes teilzunehmen, die einige Tage später in München stattfindet.3 Obwohl er sich empört und wütend fühlt, erlebt Ullrich auf dieser Demonstration Freude und Begeisterung für das Gefühl der Gemeinschaft unter den Teilnehmern (vgl. HS: 61). Diese Zugehörigkeit zu einer Gruppe fasziniert ihn und so wächst sein Interesse für die Studentenbewegung und er lässt sich allmählich von der Protestwelle mitreißen.4

      Tatsächlich ist es der Tod Ohnesorgs, mit dem der »heiße Sommer« beginnt: Die Stimmung an den Hochschulen heizt sich auf und der Protest der Studenten bekommt eine nationale Dimension.5 Ullrich spürt, dass es notwendig ist, gegen Unterdrückung und Ungerechtigkeit anzugehen. Dabei öffnet er sich den Vorschlägen des alternativen Widerstands der jungen Aktivisten, die die Wertvorstellungen und Prinzipien des Establishments in Frage stellen und die von ihnen als apathisch wahrgenommene Gesellschaft, in der sie aufwuchsen, aufrütteln wollen: »Man muß etwas tun. Man muß etwas machen. Dieser Kurras, sagte Ullrich, dieses Schwein, nicht, der schießt einen Demonstranten nieder, und was passiert? Nichts, absolut nichts« (ebd.: 97).

      In diesem Kontext zunehmender kollektiver Empörung innerhalb der jungen Generation geht die politische Bewusstwerdung des Protagonisten weiter: Nach München setzt er sein Studium an der Universität Hamburg fort und engagiert sich in der 1968er-Studentenbewegung. Ullrich nimmt regelmäßig an Diskussionen und Debatten teil (vgl. ebd.: 138–145) und lässt sich von der euphorischen Rhetorik von Conny, Petersen und anderen Studentenführern des SDS überzeugen. Sie rufen die Studenten dazu auf, nicht nur an der Veränderung des akademischen Systems mitzuwirken, sondern auch an dem radikalen Wandel der konservativen Gesellschaft. Von dieser Utopie inspiriert, beteiligt sich der Protagonist an den Protestaktionen des SDS gegen Kapitalismus, gegen autoritäre Regime in Ländern der sogenannten Dritten Welt und gegen den Krieg in Vietnam. Außerdem setzt er sich zusammen mit seinen Freunden für den Kampf gegen die Autoritätspersonen ein. Dabei rebelliert er gegen die unantastbare Macht der Professoren, streitet mit dem unnachgiebigen Vater zu Hause und versucht selbst, die Polizei herauszufordern.6 Diese Phase von Ullrichs Engagement in der Studentenbewegung erreicht ihren Höhepunkt, als im April 1968 ein Attentat auf Rudi Dutschke verübt wird. Daran schließt sich eine große Demonstration vor dem Springerverlag in Hamburg an, der im Roman die Diffamierung der Studenten in der Öffentlichkeit symbolisiert. Während dieser Ereignisse fühlt Ullrich, dass er und seine Freunde Geschichte schreiben und auf diese Weise die ersehnte Revolution starten können:

      Er hatte [die Menschen] untergehakt, er konnte lachen und reden mit ihnen, als kennten sie sich schon lange. Was er fühlt, ist eine Freude, die über ihn hinausgeht, die ihm ein Gefühl der Weite und Stärke gibt. Eine Freude, die vom Haß getragen wird, ein Haß, der verändert. […]

      Menschen, die am Straßenrand stehen, reihen sich ein.

      Solidarisieren, mitmarschieren.

      Sie sind eine Kraft geworden. Sichtbar. Hörbar. […]

      Etwas ist anders geworden, denkt Ullrich, etwas ist neu. Etwas, das alle betrifft. (HS: 217; Hervorhebung im Original)

      So wie die Studentenbewegung historisch ihren geschichtlichen und politischen Höhepunkt im April und Mai 1968 erreichte7 und dann allmählich nachließ, so erreicht auch Ullrichs Teilhabe an den studentischen Protestaktionen in der Erzählwelt eine neue Phase, in der er sich mehr auf die Arbeiterbewegung konzentriert. Entschlossen für eine über das akademische Milieu hinausgehende proletarische Revolution zu kämpfen, nimmt er nicht mehr nur an Demonstrationen teil, sondern organisiert auch Straßentheater. Auf diese Weise versucht er, die Arbeiterschaft für die notwendigen Veränderungen zu sensibilisieren und so eine gerechtere und würdigere Gesellschaft zu schaffen. Aufgrund seiner Unzufriedenheit mit der leeren Rhetorik der Diskussionen über die Anwendbarkeit der linken Theorien auf das Alltagsleben entscheidet er sich auch, in einer Fabrik zu arbeiten, wo er Kontakt mit Arbeitern, Gewerkschaftern und Mitgliedern der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) hat. Dadurch glaubt er, eine praktische Umsetzung seines Wunsches nach einem soziopolitischen Wandel realisieren zu können. In dieser Phase entdeckt der Protagonist von Heißer Sommer seine Berufung zum Lehrer. Sie wird durch die Vorstellung bestärkt, den Kindern der Fabrikarbeiter bei der Gestaltung eines besseren Lebens zu helfen (vgl. HS: 327).

      Die Suche nach einem Lebensweg nach der Euphorie von 1968 ist ein Identitätszeichen der jungen Generation, die die hitzige Phase der Jugendrevolte in der Bundesrepublik intensiv lebt (vgl. Hubert, 1992: 128). Sie fragt sich in der Nachwirkung dieser Erfahrung nicht nur, welche Rolle die jungen Menschen in der Gesellschaft spielen sollen, sondern überdenkt auch die individuellen und kollektiven Verfahrensweisen, die zur Gesellschaftsveränderung beitragen können. Gekennzeichnet von Zweifeln an dem Erfolg der 1968er-Revolte und von der Unsicherheit über den politischen, sozialen und kulturellen Einfluss der studentischen Protestaktionen, ist es diese weniger enthusiastische und nachdenklichere Phase der Studentenbewegung, die den Hintergrund von Lenz darstellt.8

      In der Erzählung werden die Erlebnisse des Protagonisten geschildert, eines jungen Intellektuellen, der dem studentischen Milieu nahesteht und der sich nach dem politischen Aufruhr in Westberlin von der Revolte enttäuscht fühlt, weil er die Leidenschaft und die Begeisterung, die ihn früher bewegten, nicht mehr spüren kann.9 Während der Blüte der 1968er-Bewegung war Lenz ein begeisterter Anhänger der Ideale, die von den revolutionären Studenten vertreten wurden. Dabei hatte er an vorderster Front gekämpft, an Demonstrationen teilgenommen und die Polizei herausgefordert (vgl. L: 30). Dennoch, als die Studentenbewegung für ihn an Reiz verliert, versteckt der Protagonist weder seine Enttäuschung über die kollektiven Aktionen der Revolte noch seinen Willen, die sozialen Verbindungen zu kappen, die ihn an das radikale Engagement banden. Er sucht im Gegenteil einen Weg, der seinem Leben besonders im persönlichen Bereich Sinn gibt.10 So nimmt Lenz im ersten Teil der Erzählung eine Vollzeitarbeit in einer Elektrofirma an. Dort insistiert er darauf, am Fließband mit denen, die diese monotone und schlecht bezahlte Arbeit machen, zu arbeiten: »Er sei Student […], er arbeite hier, um die Lage der Arbeiter kennenzulernen« (L: 27).

      Als er jedoch feststellt, dass diese Form der Annäherung an die Arbeiterklasse nicht gelingt, weder um den erwünschten soziopolitischen Wandel in die Realität umzusetzen, noch um seine eigene Rolle in der Gesellschaft zu finden, versinkt Lenz in einer Spirale aus Zweifeln und Unsicherheiten.11 Die fehlende Überzeugung bei einer Demonstration gegen die griechische Diktatur (vgl. L: 30f.), die kritische und distanzierte Haltung in den Betriebsgruppen, in denen er sowohl am Sinn der Lektüre von Mao Tse-tungs Schriften als auch an dem von den theoretischen Erörterungen zweifelt (vgl. ebd.: 36–38), und auch die Verachtung der Kultur des Scheins bei den sozialen Treffen, die von Linksintellektuellen organisiert wurden, sind Episoden, die die Krise des Protagonisten enthüllen. Außerdem unterstreichen sie auch seinen Wunsch, sich von dieser überpolitisierten Szene, die ihn umgibt, zu distanzieren.12 Aufgrund dieses existentiellen Unbehagens und wegen einer Verwirrung in seinem Liebesleben trifft Lenz eine radikale Entscheidung: Kurz vor dem Sommer gibt er seinen Arbeitsplatz in der Fabrik auf und reist ohne Rückfahrkarte nach Rom.