»Der Tote. Die gleichen Laufschuhe, das gleiche Trikot. Für einen Moment dachte ich, ich liege da.«
Jona ließ ihren Blick über die aufrecht sitzende Gestalt ihres Freundes gleiten. So angegriffen kannte sie ihn nicht. Den Bullenblues hatte es mal ein ehemaliger Patient aus dem Polizeimilieu genannt, wenn man die Gewalt nicht mehr auf Distanz halten konnte. Von ihm hatte sie auch gelernt, dass dieser Blues so lange sein Lied spielte, bis man ihm zuhörte. Ulf schien ihn gut zu kennen. Wieder eine neue Seite von ihm.
Instinktiv spülte sie die mitfühlenden Worte mit einem Schluck Weißwein hinunter. Aus Jakobs Zimmer drangen leise Klänge der Gitarre, die sie ihm zu Weihnachten geschenkt hatte.
»Wenn du erzählen magst – ich bleibe gerne«, sagte sie schließlich, »aber ich könnte mir vorstellen …«
Sein dankbarer Blick ließ sie verstummen. Schweigend räumten sie den Tisch ab. An der Tür hielt er sie noch einmal fest.
»Nächste Woche fangen wir mit der Wohnungssuche an, versprochen.«
»Ich lass mein Handy an.« Sie grub ihr Gesicht in seine Halsbeuge. »Und rück mich bei Jakob wieder in ein gutes Licht.«
»Nicht nötig. Er hat dich längst ins Herz geschlossen, er kann es nur nicht zeigen.«
Das Licht im Treppenhaus erlosch in dem Moment, in dem die Wohnungstür sie aus seiner Welt ausschloss. Jona tappte im Dunkeln die Stufen hinunter.
***
In ihrer psychotherapeutischen Praxis fühlte sie sich noch am wohlsten. Arbeiten mit Menschen, die etwas vom Leben wollten und einen ehrlichen Blick darauf wagten, es gab nichts Schöneres. Zudem lenkten die Gespräche mit den Patienten sie von dem Gefühl des Verlustes ab, das sie seit Wochen begleitete. Bornheim war nicht verschwunden, nur weil ihre Vermieter beschlossen hatten, aus den liebenswerten Einzimmerwohnungen sanierte Luxusschnittchen zu machen. Leben ist da, wo man selbst ist. Am Küchenschrank ihrer Wohnung, die sie Ende des Monats räumen musste, hing noch die Karte mit diesem Spruch. Jona wischte den Gedanken an die leeren Gewürzregale fort und notierte sich auf ihrer To-Do-Liste Keller ausräumen. Mixer, alte Skier, Gartenstühle, Farbtuben, Tage- und Skizzenbücher, Weinkisten, Weihnachtsschmuck und Briefe von Menschen, die längst in anderen Welten Fuß gefasst hatten. Wenn sie an all die aufgetürmten und ineinander geschobenen Relikte ihres bisherigen Lebens dachte, wurde ihr ganz anders. Sie sollte einen großen Container bestellen und die Zeugen ihrer Vergangenheit für immer im städtischen Abfallmeer begraben.
Es war später Nachmittag, als ihr letzter Patient die Praxis verließ. Nicht nur er hatte sich heute sehr verletzlich gezeigt; auch die essgestörte Managerin war bei der Schilderung ihres Streites mit der Tochter besonders emotional geworden. Ob das an ihr lag, an der aufgewühlten Stimmung, die sie unterschwellig ausstrahlte?
Sie sann über diese Frage nach, ohne zu merken, dass ihre Kollegin Ute die Praxisküche betrat.
»Redebedarf?« Ute knotete ihr Lockenhaar im Nacken zusammen. Das Sommersprossenmeer in ihrem Gesicht war Jona so vertraut wie dieser intensive Blick, dem für gewöhnlich nichts entging. Einen Moment zögerte sie, dann schüttelte sie den Kopf.
»Etwas mehr Schlaf wäre gut.«
»Oder etwas weniger Pastis.« Ute klimperte mit den Wimpern. »Ich krieg gleich noch einen Patienten. Lass uns morgen mal in Ruhe Pause machen. Hasta luego.«
Jona sah ihr nach. Seit ihrer Auszeit in Spanien trug sie sommers wie winters Espadrilles und lachte unbekümmert auf, wann immer sich eine Gelegenheit dazu bot. Wie gerne wäre sie ihr ins Sprechzimmer gefolgt und hätte ihr Herz ausgeschüttet, doch bevor sie etwas andeuten konnte, klingelte es an der Tür.
Zu Hause warteten die vorgefalzten Umzugskartons. Lange blieb sie am Fenster stehen und sah auf die Straße, die ihr seit Jahren das Gefühl gab, ein Teil dieser Stadt zu sein.
Über dem Dachfirst war der Mond aufgegangen, der oft in ihr Zimmer spähte, heute schon am frühen Abend. Wenn sie ihren Kopf aus dem Fenster streckte, konnte sie rechts an der Ecke die Bäckerei sehen. Mehr als einmal hatte sie sich warme Schokocroissants aus den blauen Plastikwannen stibitzt, die morgens angeliefert wurden, und einen Fünfeuroschein gut versteckt an die Palette geklemmt. Damit war jetzt Schluss. Genau wie mit spontanen Besuchen in der Apfelweinkneipe gegenüber oder einem Spaziergang über die Bergerstraße, wenn die Großstadtmelancholie sie nach allem greifen ließ, was Leben versprach. Es wurde ohnehin Zeit für den Abschied vom Weltschmerz. Sobald sie mit Ulf und Jakob zusammenzog, würde sie Teil einer Familie sein. Sie betrachtete das gegenüberliegende Haus mit dem Giebel, das ihr noch nie so schön vorgekommen war, und ließ das Klingeln ihres Handys verstreichen. Dreiundvierzig Jahre musste sie werden, um vom Alleine-Wohnen Abschied zu nehmen. Sie war eine Einzelgängerin, in den Augen ihres Vaters unvermittelbar, in denen ihrer Schwester ein Unikat. Wie stark ihre Verliebtheiten auch gewesen waren, wie wild die Abenteuer, immer hatte es in ihrem Leben einen Ort gegeben, an dem sie sich verkriechen konnte und der nur ihr gehörte. Sie war der Singlewohnung treu geblieben, wenn man von dem fünfmonatigen Fiasko mit Giorgo absah. Der italienische Fotografiestudent hatte ihre Welt aus den Angeln gehoben, um sie für eine dezentere Version ihrer selbst zu verlassen. Danach hatte sie sich geschworen, keine Kompromisse mehr einzugehen und alleine zu wohnen. Und jetzt war sie es, die Ulf zur gemeinsamen Wohnungssuche drängelte!
Das Leben an der Seite eines Kriminalkommissars würde nicht leicht werden. Knapp und so liebenswürdig, wie das am Steuer im Straßenverkehr eben ging, hatte er ihr am Morgen mitgeteilt, sein Tag sei straff. Fallrecherche bei einer Immobilienfirma, der Besuch der Witwe des Verstorbenen, Dienstbesprechung, später noch Elternabend. Sie würde sich an seinen erschöpften Abendanblick gewöhnen müssen, und an einen Alltag auch jenseits ihrer Verliebtheit.
»Grins nicht so«, fuhr sie Mister Bones, das medizinische Skelett an, das im Flur nonchalant ihre Tasche und zwei Jacken auf seinem Skelettkörper trug. »Sonst sortier ich dich aus.«
Was konnte sie überhaupt ins Nordend zu Steiner und seinem Sohn mitnehmen, ohne die Dreizimmerwohnung zu überfrachten?
Ihr Blick schweifte durch die Wohnung. Den Futon auf keinen Fall. Und ihr Designerkühlschrank passte auch nicht in diese verfluchte Einbauküche. Sie brauchte eine Abstellkammer, besser noch ein kleines Studio. Seit ihr Gartenatelier letzten Winter abgebrannt war, besaß sie keinen Rückzugsort mehr, und gemalt hatte sie seither auch nicht.
Den Rest des Abends verbrachte sie damit, im Halbdunkel des Zimmers zu sitzen.
Ulf würde ihre SMS verstehen. Nie waren sie sich so nahe wie in den Momenten, in denen sie wortlos ihre Unvollkommenheit stehen ließen.
Am Morgen wurde sie unsanft vom Baulärm geweckt. Sie trank zwei Espresso in der Küche, bevor sie eine Umzugskiste in die Mitte ihres Wohnzimmers stellte und anfing, wahllos Kleidungsstücke einzupacken.
Die scharlachrote Bluse, Kordhosen in verschiedenen Farben, das Pailletten-T-Shirt und ihre geliebte, gepunktete Jacke mit den weit ausgeschnittenen Taschen. Darüber die solideren Sachen für wichtige Anlässe. Weiße Blusen, dunkle Jeans. Schwarze Budapester. Sie warf ihre Clogs Größe 43 hinterher. Wie sollte sie ausmisten, wenn an jedem Teil ein Stück Identität hing? Sie klappte den Karton zu und blieb eine Weile darauf sitzen, bis sie beschloss, dem Tag ein anderes Gesicht zu geben und ins Bad verschwand.
Auf der Vespa kehrten ihre Lebensgeister zurück. Sie klappte das Visier auf und sog die frische Frühlingsluft ein. Wenn sie den Papierkram auf ihrem Praxisschreibtisch ignorierte, war sie frei bis zum Mittag. Die Südseite des Mains lag in der Sonne, wie lange war sie nicht mehr am Flussufer spazieren gegangen, und anschließend ins Städel. Während sie sich zu erinnern versuchte, welche Ausstellung lief, fand sie sich auf der dreispurigen Adickesallee wieder. Steiner! Sie fuhr also geradewegs zum Polizeipräsidium. So sah ihre Freiheit aus; jedenfalls das, was ihr Unterbewusstsein sich darunter vorstellte. Die Vespa röhrte, als sie den Gasgriff bis zum Anschlag aufdrehte, doch mit dem Auftauchen des Präsidiums verdichtete sich der Verkehr und kam vor der roten Ampel zum Erliegen. Endstation Steiner. Ihr Herz pochte, als sie mit laufendem Motor an der Kreuzung