unwillig folgte sie der Aufforderung der grünen Ampel und bog nach der Kreuzung rechts in eine Seitenstraße ein. Ruhig war es hier. Sie geriet auf eine breite Spielstraße, vorbei an Mietshäusern und einem Abenteuerplatz, ließ sich von der fremden Kulisse leiten, die abseits der großen Straßen ihr Eigenleben führte.
Mit der nächsten Abzweigung gelangte sie ins Villenviertel. Wie von Zauberhand schien die Zeit angehalten. Ein prächtiges Haus reihte sich an das nächste. So sah also ein wohlfeiles Wohnviertel aus. Eines, das sich selbst genügte. In den Anblick einer mächtigen Trauerweide verloren, wich sie im letzten Moment einer Filmspule aus, die über die Straße rollte. War das gerade Sperrmüll gewesen? Sie bremste ab und sah in den Rückspiegel. Tatsächlich Sperrmüll. Und auf der anderen Seite, etwas zurückgesetzt, ein Mehrparteienhaus im Gerüst. Also auch hier. Von wegen Zauberhand. Bevor sie wieder Gas geben konnte, blieb ihr Blick im Rückspiegel hängen. Ein Mann in Jeans und Baseballkappe warf ein Regalbrett auf den Sperrmüllhaufen und verschwand wieder aus dem Bildausschnitt.
Ob hier jemand auszog oder nur ausgemistet wurde?
Jona parkte ihre Vespa am Gehsteig und schlenderte die wenigen Meter zu Fuß zurück. Ein Blick nach links ließ sie überrascht stehenbleiben. Im Schutz einer Blätterhecke erstreckte sich eine Rasenfläche, in deren Mitte eine malerische Villa stand. Dass die Fensterläden brüchig waren und Putz von der Fassade bröckelte, tat ihr keinen Abbruch. Im Gegenteil. Jona ließ den Anblick der kleinen Stadtvilla auf sich wirken. Sechs freistehende Steinstufen führten zu einer Eingangstür, wie man sie aus alten Filmen kannte. Als sie den Mann mit der Baseballkappe aus der Haustür treten sah, verspürte sie eine kleine Aufregung.
»Entschuldigen Sie.« Sie ignorierte seine verschlossene Miene. Er sah müde aus, und unrasiert. »Ziehen Sie aus?«
»Mein Bruder«, antwortete er und verstaute die Schreibtischlampe im Kofferraum seines Wagens.
»Es geht mich nichts an. Aber wieso zieht man denn aus so einer Villa aus?«
Jona zwang sich, dem durchdringenden Blick des Mannes standzuhalten, der sich an seinen Volvo lehnte.
»Mein Bruder … hat sich etwas vergrößert.« Er lächelte schief. »Aber falls Sie eine Wohnung suchen – das hier ist nur eine Dachmansarde. Vielleicht versuchen Sie es eher da drüben.« Er deutete auf das eingerüstete Haus in seinem Rücken. Hier entstehen Eigentumswohnungen für Sie, verriet ein Banner.
»Nein danke.«
Ihr Gegenüber lächelte, diesmal freundlich.
»Die Vermieterin dieser Villa wohnt selbst hier. Frau Keiler. Erdgeschoss rechts. Einfach mal klingeln.« Er wandte sich wieder seinem Kofferraum zu, und Jona besah sich das schmiedeeiserne, vom Rost zerfressene Klingelschild. Sechs Mietparteien. Ein neuer Kosmos. Warum, verdammt nochmal, nicht. Sie drückte den Klingelknopf rechts unten, und beinahe im gleichen Moment ertönte der Summer.
3
Rückzugsgedanken, kenn ich. So ’ne kleine Flucht aus dem Alltag, es gibt nichts Besseres.« Das raue Lachen der Vermieterin schallte durch die Küche. Schwarz, Gold, Silber, andere Farben gab es hier nicht. Wie auf einer Raumstation, dachte Jona und trank ohne mit der Wimper zu zucken den Tütenespresso, den Frau Keiler vor sie gestellt hatte. Dass diese Frau gelegentlich aus dem Alltag ausbrach, glaubte sie ihr aufs Wort. Was für eine Energie. Selbst ihr Lachen war dynamisch.
Als die Türklingel ging, sprang sie mit den Worten auf, das sei bestimmt einer ihrer zukünftigen Mitmieter.
Jona sah ihr nach. Zwanzig Minuten Smalltalk, ein Lächeln bei der Erwähnung der Immobilienhaie im Viertel und die schnörkellose Wahrheit über den Grund ihrer Zimmersuche hatten ihr die Tür geöffnet. Sie konnte ihr Glück kaum fassen. Der Preis war unfassbar günstig. Wie gut, dass sie durchs Dichterviertel gefahren war, statt zu Steiner ins Präsidium. Einen Moment wurde ihr heiß. Nur da hatte sie der Wahrheit einen kleinen Schnörkel verliehen. Was er wohl dazu sagen würde, dass sie einen Lehrer aus ihm gemacht hatte?
Sie trat ans Fenster. Rasen, Büsche, eine Hecke, deren ungeschnittene Zweige in alle Richtungen zeigten. Für dieses Viertel nahm sich der Vorgarten schmucklos aus.
Von hier sah man, wie unauffällig sich das gusseiserne Gartentor zwischen die hohen Bäume schmiegte. Kein Wunder, dass es von der Straße kaum zu sehen war.
»Gefällt Ihnen die Aussicht?« Frau Keiler stand im Türrahmen und musterte sie unverhohlen. »Hintenraus ist es gepflegter. Und von oben nochmal anders.« Sie klimperte mit dem Schlüssel in der Hand.
Zwei Minuten später unterdrückte Jona einen kleinen Freudenschrei. Die Zwölfquadratmeterbude, wie es die Vermieterin nannte, besaß weder Schrägen noch eine Dachluke, sondern ein großes Fenster. Helles Licht floss in den Raum und auf den Steinboden. Eine olivgrüne Tapete mit goldenen Ornamenten zierte die Wände.
»Sie können natürlich auch neu tapezieren. Ihr Vormieter fand Geschmack daran.« Ihr Lachen klang nach zwei Schachteln Zigaretten am Tag. »Toilette ist über den Gang, mit etwas größerem Waschbecken.«
Jona öffnete einen der Fensterflügel. Der Ausblick hatte etwas Erhabenes; über die Baumkronen hinweg konnte sie auf das stuckverzierte Wohnhaus jenseits der Straße sehen. Daneben, etwas zurückgesetzt, dieses Baugerüstmonster. Hier entstehen Eigentumswohnungen für Sie, las sie ein zweites Mal, diesmal von oben. Am Horizont ragte der schlanke Fernmeldeturm in den Himmel, und die Miete, die Frau Keiler ihr noch einmal bestätigte, zerstreute jeden Zweifel.
Als sie eine Viertelstunde später das Haus verließ, sah sie das Dornbuschviertel mit anderen Augen.
In der Praxis empfing sie das Plätschern des Sandsteinbrunnens, und eine von Utes Patientinnen, über eine Zeitschrift gebeugt, nickte ihr vom Wartebereich aus zu. Wie schaffte Ute dieses Arbeitspensum, eine Sitzung nach der anderen? Erst kurz vor eins werkelte ihre Kollegin in der Praxisküche. Jona stürzte aus ihrem Sprechzimmer.
»Endlich. Setz dich mal, ich muss dir was erzählen.« In wenigen Worten schilderte sie ihren Beinah-Sturz über eine Filmrolle, die ihren Blick zu einem Sperrmüllhaufen gelenkt hatte, der wiederum zur Villa, zur Vermieterin, zu ihrem neuen, außergewöhnlichen Dachatelier.
»Ein Zimmer im Dichterviertel? Hast du nicht letztes Jahr noch gesagt, keine zehn Pferde …«
»… das ist was anderes. Die Gegend da ist voller Schönheit und Widersprüche. Die lebt.«
»Aha.« Ute streifte ihre Espadrilles von den Füßen und zog ihre Füße auf den Stuhl. »Und was willst du dort machen?«
»Pass auf: Zwölf Quadratmeter, lichtdurchflutet. Eine komplette Wand wird Leinwand. Kühlschrank auf der anderen Seite. Meine Musikanlage daneben. Über den Steinboden kommt ein dicker, roter Teppich, und darauf mein Futon. Dann kann ich vorm Einschlafen direkt in den Himmel sehen.«
»Ich denke, du willst zu Ulf ziehen?«
»Da ist ja noch sein Sohn, schon vergessen? Wir brauchen mehr Platz.«
Utes Gesichtsausdruck war unmissverständlich.
»Okay. Ich brauche mehr Platz. Noch habe ich nicht unterschrieben. Termin ist morgen früh. Aber ich glaube, ich mache das. Diese Dachkammer schickt der Himmel.«
»Na, da bin ich ja mal gespannt, was dein Superbulle dazu sagt.«
Ihre Blicke maßen sich aneinander, bis die Türklingel die Stille zerriss und Ute lächelnd aus der Küche ging.
Es dämmerte bereits, als Jona ihre Praxis verließ und den Weg über die Adickesallee nahm. Steiner saß wie verabredet in seinem Mercedes, als sie auf den Parkplatz des Präsidiums vorfuhr. Ein feines Lächeln spielte um seinen Mund.
»Heute ist dein Abend«, er nahm einen Helm vom Beifahrersitz und stieg aus dem Wagen. »Essengehen, Wohnungsangebote im Internet suchen oder andere Dinge, die dir Freude bereiten.« Die Fahrertür schlug zu.
»Und Jakob?«
»Bei einem Freund. Die machen Party heute Abend. Ich habe