Sonja Rudorf

Faule Mieten


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vorderen Bereich standen ihr eigener Ohrensessel und das runde Teetischchen, als warteten sie auf ihr Kommen. Sie musste sich erst an die gemeinsame Nutzung des Glasanbaus gewöhnen. Es war Marens Idee gewesen, Kakteen und Pflanzen der verstorbenen Traute Wismar aus dem Wintergarten zu räumen und jeder von ihnen die Hälfte zur freien Einrichtung zu überlassen. Sie war es auch, die den Hinterausgang des Hauses verschlossen hatte und so den Mietern den Zugang zum Garten verwehrte.

      Aber wirklich genutzt hatte den nur der Student aus dem zweiten Stock, um in der Hängematte zu liegen und seine Joints zu rauchen. Jetzt saß er öfter auf dem Balkonaustritt im Dach und blies seine Dampfschwaden in den Himmel. Ob Joschua von seinem Nachhilfeunterricht für Schüler und dem Job im Parkhaus leben konnte? Egal. Die schmale Miete war pünktlich auf dem Konto, und er war hilfsbereit, gerade Frau Kücherer gegenüber. Neulich war er nach den Einkäufen sogar auf einen Tee bei ihr geblieben. Über was ein Philosophiestudent und eine dement werdende ältere Dame sich wohl unterhielten?

      Sie trat mit dem Handbuch für Gartenpflege hinter das Haus. Rote Rüben, Möhren und Chicorée waren schon ausgesät, dazu Kopfsalat und ein ganzes Beet kleiner Kohlrabi-Pflanzen. Fehlte nur noch der Triebschnitt bei den Obstbäumen. Sie waren spät dran, fast schon zu spät. Zwei Rotkehlchen flohen aus dem Apfelbaum, als sie die Leiter davorstellte und mit einer Gartenschere in der Hand die Sprossen hinaufstieg. Die großen Äste hatte sie letzte Woche gemeinsam mit Torben Fischer abgesägt und Baumwachs auf die Wundränder gestrichen. An den Holm der Leiter geklammert, besah sie sich den Aststummel. Hier waren sie stehengeblieben letzte Woche, und hier genau hatte Fischer ihr das »Du« angeboten, um sie bei einer anschließenden Limonade zu fragen, ob die Pflege des Anwesens sie nicht überfordere. Was für eine hinterhältige Frage, jetzt, wo sie wusste, was er wirklich gearbeitet hatte. Das Holz zersplitterte unter der Wucht, mit der sie die Gartenschere zusammenpetzte. Fruchtholz. Das war genau verkehrt. Wenn sie nicht aufpasste, brachte sie sich um die Früchte. Warum war sie immer so naiv und beantwortete alle Fragen? Sie fasste in den Apfelbaum, bekam einen kräftigeren Zweig zu fassen. Mitteltrieb, hatte dieser Heuchler gesagt. Und dass man hier noch Konkurrenztriebe ausschneiden musste. Konkurrenztriebe ausschneiden! Energisch trennte sie einen Zweig nach dem anderen vom Ast und hielt erst inne, als ihre Hand zu schmerzen begann. Ihre Kehle schmerzte mindestens ebenso. Sie atmete tief durch, bis der Druck in ihrer Brust nachließ. Es war unangebracht, jemanden zu mögen, der einem etwas wegnehmen wollte, Maren hatte recht. Aber das half nicht. Sie mochte diesen jungen Mann, der selbst etwas verloren gewirkt hatte und der jetzt tot war. Ermordet. Ihr wurde schwindlig. Vorsichtig stieg sie von der Leiter und rieb ihre klammen Hände aneinander, dann griff sie zur Teleskopschere. Von hier unten konnte sie wenigstens kleine Seitentriebe kappen. Nach kurzer Zeit zitterten ihre Arme von dem Gewicht des Werkzeuges. Als sie sich umdrehte, stand Maren in der geöffneten Tür des Wintergartens und winkte.

      »Du hast noch nichts zur neuen Mieterin gesagt«. Maren goss Tee in beide Tassen und sank auf ihre Chaiselongue. Sie schien guter Laune. Als gehöre Torbens Tod der Vergangenheit an und hätte nicht die Villa besudelt. Gewalt zog Gewalt nach sich, wusste sie das nicht? Im Garten zwitscherten die Vögel, als wollten sie beweisen, wie lächerlich diese Gedanken waren. Was sollte sie zur neuen Mieterin sagen? Sie kannte diese Frau mit den kurzen, braunen Haaren ja gar nicht. Groß wie ein Mann, bunt gekleidet wie ein Papagei. Das war alles, was sie vom Küchenfenster aus hatte sehen können.

      »Herr Fischer ist noch nicht mal unter der Erde. Das sieht doch seltsam aus, wenn gleich wieder jemand da einzieht.«

      »Im Gegenteil.« Maren steckte sich eine Zigarette an und schob mit dem Fuß die Tür des Wintergartens weiter auf. »Es wäre eher verdächtig, wenn wir sie leer stehen lassen.«

      Der Rauch ihrer Zigarette schwebte durch den Anbau, blaugraue Schlieren im Sonnenlicht.

      »Ellen, aus dieser Totenkammer muss wieder ein Wohnort werden. Je schneller, desto besser.«

      »Du hättest mich trotzdem fragen müssen.«

      Der Dampf zog Richtung Garten und löste sich allmählich auf.

      »Tut mir leid, es ging alles so schnell, und es kam mir perfekt vor. Eine nette Frau, die gut in diese Mietgemeinschaft passt und die Dachkammer nur als Zweitwohnsitz möchte. Und sie hat einen soliden Job.«

      »Ich denke, sie ist Therapeutin.«

      »Mit eigener Praxis. Wenn das nicht solide ist. Ich hab diesmal gegoogelt, damit wir nicht noch eine Überraschung erleben.«

      »Eine Therapeutin, Maren. Denk doch mal nach. Die durchleuchtet uns alle, die ist darauf trainiert, menschliche Abgründe zu durchschauen.«

      »Hast du denn welche?« Marens Lachen klang eine Spur zu laut. »Ellen, da ist nichts, was sie sehen könnte. Alles gut.«

      Alles gut. Wie sie diesen Ausspruch hasste, den jeder bei jeder Gelegenheit auf den Lippen trug. Dabei war nichts gut. Heute Morgen im Treppenhaus hatte sie es schon gespürt. Eine fiebrige, schleichende Unruhe, eine Krankheit. Jemand zapfte die Villa an, wie ein Virus, der seinen Organismus von innen lahmlegte. Warum glaubte Maren ihr nicht, dass etwas vor sich ging, was nicht zu greifen war. Den Blick starr auf die Tasse Tee in ihren Händen gerichtet, sprach sie es zögernd aus.

      »Die Villa atmet anders als sonst«, wiederholte Maren, wobei sie jede Silbe einzeln betonte. »Die Villa atmet oder was?«

      »Sie ächzt. Und damit meine ich nicht die Holzstufen.«

      Ellen versuchte ein Lächeln, ohne aufzusehen. »Sie hat einen Grundpuls, verstehst du? Und der flattert. Nervös.« Hitze trieb in ihr Gesicht. Es war verboten, so etwas zu sagen, auch wenn es der Wahrheit entsprach. Seit die Polizisten vor ein paar Tagen ihre Pforte betreten hatten, war die Villa von etwas befallen. Sie schnaufte, wimmerte, setzte sich gegen etwas zur Wehr, jede Nacht konnte sie es hören, jede verfluchte, durchwachte Nacht.

      Für einen Moment sah es aus, als würde ein Lachen an Marens Gesichtszügen zerren. Aber das war Täuschung. Maren sah sie besorgt an, bevor sie den Wintergarten verließ und wenig später mit einer Schale Plätzchen zurückkam, die sie auf das Teetischchen zwischen ihnen stellte.

      »Wie meinst du das – Puls der Villa?«

      Plötzlich war jede Überheblichkeit von Maren abgefallen, und im Scheinwerferlicht ihrer ungeteilten Aufmerksamkeit entspannte sich Ellen und das Gedankenkarussell hielt an.

      Wie damals.

      An dem Tag, an dem sie ihre Mutter tot im Bett aufgefunden hatte. Warum sie ausgerechnet Maren angerufen hatte, die zu der Zeit in Berlin wohnte und sich seit Jahren nicht gemeldet hatte, wusste sie bis heute nicht. Aber dass es die richtige Entscheidung gewesen war, war ihr im Gedächtnis geblieben.

      Während sie auf der Bettkante ihrer toten Mutter saß, zu Füßen leere Sektdosen, eine umgefallene Whiskyflasche und eine Packung, in deren Blister keine einzige Schlaftablette mehr steckte, fragte Maren mit ruhiger Stimme, was genau geschehen sei. Kommentierte weder, dass die Mutter die Schlaftabletten aus ihrer, Ellens Tasche, gestohlen haben musste, noch, dass Ellen genau jene Tabletten einer lebensmüden Heimbewohnerin in guter Absicht aus deren Schrank entwendet hatte. Das Argument, sie habe den Freitod ihrer Mutter erst ermöglicht, ließ Maren nicht gelten. Stattdessen zerschlug sie ihren Gedanken, bei der Polizei alles wahrheitsgetreu anzugeben und ertrug wortlos ihre Selbstvorwürfe. Noch nie hatte jemand so mit ihr gesprochen, so zugewandt. Am Ende, nach einem zweistündigen Telefonat, hatte Maren ihr ruhig und geduldig Anweisungen gegeben, was zu tun sei. Die Schuld war nach jenem Gespräch von ihrer Seite gewichen bis zu dem Tag, an dem …

      »Ellen?«

      Marens Blick lag noch immer auf ihr.

      »Ich kann das mit dem Puls nicht erklären. Es ist wie eine Schwingung, die ich aufnehme. Und die mir Angst macht.«

      Eine bedeutungsschwere Stille folgte.

      »Wovor hast du wirklich Angst?«

      »Ich hätte den Brief abschicken sollen. Das war unrecht.«

      »Welchen Brief?« Es dauerte einen Moment, bis Maren begriff. »Ach Gott, Ellen. Das war doch gut, für alle. Traute Wismar hatte eine