»Na dann, auf gute Nachbarschaft.« Die Therapeutin drehte sich einmal im Kreis und lachte. Ein Schluck Sekt schwappte auf die Holzdielen und verschwand unter dem Taschentuch, das sie zu Boden fallen ließ. Ellen erwiderte ihr Lächeln. Es war einfach so aus ihr herausgeflossen. Der Schaumwein perlte in ihrem Mund, und die Musik, die Maren nach dem Toast wieder leiser anstellte, ging ihr in die Beine. Vielleicht hatte sie Recht, aus dieser Totenkammer musste wieder ein Wohnort werden. Kühl prickelte der nächste Schluck auf ihrer Zunge. Dem Dachboden Leben einhauchen, das könnte der Neuen gelingen. Ellens Blick wanderte zur Eingangstür, wo Viktor Boehm auf sie einredete. Vermutlich ging es um Wein. Bei ihm ging es immer um Wein oder klassische Musik. Seine Wangen glühten, mit dem Körper schirmte er sie von den restlichen Mietern ab.
»Unser Dionysos!«, bemerkte der Student in ihrem Rücken, und die alte Kücherer kicherte. Heute schien sie glasklar zu sein. Wenn sie bloß nicht von Torben anfing. Ellen stellte ihr leeres Glas auf dem Treppenabsatz ab. Ob sie mal nach Frau Vers sehen sollte? Die Neue kam auf sie zu, streckte ihr die Hand entgegen.
»Die gute Seele des Hauses, habe ich gehört.« In ihrer Miene lag kein Spott. Gute Augen, so viel Wärme darin.
»Wer sagt denn sowas?«
»Alle, mit denen ich geredet habe. Dann wird es stimmen.«
Die Hand der Therapeutin lag noch immer in ihrer. Plötzlich überschwemmte sie eine Welle der Dankbarkeit.
Herr Boehm füllte die Gläser auf. Endlich wieder Gespräche im Haus. Ihre Gläser stießen gegeneinander, ein Klirren wie Musik, bis Maren in den Fokus ihrer Aufmerksamkeit rückte. Maren fixierte etwas hinter ihr Gelegenes, und im gleichen Moment wandte auch Jona Hagen ihren Blick zur Treppe.
Wie ein Geist schwebte Hanna Vers die Stufen herunter. Sie wirkte noch schmaler als sonst, die geblümte Bluse nahm jede Farbe aus ihrem Gesicht. Dass sie bis eben gelegen hatte, war unschwer an ihrem zusammengedrückten Haar zu erkennen. Vielleicht war sie wirklich krank. Psychisch krank, wie Maren es gestern angedeutet hatte. Ein verkrampftes Lächeln lag auf ihrem Gesicht, während sie auf Jona Hagen zusteuerte und eine Schachtel in ihren Händen vor sich hertrug, als sei es eine Mission, Pralinen zu überreichen.
»Sekt?«
Hanna Vers schüttelte den Kopf. Das Glas Orangensaft, das die Therapeutin ihr reichte, steckte wie ein Fremdkörper in ihrer Hand. Die Augen hinter der randlosen Brille auf die Neue gerichtet, fragte sie schüchtern, ob sie ab jetzt in der Dachkammer wohne.
»Es ist eher ein Rückzugsort, wenn ich mal nachdenken oder malen möchte.«
»Ich wohne unter Ihnen. Und ich bin froh …« Sie brach den Satz ab und schien nach den richtigen Worten zu suchen. »Froh, dass jemand so nettes jetzt dort einzieht.« Wieder das scheue Lächeln, das unvermittelt abriss. Wie fahrig sie war.
Zum ersten Mal hatte es der Therapeutin die Sprache verschlagen. »Auf gute Nachbarschaft«, sagte sie nach kurzem Zögern und berührte Frau Vers am Oberarm.
Ein neues Lied setzte ein und wischte den seltsamen Auftritt fort. Warum war sie heruntergekommen? Seit vorgestern harrte sie in ihrer Wohnung aus. Erschöpfung stand auf ihrer Krankschreibung. Psycho, hatte Maren gesagt, als sie Dienstagabend aus ihrer Wohnung kam. Sie sei starr geworden bei der Nachricht von Torbens Tod. Starr und zittrig. Auch jetzt stand sie vor der Neuen, als könnte sie ein falsches Wort in die Krise stürzen.
Ellen leerte ihr Sektglas in einem Zug und stellte sich zu den beiden.
»Wenn es nach Essen duftet, kann man sicher sein, es kommt aus der Wohnung von Frau Vers.«
»Das zieht dann hoffentlich zu mir hoch.«
Die Neue lachte und kramte in ihrer Umhängetasche. Sie schien absorbiert von ihrem Glück über das Zimmer und bot jedem von den Zigaretten an, die sie aus der Tasche befördert hatte. Der Student griff als einziger zu und führte sie an seine Nase. »Nelke.« Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, bevor er der Therapeutin zum Rauchen vor die Tür folgte.
Hanna Vers sah ihnen nach. Sie schien zu zögern, ob sie den beiden folgen sollte und nippte am Orangensaft, bevor sie das Glas abstellte und kurz darauf in ihre Wohnung zurückkehrte. Unschlüssig sah Ellen zu Maren. Ein Schulterzucken war alles, was der dazu einfiel. Und Viktor Boehm ließ noch einen Korken knallen. Take me to the matador, schallte es durch den Hausflur, Marens Lippen bewegten sich zu dem Text, fehlte nur noch, dass sie anfing, laut zu singen. Plötzlich schien ihr die Party seelenlos. Sie beugte sich zu Frau Kücherer, die mit geröteten Wangen im Treppenlift saß und den Trubel genoss.
»Alles okay?«
Das Strahlen in dem faltigen Gesicht war Antwort genug. Am Türrahmen gegenüber prosteten sich Maren und Herr Boehm zu. Niemand sagte etwas. Ihr fiel auch nichts ein. Erst als die beiden vom Rauchen zurückkehrten, wurde es belebter. Auf Marens Frage begann Jona Hagen von den Bildern zu erzählen, die sie in der Dachkammer malen wollte.
Am frühen Abend löste sich der Umtrunk allmählich auf.
***
Die Bauarbeiten am Haus gegenüber ruhten, und das bläuliche Flimmern in den Fenstern verriet, wer um diese Uhrzeit schon fernsah. Ellens Blick fiel auf die Vespa vor dem Gartentor. Ob die Neue schon heute in der Mansarde übernachtete? Sie raschelte mit der Futterpackung, doch das typische Tapsen von Katzenpfoten blieb aus. Vermutlich war Bella während der Feier ins Freie entwischt und streifte durch die Vorgärten. Vorsichtshalber öffnete Ellen ihre Wohnungstür, doch auch im Treppenhaus war von der Katze keine Spur. Das Aftershave von Herrn Boehm hing noch in der Luft. Und von oben kamen leise Klopfgeräusche. Von einem Nagel, der in die Wand getrieben wurde, oder pochte jemand gegen eine Tür? Sie konzentrierte sich. Da war es wieder. Knöchel an einer Tür, wenn sie es richtig deutete. Der Lautstärke nach im zweiten Stock.
»Bella«, rief sie laut und stieg die Holzstufen nach oben. »Bella.« Wieder das dezente Klopfen. Doch als sie den Absatz des zweiten Stockwerkes erreichte, stand sie allein dort. Und jetzt hörte sie auch, dass die Geräusche aus der Wohnung von Frau Vers kamen, begleitet von harschen Gesprächsfetzen. Führte sie Selbstgespräche?
Unschlüssig blieb Ellen vor der Holztür stehen, deren Glaseinsatz ein Tuch verhüllte, dann gab sie dem Drang nach und klingelte. Drinnen erstarben die Geräusche. Auch im Treppenhaus war es still. Die Villa hielt den Atem an. Nur ihr eigener Puls rauschte in den Ohren. Sie sollte wieder nach unten gehen, dachte sie, während ihr Daumen erneut auf die Klingel drückte. Endlich ein Rascheln. Die Tür öffnete sich einen Spalt und Hanna Vers, barfuß und mit einem weißen Kaftan bekleidet, sah sie unheilvoll an, bevor sie die Tür vollständig öffnete. Die Frage, ob alles in Ordnung sei, blieb Ellen im Hals stecken. Erst als die Mieterin die Hand mit dem Pfefferspray sinken ließ, folgte sie der Einladung ins Innere. In der Küche brannte eine Kerze auf dem Tisch und beleuchtete flackernd zwei leere Teetassen.
Dunkelheit hatte sich über das Dichterviertel gesenkt. Unbeteiligt hing die blasse Mondsichel am Himmel, als hätte sie sich für immer von der Erde losgesagt. Ellen fuhr ihre schmalen Konturen mit den Augen nach. Zum ersten Mal erkannte sie tatsächlich die runde Klinge eines Werkzeuges darin.
Von hier konnte man die grellroten Scheiben des Ginnheimer Spargels sehen, wie eine galaktische Raumstation ragte er in den Himmel. Wo blieb Frau Vers? Es war schon Minuten her, dass sie sich entschuldigt hatte, um im Bad zu verschwinden. Im Geiste versuchte Ellen, den bruchstückhaften Bekenntnissen der Mieterin Sinn zu verleihen. Dass sie das im Fall einer Befragung erzählen musste, stand fest. Deswegen fürchtete sie sich auch vor einem Besuch des Kommissars. Hanna Vers hatte von Schritten aus der Dachkammer erzählt, die ihr in die Träume gefolgt wären. Von rätselhaften Geräuschen bis in die Nacht hinein. Sein Anschleichen, sein plötzliches Neben-Ihr-Auftauchen, wenn sie Wäsche auf den Dachboden hängte. Mit jedem weiteren Wort schien es, als habe Torben Fischer ihr Leben diktiert. Hanna Vers, die zwar ein zurückhaltendes, etwas verstaubtes Dasein führte, aber doch im Leben stand. In einer Bank arbeitete. Die noch nie ihre Tür verriegelt hatte oder jemandem mit Pfefferspray in der Hand begrüßte.
Mehrmals war das Wort ›Schuld‹ gefallen. Es ging um Erinnerungslücken.