beeilte sich Ellen Beetz zu sagen. »Das ergibt doch keinen Sinn.«
»Leben, das Sinn hätte, fragte nicht danach.« Joschua zuckte mit den Schultern. »Sagt jedenfalls Adorno in seiner negativen Dialektik. Ich kann auch nicht glauben, dass Hanna so etwas getan hat. Andererseits ist sie aufs Präsidium gegangen und hat denen ihre Schuld wie ein ordentlich geschnürtes Päckchen auf den Tresen gelegt. Und diese Helden haben sie dabehalten und sich auf die Schulter geklopft für ihren tollen Erfolg. Ich glaube, die Beerdigung hat sie in eine Krise gestürzt. Der Bulle mit dem weißen Hemd, der einen Besen verschluckt hat, hat sie wohl verfolgt.«
Steiner! Jonas Gesicht glühte. Natürlich war er zur Beerdigung von Torben Fischer gegangen, er war der zuständige Kommissar und auch der, bei dem eine Geständige zuerst landete. Was sie alles gar nicht wissen durfte. Aber wieso war Hanna zur Beerdigung gegangen? Doch nicht wegen ihrem Gespräch nach dem Sektempfang.
»Wieso Mord?« fragte sie so bestürzt wie möglich. »Der Mann, der die Wohnung meines Vormieters ausräumte, sagte mir, sein Bruder hätte sich wohnlich vergrößert.«
»Wohnlich vergrößert – das ist stark.« Der Student grinste kurz. Ohne Vorwarnung stieß Ellen Betz das Fahrrad um. Oder hatte sie sich daran festhalten wollen? Als sie sich wieder gefangen hatte, legte sie die Gartenschürze ab und ordnete ihr drahtig wirkendes, graues Haar.
»Wir haben versucht, Privatsphäre zu achten. Wer kennt schon die Geschichte seines Vormieters?« Ihr Blick verlor die Schärfe, als sann sie über diese Frage nach, bevor sie unvermittelt von Hanna Vers zu erzählen begann, von ihrem freundlichen, zurückgezogenen Wesen, ihrer Schreckhaftigkeit, die mit dem Einzug von Torben Fischer zugenommen hätte. »Dieser Mord hat sie durcheinandergebracht, genau wie die Angst vor einem Verhör.«
Genau wie ein Gespräch über Ängste, fehlendes Selbstvertrauen und Mut. Jonas Magen krampfte sich zusammen. »Gesteht man deshalb einen Mord?« Unwillkürlich glitt ihr Blick über die Sägen an der Wand.
»Sie hat manchmal diese Bilder im Kopf. Da geht was durcheinander bei ihr. Selbst Maren ist es nicht gelungen, sie von ihrer fixen Idee abzubringen. Und jetzt läuft irgendwo ein Mörder frei rum, und Frau Vers bezahlt für ihre Ängste. Das ist nicht gerecht.«
»Gerechtigkeit gibt es nicht.« Jona fing den interessierten Blick des Studenten auf und wandte sich an Ellen Beetz, die neben seiner schmächtigen Gestalt plump wirkte, und verzweifelt.
»Außerdem wird niemand verurteilt, wenn nur irgendein Zweifel an der Richtigkeit der Aussage besteht.«
»Kennen Sie sich damit aus?«
»Ich hatte vor langer Zeit mal eine Klientin in der Praxis, die in Schwierigkeiten war«, hörte Jona sich sagen, während in ihrem Kopf eine Alarmglocke schrillte.
»Bevor Sie gehen, bitte kurz bei mir klingeln«, sagte Joschua, »ich hab noch den Toilettenschlüssel zur Dachmansarde.«
»Ich gehe jetzt gleich.«
»Dann komme ich gerade mit. Danke, Frau Beetz, ich schaue nachher nochmal vorbei.«
Summend lief der Student neben ihr die Stufen hinauf. Vor seiner Haustür sah er ihr das erste Mal ins Gesicht.
»Ich besitze keinen Schlüssel zur Dachtoilette. Aber die Beetz hätte dich nicht so schnell aus ihrem Gebet entlassen. Auf einen Tee?«
Zwei Minuten später saß Jona auf einem sperrmüllverdächtigen Küchenstuhl und verfolgte, wie der Student Tee aufbrühte und den Inhalt einer angebrochenen Kekspackung auf einen Unterteller dekorierte. Ihr war noch immer flau. Wieso musste sie Hanna nur an dem Abend beschwören, auf ihre innere Stimme zu hören, egal was andere sagten. Sie kannte sie doch gar nicht. Ein fast therapeutisches Gespräch unter Sekteinfluss; wenn sie das Ute erzählen würde. Jona sah auf. Was hatte der Student gerade gesagt – dass er einfache Einrichtungen mochte?
Sie sah sich in der Küche um. Dass hier nicht gekocht wurde, fiel selbst ihr auf. Die wenigen Dinge, die in den offenen Regalen standen, sahen nach Instantgetränken und Fingerfood aus. Was sich hinter dem Vorhang des oberen Hängeschranks verbarg, würde er ihr bestimmt nicht lange vorenthalten. Seine Attitüde, materiellen Dingen nichts abgewinnen zu können, stand zu deutlich im Raum. Im Gegensatz zur Patchworkeinrichtung nahm sich seine Kleidung makellos aus. Hemd und Stoffhose. Am Flurhaken ein Jackett. Sie schob den Gedanken an Hanna Vers’ leere Wohnung gegenüber fort, während ihr der Student eine Tasse Tee reichte und sich einen Küchenhocker an den Tisch heranzog.
»Danke.« Jona blies in den Tee. »Auch für die Rettung eben.«
»Nichts gegen Frau Beetz. Sie ist mehr als in Ordnung. Auch wenn sie denkt, ich mache den ganzen Tag nichts anderes als Joints rauchen und Löcher in die Luft philosophieren.«
»Und machst du noch etwas anderes?«
Joschua strich sich über den Bart. »Vorlesungen besuchen, Referate schreiben, Thesen prüfen, nachdenken, zweimal in der Woche Nachtdienst im Parkhaus, Mathe-Nachhilfe geben, mit Freunden ausgehen, Gedichte schreiben und …«, er lächelte, »noch ein paar andere Dinge.«
»Wie Frau Beetz Tipps beim Rad reparieren geben.«
»Eher andersrum. Ich habe ihr zugesehen, um was zu lernen. Sie kann alles, und sie macht auch alles im Haus. Manchmal denke ich, sie weiß auch alles.«
»Von der Aktion von Frau Vers hat sie nicht gewusst.« Jona sah in das junge, bärtige Gesicht des Studenten und fragte, wie er die Situation einschätze. Mit einem Schlag erlosch die Koketterie darin.
»Wenn du einmal in den Lauf einer Pistole geschaut hast, dann bleibt da was zurück. Nackte Angst um deine Existenz.«
»Geht es auch etwas undramatischer?«
»Das mit der Pistole ist keine Metapher. Vor ein paar Jahren hat ein Vermummter Hanna in der Sparkasse eine vors Gesicht gehalten. Taschen auf, Geld rein. Geisel für zwei Stunden. Seitdem hat sie Flashbacks und Phasen, in denen sie sich wie in einem Film vorkommt. So hat sie es mir erklärt.«
»Depersonalisation!«, murmelte Jona, das hatte sie bei ihr mit keinem Wort erwähnt. Nur diese Selbstzweifel. Sie versuchte sich vorzustellen, wie die beiden gemeinsam an einem Tisch saßen und über persönliche Dinge sprachen. Immerhin duzte er sie.
»Hanna ist nicht immer schräg drauf. Sie kann auch lustig sein. Letzten Sommer haben wir im Vorgärtchen gesessen und den Vögeln in den Bäumen Gespräche angedichtet.«
»Nüchtern?«
»Naja, ein paar Haschkekse waren im Spiel. Ich wollte sie einfach mal lockermachen. Ist gelungen.« Er verschränkte die Hände hinter seinem Nacken. »Was ist denn das Leben wert, wenn man sich nicht ab und zu frei fühlt?« Wie zur Bekräftigung zwitscherte ein Vogel vor dem Fenster. »Später war sie froh über diese Erfahrung.«
Jona schwieg. Ein Blick in sein Gesicht genügte, um zu sehen, dass er selbst wusste, wie übergriffig diese Aktion gewesen war.
»Torben Fischer hat sie auch mal auf einen Wein eingeladen. Ist aber abgeblitzt.« Er zuckte mit den Schultern. »Zu anhänglich, denke ich mal. Und dann stand er unter Strom. Gerade abends. Wie ein Tiger lief er in der Mansarde auf und ab und hat ins Telefon gebrüllt, das hab sogar ich gehört. Und Hanna hat unter ihm gewohnt.«
»Wusstest du, dass sie zur Polizei wollte?«
»Nee, keinen Schimmer. Sonst hätte ich es ihr ausgeredet.«
Sein Handy klingelte. Nach einem Blick auf das Display trat er zum Fenster und rief etwas in den Vorgarten hinunter. Als er sich umdrehte, wirkte er belebter.
»Das Treffen in der Shisha-Lounge habe ich ganz vergessen. Sorry.«
Jona beobachtete die beiden vom Flurfenster aus. Die junge Frau auf dem Hollandrad, die vor dem Gartentor wartete, war ebenso zierlich wie Joschua. Sie umarmte ihn kurz, bevor sie gemeinsam davonradelten. Er war überzeugt von Hannas Unschuld. Und ihr ging das seltsame Gebaren der Mieterin im Sinaipark nicht mehr aus dem Kopf. Ein so zerbrechlicher Mensch konnte doch nicht bestialisch morden. Oder