paar Gläschen Wein vergessen, ob man abends in einen dunklen Park gegangen war. Und warum überhaupt? Auch darauf hatte die Mieterin keine Antwort gewusst. Das alles klang … verrückt. Ellen sah auf die beiden Tassen Tee, die Frau Vers in die Spüle geräumt hatte. Auf ihre Frage nach Besuch war sie nicht eingegangen. Unruhig durchquerte sie die spartanisch eingerichtete Küche und trat in den Flur. Wenigstens kamen Wassergeräusche aus dem Bad. Als sie sich umdrehte, jagte das Schrillen der Türklingel ihr Adrenalin durch die Adern.
Durfte sie öffnen? Sie schob einen Zipfel des Tuches zur Seite und erkannte durch den Glaseinsatz das Rot von Marens Bluse. Was wollte denn die schon wieder bei Frau Vers?
»Komme gleich«, rief es aus dem Bad.
Unschlüssig zog Ellen die Tür auf und sah in ein lächelndes Gesicht, das sich bei ihrem Anblick verdüsterte.
»Was machst du hier?«
»Ich mache mir Sorgen um Frau Vers.«
»Ich auch.« Maren schob sich in die Wohnung.
Wenig später saßen sie zu dritt in der hell erleuchteten Küche.
Hanna Vers trug wieder ihre bunte Bluse vom Nachmittag. Der Versuch, sich zu schminken, hatte rote Flecken auf ihren Wangenknochen hinterlassen. Ellen konnte den Blick nicht von der Stirn abwenden, die nass glänzte, von den kleinen Pusteln unter dem Haaransatz. Doch niemand bemerkte, dass sie starrte. Seit Maren die Küche betreten hatte, schien sie selbst unsichtbar.
»Und Sie sind sicher, dass Sie am Dienstagabend bei mir gewesen sind? Die ganze Zeit?« Die Frage der Mieterin klang wie eine Bitte, ihr das Gegenteil zu bezeugen, die Maren mit einem bedauernden Kopfnicken abschlug. Sie wirkte angestrengt, als sie hinzufügte, dass sie darüber doch schon am Mittag gesprochen hatten.
»Worüber denn?«, entfuhr es Ellen.
Eine Pause entstand, und Hanna Vers griff sich theatralisch an die Schläfen.
»Das, was ich die ganze Zeit versuche zu erklären. Meine Ängste. Und auch die Ausfälle. Ich kann mich an den Dienstagabend kaum erinnern. Ich hatte Kopfschmerzen am nächsten Morgen. Mein Kopf war Matsch.«
Maren zog die Augenbrauen hoch, »Sie haben eine ganze Flasche Rotwein getrunken. Filmriss nennt man das.«
»Aber da ist ein Film. Ein unheimlicher. Fetzen davon spuken in meinem Kopf herum.« Ihr Blick ging ins Leere, als spulten sie sich gerade auf einer inneren Leinwand ab. Im Schein der Deckenlampe wirkten ihre Gesichtszüge schärfer.
»Da ist dieser Park. Es war dunkel. Ich bin spazieren gegangen. Auf dem Weg. Es war kalt, aber ich hatte eine Jacke an. Oder hatte ich die ausgezogen? Weiß nicht. Und dann …«, angestrengt sah sie in die Ferne, »… dann lag ich da. In der Finsternis.« Sie biss sich auf die Lippen. »Ich lag im Gestrüpp. Über mir kein Himmel, nur schwarze Bäume. So dicht. Ich war … begraben von diesem Dickicht.«
»Und dann?«, fragte Ellen mit trockenem Mund.
»Habe ich geschrien. Ich rappelte mich auf und rannte und rannte und … dann war es morgen, und ich bin in meinem Bett aufgewacht.«
Ellen stieß die Luft aus. »Sind Sie sicher, dass es kein Albtraum war?«
»Ich kenne den Unterschied zwischen Albträumen und meinen …«
»Ängsten«, ergänzte Maren nach einer Weile.
»Aussetzern.«
»Frau Vers«, Maren drehte an ihrem Nasenstecker, ein Anzeichen, dass sie langsam die Geduld verlor, »wir kennen uns seit über zwei Jahren, und seit neun Monaten wohnen wir im selben Haus. Ich habe noch nie ein lautes Wort von Ihnen gehört.«
»Vielleicht vermischen Sie manches?« Kaum ausgesprochen, bereute Ellen ihre Worte. Sie hatten freundlich klingen sollen, aber die Panik in ihrer Stimme brachte alle drei zum Schweigen. Was geschah hier eigentlich?
Sie wollte in ihre Wohnung zurück. Bella füttern, zu Abend essen, und zwei Episoden der neuen Krimi-Staffel sehen.
Gerade als sie im Begriff war aufzustehen, schob Hanna Vers den Ärmel ihrer Bluse nach oben. »Und was ist das?« Wie eine Anklage prangte der Abdruck von fünf Fingern als blau verfärbtes Hämatom auf ihrem Oberarm. »Muss ich das der Polizei nicht zeigen, wenn sie nochmal ins Haus kommt?«
Maren betrachtete die Druckstelle auf dem Arm. »Ich weiß nicht. Lieber nicht. Und Sie wissen nicht, woher das stammt?«
Aus dem Treppenhaus ertönte Gepolter. Wie auf Kommando verstummten sie alle drei. Etwas Metallenes schepperte von Stufe zu Stufe bis zum unteren Treppenabsatz. Die Neue schien mit einem Möbelstück zu kämpfen.
Es dauerte eine Weile, bis Ruhe im Hausflur einkehrte und Maren nach ihrem Wohnungsschlüssel griff.
Schweigend verabschiedeten sie sich von der Unglücklichen, schweigend liefen sie die Treppe hinunter. Erst als sie sich in der Diele gegenüberstanden, ergriff Maren das Wort. »Durch den Wind, sage ich nur.« Sie klaubte zwei Chips vom Boden auf. »Und ich sag dir noch etwas.« Ihr Gesicht kam so nahe an Ellens heran, dass ihr Zigarettenatem zu riechen war. »Ich habe sie am Montagabend aus dem Haus gehen sehen, auch wenn sie behauptet, die Abende zu verwechseln. Sie wirkte ganz normal, als ginge sie einkaufen. Sie hat Fischer bestimmt nicht abgemurkst. Trotzdem gut, dass Steiner sie nicht angetroffen hat.«
In ihrer Küche brannte noch Licht. Ellen sackte in den Stuhl und starrte auf den Sisalstamm, an dem Bella sonst ihre Krallen schärfte. Kaum zu glauben, was sie gerade erfahren hatte. Vielleicht saß Hanna Vers noch am Holztisch, nur wenige Meter über ihr, mit ihrem Film im Kopf und diesem verrückten Blick. Beim Hinausgehen hatte sie ihn auf sich gespürt. Sie wusste nicht allzu viel über die nette, zurückgezogene Frau. Sechsunddreißig. Viel zu jung, um blumige Blusen zu tragen und sich nach der Arbeit zu Hause zu vergraben. Schon Frau Wismar hatte den Kopf über sie geschüttelt. Die braucht mal einen Mann, hatte die alte Kücherer letztens gesagt und gekichert. Torben Fischer war ein Mann, und er hatte direkt über ihr gewohnt. Und laut eigener Aussage in Scheidung gelebt.
Ellen stützte ihr Kinn in die Hände. Von oben war die Stimme des Moderators zu hören, dessen Show Frau Kücherer liebte. Aus dem Wohnzimmer vernahm sie ein Maunzen. Sie fand Bella vor der gekippten Tür im Garten. Im Schein des Bewegungsmelders glänzten die braunen Knopfaugen. Ihre Barthaare waren blutverschmiert, und vor ihren Pfoten lag eine tote Ratte.
6
Jona erwachte vom Läuten der Kirchenglocken. Das Kabel mit der nackten Glühbirne hing über ihr wie eine weiße Sonne, deren Licht erloschen war. Wenn sie ihren Nacken überstreckte, konnte sie in den farblosen Himmel sehen. Aber das war keine gute Idee. Der Schmerz schoss sofort zwischen ihre Brauen. Sie schloss die Augen und tastete nach dem Handy. Zehn Uhr. Und keine Nachricht von Ulf. Um diese Uhrzeit hatte er längst mit seinem Sohn gefrühstückt. Automatisch wählten ihre Finger die vertraute Nummer und drückten die Verbindung wieder weg. Der Gedanke, einfach so seine Stimme am anderen Ende der Leitung zu hören, war seltsam.
Sie lag in einem Paralleluniversum, abgeschnitten von ihrem bisherigen Leben, randvoll mit Bildern und Eindrücken der letzten vierundzwanzig Stunden. Kaum zu glauben, dass über ihnen das gleiche Flugzeug am Himmel seine Kondensstreifen zog.
Wie sollte sie Ulf die ganze Geschichte erzählen, die mit einem Sperrmüllhaufen begann und in der Küche von Maren Keiler endete, jetzt, wo ihnen diese Leiche dazwischengekommen war, die Leiche des Toten, in dessen Mansarde sie lag. Es musste sich um die Mansarde des ermordeten Immobilienmaklers handeln, von der Ulf im Park erzählt hatte, warum sonst war er im Garten der Villa gewesen? Das konnte doch kein Zufall sein.
Sag einfach die Wahrheit, hatte Ute ihr am gestrigen Abend nach dem zweiten Calimocho beim Spanier geraten. Und das so schnell wie möglich. Nach ihrem vierten Calimocho hatte sie ihr nahegelegt, bis zum nächsten Tag zu warten.
Jona stand auf und spülte eine Kopfschmerztablette mit eiskalter Cola hinunter. Ihr Designerkühlschrank, ihr Futon auf dem roten Teppich und zwei Eimer mit Pinseln und Farbtuben in der Ecke. Sie konnte nicht verhindern, dass