Sonja Rudorf

Faule Mieten


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Beruf erfuhr. Ihr wird die Villa gehören und eine Barschaft. Da gibt es noch eine enterbte Tochter von Frau Wismar, der ein Pflichtanteil zusteht. Wenn man sie findet. Astrid Wismar hat sich seit Jahren von ihrer Mutter und dem ganzen Spießerland, wie es der Notar formulierte, losgesagt. Eine Aussteigerin.«

      Aussteigerin. Jona trat einen Schritt zurück. Unwillkürlich musste sie an Ute denken, die letztes Jahr auf eine kleine Insel ausgewandert war, um dann nach Monaten in der Praxis zu stehen, als sei nichts gewesen. Auswandern, wie weit war das weggerückt von ihr. Sie hatte jetzt zwei Zuhause. Wenn sie so weitermachte, bald keines mehr.

      »Warum steht denn dann Frau Keilers Name an der Wand?«

      Ulf zog seine Brille ab und wischte sich über die Augen.

      »Setz dich mal.«

      Sie rollte den Drehstuhl zu sich und verfolgte, wie Ulf aus dem Vollautomaten in der Ecke zwei Espresso zog. Sie wollten an diesem Wochenende gemeinsam nach einer Wohnung suchen. Vielleicht hatte sie alles kaputt gemacht. Der Blick, den er ihr von der Stellwand zuwarf, war nicht zu deuten.

      »Bist du wirklich in diese Villa gezogen?«

      »Ausgewichen. Als Rückzug und Atelier.« Sie zwang sich, den Blick nicht von Steiners verletztem Gesicht zu wenden. Es entsprach der Wahrheit. Ihrer Wahrheit. Steiners Wahrheit sah vermutlich anders aus. Schon allein das, was er ihr bisher erzählt hatte, konnte ihn seinen Job kosten.

      Als lese er in ihren Gedanken, sprach er genau diesen Satz aus, bevor er von den ersten Indizien berichtete, die auf Ungereimtheiten in den Unterlagen der Immobilienfirma Greif schließen ließen.

      ***

      Gott sei Dank hatten sie das Gespräch abgebrochen und auf morgen vertagt. Dass Ulf nicht schlief, hörte sie an seiner Art, Luft zu holen. Zur Seite gerollt, lag er neben ihr im Bett und atmete seine Sorgen in die Dunkelheit. Seine größte war, sie in Gefahr zu bringen. Die Kripo, die Steuerfahndung, und sie, seine Lebenspartnerin, als Mieterin direkt am Schauplatz des Geschehens. Es könne gefährlich werden, wie oft hatte er das wiederholt und Szenarien entworfen, in denen jemand sie zusammen sah und falsche Schlüsse zog. Als würde sie sich von der Kripo einspannen lassen.

      Jona schlüpfte aus dem Bett und schlich durch die dunkle Wohnung auf den kleinen Balkon. Im Haus gegenüber waren mehrere Fenster erleuchtet. Die Stadt schlief nie. Sie zündete sich eine Nelkenzigarette an und sah zu, wie die Glut sich knisternd durchs Papier fraß. Die letzte hatte sie gemeinsam mit dem Studenten vor der Tür geraucht; es schien Ewigkeiten her. Und es war schön gewesen. Wie lange hatte sie schon nicht mehr mit einem jungen Menschen geredet, der die Welt philosophisch betrachtete? In ihrer Welt ging es immer nur darum, Probleme anzugehen. Ulfs Welt bestand aus Opfern, Tätern und dem Versuch, eine Gerechtigkeit herzustellen, die es ohnehin nicht gab. Dass Joschua der Welt moralfrei begegnete und keine Urteile fällte, war erfrischend.

      Ulf hatte davon gesprochen, dass der Tote bei Joschua ein- und ausgegangen sei, angeblich, weil es keine Waschmöglichkeiten in der Mansarde gab. Es war absurd, darin mehr als reine Freundlichkeit zu sehen. Aber Ulf hielt ja auch Maren Keiler für gefährlich, und Ellen Beetz dazu. Herrje, wenn er die beiden beim Sektempfang erlebt hätte. Alles, was sie wollten, war in Ruhe dort zu leben. Und sie boten den Maklerbonzen die Stirn. Absurd, dass es schon verdächtig war, wenn jemand sich an diesem Mietenwahnsinn nicht beteiligte und sich weigerte, seine Träume zu verkaufen. Die kleine Gemeinschaft der Villa war speziell und liebenswert. Wieder fiel ihr die scheue Bewohnerin aus dem ersten Stock ein, die ihr Interesse und ihren Zuspruch förmlich aufgesaugt hatte. Morgen sollte sie mal kurz vorbeisehen, ob es ihr wieder besser ging. Aber kurz, einer neuen Nachbarin angemessen, und etwas unverbindlicher. Sie drückte ihre Zigarette in Steiners Aschenbecher aus und zählte vier weitere Stummel, die definitiv nicht von ihr waren.

      Gegenüber erlosch das Licht in einem Fenster. Wieder einer, der Ruhe gefunden hatte. Fröstelnd lief sie ins Schlafzimmer zurück und erfasste den dunklen Schatten am Fenster erst, als Ulf sich ihr zuwandte.

      »Den Wunsch nach einem eigenen Zimmer kann ich gut verstehen.«

      Die Stille, die seinen Worten folgte, stand zwischen ihnen. Jona spürte, wie ihr Körper sich anspannte. Eine ganze Weile standen sie sich im Dunkeln gegenüber, dann hörte sie das Knacken seiner Fußgelenke.

      »Vielleicht ist dir entgangen, dass ich auch keinen Rückzug habe, seit du hier wohnst.«

      »Nein, ist es nicht.« Sie griff nach seinem Arm und fasste ins Leere.

      »Der Einzige mit eigenem Zimmer ist Jakob«, sagte er mit gepresster Stimme, »und für den ist die Situation schwierig genug. Ich tue, was ich kann, um dir ein neues, gutes Zuhause zu geben, und du mietest dir heimlich einen Rückzugsort. In der Mansarde eines Toten, dessen Mordfall ich betreue. Hast du eine Ahnung, was das bedeutet? Wenn du denkst, alles …« Er brach den Satz ab.

      Nein, sie dachte nicht, dass sich alles um sie drehte. Sie hatte noch nicht mal eine Ahnung, wo sie stand.

      Zwei Schritte trennten sie von seiner reglosen Silhouette. Zwei Schritte und das Wissen, dass sie den Kosmos seiner Person nie ganz begreifen würde. Dass sie sich liebten, weil jeder für sich ein Kosmos war, hautnah und unerreichbar.

      Ihr Entschuldige klang rauer als beabsichtigt. Die Gedanken waren plötzlich verstummt. Alles war verstummt. Sie griff nach seinen Händen. Spürte seine warmen Lippen, seine Muskeln, seinen Körper, der sich in ihrer Umarmung entspannte. Hörte sich sagen, dass sie eine Grenze ziehen würde, für eine Weile, eine Grenze zwischen sich und der Villa. Dass sie morgen damit beginnen würde, nach einem letzten Besuch.

      ***

      Es dämmerte bereits, als sie am nächsten Abend ihren Roller parkte und das verrostete Gartentor aufdrückte. Die Villa thronte im Garten, nur erreichbar über den steinernen Treppenaufgang, der ihr etwas wie Würde verlieh.

      Im Treppenhaus roch es nach altem Holz und Äpfeln. Das Deckenlicht legte einen gelben Schein auf die ausgetretenen Stufen. Jona blieb im Vorraum der Diele stehen und lauschte einen Moment in die Stille, der ein leises Schleifgeräusch unterlegt war. Das Geräusch kam von unterhalb der Treppen. Bisher war ihr gar nicht aufgefallen, dass es Kellerräume gab. Ob der Geruch nach gelagertem Obst den Vorratskammern entströmte? Sie setzte einen Schritt nach vorn und stand plötzlich im Dunkeln. Wieder dieses Geräusch. Dazu ein Sirren.

      »Hallo?«

      Niemand antwortete. Kurz entschlossen trat sie die Stufen ins Untergeschoss hinunter, vorbei an einem blinden Spiegel und einem Garderobenständer, hinter dem eine Eisentür offenstand. Von der Schwelle aus bot sich ihr ein seltsamer Anblick. In der Mitte eines unverputzten Gewölbes beugten sich der Student und Ellen Beetz über ein auf den Sattel gestelltes Fahrrad. Hinter ihnen bedeckten Sägen, Gartengeräte und Schraubenschlüssel die Wände, in der rechten Ecke stand eine Töpferbank. Niemand hatte beim Einzug diese perfekt ausgestattete Werkstatt erwähnt, die sich in dem fensterlosen Raum versteckte. Als Jona an die offene Eisentür klopfte, schreckten beide auf.

      »Hey.« Joschua lächelte. »Wieder da?«

      Mühsam erhob sich Frau Beetz und wischte die ölverschmierte Hand an ihrer Gartenschürze ab. Das Neonlicht leuchtete unbarmherzig ihr müdes Gesicht aus.

      »Ich will nur ein paar Sachen von oben holen. Und mich bei Frau Vers nochmal für die Pralinen bedanken.«

      Ihr nächster Satz wurde vom Klimpern unterbrochen, mit dem der Schraubenschlüssel zu Boden ging. Ellen Beetz stoppte ihn mit dem Schuh. »Ich kann es ihr später ausrichten.«

      »Das mache ich lieber persönlich.«

      »Zu spät.« Diesmal war es der Student, der ihr entgegentrat. In seiner schmucken Hose und dem Leinenhemd wirkte er fehl an diesem Ort. Unwillkürlich fiel ihr Blick auf seine sauberen Hände. Erklärte er seiner Nachbarin, was zu tun war, statt mitzuhelfen? »Heute Nacht kommt Hanna nicht nach Hause.«

      »Herr Zingler!«

      »Sorry«, erwiderte der Student und sah Ellen Beetz mit ehrlichem Bedauern an, »aber es gibt nichts, was sich lange verheimlichen lässt.« Er