Martin Grassberger

Das unsichtbare Netz des Lebens


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Alzheimer, Autismus, Asthma, juveniler Diabetes, Psoriasis usw.) aus Genanalysen nicht vorhergesagt werden. In den meisten Fällen bieten andere Arten medizinischer Tests – wie Blutuntersuchungen auf bestimmte Proteine oder andere Moleküle, die am Stoffwechsel oder an bestimmten Krankheiten beteiligt sind – ein viel zuverlässigeres Bild des Risikos zum Zeitpunkt der Untersuchung.

      Ein geringes genetisches Risiko bedeutet aber nicht kein Risiko. Denn wenn bei einem geringen genetischen Risiko zusätzlich bestimmte Lebensgewohnheiten und Umweltfaktoren hinzutreten, können diese das Risiko im Verlauf des Lebens zu erkranken, durchaus deutlich erhöhen.

      Die Autoren einer anderen wissenschaftlichen Publikation fassten den derzeitigen Stand der Wissenschaft etwa wie folgt zusammen: »Gegenwärtig ist die Anwendung genetisch basierter Vorhersagemodelle auf häufige Krankheiten im Allgemeinen sowohl theoretisch als auch empirisch enttäuschend8

      Prognosen sind eben schwierig, insbesondere wenn sie die Zukunft betreffen.

      Ich teile diese Enttäuschung allerdings nur bis zu einem gewissen Grad, denn die Tatsache, dass auf Basis gegenwärtiger Studien in den meisten Fällen nur fünf bis zehn Prozent eines Krankheitsrisikos genetisch determiniert zu sein scheinen, eröffnet uns vielfältige Wege und Möglichkeiten, unser Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.

       Trade-off: die Kosten-Nutzen-Bilanz

      Aus evolutionärer Sicht kann kein »Merkmal« und keine Eigenschaft jemals perfekt sein. Tatsächlich stellen alle Merkmale eine gewisse Kompromisslösung dar. So sollen unsere Knochen zwar so fest und stabil sein, dass sie nicht bei jeder kleinsten Belastung brechen, aber gleichzeitig nicht so schwer, dass sie unsere Bewegung einschränken und unsere Fortbewegung extrem energieaufwendig machen.

      Magensäure verhindert auf der einen Seite Infektionen durch Abtöten der mit der Nahrung aufgenommenen Keime, auf der anderen Seite entstehen potenzielle »Kosten«, konkret ein potenzielles Risiko, an Magengeschwüren zu erkranken. Prinzipiell ist die Erzeugung eines derart niedrigen pH-Wertes, wie er in unserem Magen vorherrscht, und der gleichzeitigen Produktion von neutralisierendem Magenschleim, um eine Selbstverdauung der Magenschleimhaut zu verhindern, aus energetischer Sicht eine ziemlich aufwendige Angelegenheit.

      Immer dann, wenn wir in unserem Köper eine derart »kostspielige« und gleichzeitig risikobehaftete Einrichtung vorfinden, sollten wir uns aus evolutionsmedizinischer Sicht einen leichtfertigen Eingriff in ein derartiges System gut überlegen. Denn »In der Biologie ergibt nichts Sinn, es sei denn, es wird im Licht der Evolution gesehen«, lautet ein wichtiger Grundsatz, der von dem Biologen Theodosius Dobzhansky geprägt wurde. »Leistet« sich unser Körper ein derartig aufwendiges, aber gleichzeitig risikobehaftetes System, hat das aus evolutionärer wie physiologischer Betrachtung mit ziemlicher Sicherheit einen guten Grund.

      In diesem Zusammenhang ist die verbreitete, vor allem auf geschicktes pharmazeutisches Marketing zurückzuführende medizinische Unsitte, sogenannte Protonenpumpenhemmer (wie z. B. Omeprazol oder Pantoprazol) ohne gerechtfertigte Indikation mit der sprichwörtlichen Gießkanne (sie zählen seit Jahren zu den meistverschriebenen Medikamenten) zu verabreichen, ein Fehler, der langfristig zu erheblichen gesundheitlichen Nachteilen führen kann. Durch die Erhöhung des pH-Wertes im Magen kann nicht nur die Resorption einiger Medikamente, sondern auch die Aufnahme von Calcium (erhöhtes Osteoporose-Risiko!), Eisen, Magnesium und Vitaminen reduziert sein. Die Minderung der Säurebarriere des Magens führt auch zu einem erhöhten Risiko schwerer Magen-Darm-Infektionen, vor allem durch den Problemkeim Clostridioides difficile. Durch eine verminderte säurebedingte Denaturierung von Nahrungsmittelallergenen und Veränderungen der Bakterienzusammensetzung in unserem Darmtrakt erhöhen diese verharmlosend als »Magenschutz« bezeichneten Medikamente auch das Risiko für allergische Reaktionen um das Zwei- bis Dreifache, bei über 60-Jährigen sogar um das Fünffache!9

      Unser Immunsystem überwacht eine große Reihe von körperfremden Antigenen und schützt uns dadurch vor Infektionen durch Viren, Bakterien und andere Krankheitserreger. Gleichzeitig ist die Reaktionsfreudigkeit unseres Immunsystems auch die Ursache zahlreicher Krankheiten, von Autoimmunerkrankungen bis hin zu einem septischen Multiorganversagen. Es verlangt einen großen Balanceakt unseres Immunsystems, um zwischen tatenlosem Zusehen (mit der möglichen Folge einer Infektion) und einer Überreaktion, unter Umständen sogar gegen den eigenen Körper, den richtigen Mittelweg zu finden. Hinzu kommt, dass unser Immunsystem auch eine ganze Menge, uns wohlwollend gegenüberstehende, Darmbakterien tolerieren soll. Von wichtigen Einflussgrößen für ein funktionierendes Immunsystem, das den »richtigen Mittelweg« findet, wird später noch die Rede sein.

      Ähnlich wie unser Immunsystem wird auch unsere Blutgerinnung durch ein komplexes Netzwerk über mehrere verstärkend und hemmend wirkende Kaskaden gesteuert. Die niederschwellige Auslösbarkeit der Blutgerinnungskaskade sowie deren Schnelligkeit bei der Erzeugung eines Blutgerinnsels war in unserer Vergangenheit (und ist heute noch) der Garant für das Überleben nach stark blutenden Verletzungen. Der Nachteil dieses wunderbaren Systems im Sinne eines Trade-offs liegt in ebendieser niederschwelligen Auslösbarkeit der Blutgerinnung, was auch die Ursache für häufig auftretende gefährliche Thrombosen und unter Umständen tödlich verlaufende Thromboembolien (v. a. Lungenembolien) darstellt. Eine recht niederschwellige Auslösbarkeit der Blutgerinnung hat sich im Verlauf unserer evolutionären Vergangenheit offenbar als durchaus hilfreich, weil lebenserhaltend erwiesen.

      Die zentrale Rolle von Trade-offs in jedem Aspekt unseres Lebens macht derartige Kompromisslösungen der Evolution zum wichtigsten Prinzip bei der evolutionären Betrachtung von Gesundheits- und Krankheitszuständen. Selbst viele unserer essenziellen und recht einfachen Abwehr- und Schutzmechanismen folgen einer Kompromisslösung zwischen Kosten und Nutzen.

       Abwehr- und Schutzmechanismen

      Viele Symptome, aufgrund derer Patienten ärztliche Hilfe aufsuchen, sind gar nicht primär das Produkt einer spezifischen Krankheit, sondern vielmehr die Folge der Aktivierung von körperlichen, über lange evolutionäre Zeiträume entstandenen Abwehr- und Schutzmechanismen, die unser Überleben sicherstellen. Symptome wie Entzündung, Fieber, eine laufende Nase, Husten, Niesen, Erbrechen oder Durchfall sind die Manifestationen dieser Abwehrmechanismen im Falle einer Infektion oder der Exposition gegenüber einem Allergen. Diese extrem hilfreichen Abwehrmechanismen zu unterdrücken, um das damit verbundene Leiden zu lindern (was sehr häufig durch Medikamente geschieht), kann unter Umständen erhebliche Nachteile mit sich bringen.

      Auf der anderen Seite können diese Abwehrmechanismen auch überschießend verlaufen und dann mit erhöhten gesundheitlichen (auch lebensbedrohlichen) »Kosten« für den Betroffenen verbunden sein. Ob überschießende Entzündungsreaktionen, zu hohes Fieber, Schlaf raubender Dauerhusten, übermäßiges Erbrechen oder schwerer andauernder Durchfall – im Fall einer überschießenden, dauerhaften Aktivierung können die Kosten der Abwehr- und Schutzmechanismen ihren Nutzen auch überwiegen und selbst zu Gesundheitsschäden führen. In derartigen Fällen sind unsere heutigen pharmakologischen Möglichkeiten zur Unterdrückung von Abwehr- und Schutzmechanismen ein wahrer Segen.

      Auch hier gilt wieder, dass es kein »Gut« oder »Schlecht« gibt. Es ist die Balance all dieser Systeme, die uns den größten Gesundheitsvorteil verschafft. Ein Problem ergibt sich in der Praxis häufig daraus, dass sowohl den Ärzten als auch den Patienten ein individuelles Abwiegen zwischen Nutzen und Risiko im Sinne der Folgen einer medikamentösen Unterdrückung dieser Schutzmechanismen zukommt.

      Da aber viele Schutzmechanismen relativ »günstig« und hilfreich sind, die Kosten bei einer Nichtauslösung aber durchaus hoch sein können, liegt die Auslöseschwelle für viele Schutzmechanismen durchaus niedrig und das ist meistens gut so. So stehen bei Verzehr einer giftigen Pflanze die geringen Kosten eines einmaligen Erbrechens den unter Umständen hohen Kosten einer potenziell tödlichen Vergiftung gegenüber. In diesem Zusammenhang hat sich auch der Begriff des »Rauchmelder-Prinzips«