der Ölverschmutzung der Meere, aber weder eine Grafik noch eine kurze Erwähnung zur Problematik der starken Zunahme von Plastikabfällen und Mikroplastik in den Ozeanen und ihrer verheerenden Auswirkungen auf die Tierwelt. Die weltweite Zunahme geschützter Naturgebiete und Arten wird überschwänglich gefeiert, eine Erwähnung des drastischen Rückganges der globalen Artenvielfalt, die von der Wissenschaft aus gutem Grund als das sechste Massensterben bezeichnet wird16, sucht man hingegen vergeblich.
Es finden sich zwar Statistiken über den Rückgang von Todesfällen im Zusammenhang mit Kriegen und Naturkatastrophen, jedoch keinerlei Erwähnung, dass nach Angaben der Vereinten Nationen die Zahl der Flüchtlinge höher ist als je zuvor. Zu diesem und unzähligen anderen besorgniserregenden Trends finden wir weder Zahlen noch Grafiken. Gleiches gilt für fast alle Indikatoren, die der Wissenschaft derzeit Sorgen und Kopfzerbrechen bereiten: Kohlendioxid, Stickoxide und Methanemissionen, Ansäuerung der Weltmeere, Verlust tropischer Wälder und rapide Abnahme der biologischen Vielfalt, insbesondere in der Landwirtschaft. Jeder dieser Indikatoren scheint sich in eine negative Richtung zu beschleunigen. Doch darüber wird ein Mantel des Schweigens gebreitet.
Nimmt unsere Nutzung von Rohstoffen analog der letzten fünfzig Jahre weiter zu, führt dies noch in diesem Jahrhundert zu einem vielfachen Anstieg des Ressourcenverbrauchs und der damit einhergehenden Emissionen. Wie lange kann das gut gehen und was sind die wahrscheinlichsten Nebenwirkungen? Für Rosling und Factfulness sind das offenbar keine entscheidenden Fragen. Vielmehr bestehe, so der Autor, die zentrale Herausforderung für westliche Unternehmen darin, die neu entstehenden Märkte Asiens und Afrikas zu nutzen. Diese und viele andere Aussagen lassen das Buch zu einem unkritischen Lobgesang der erstaunlichen Geschichte des großteils technologiebasierten menschlichen Fortschrittes werden. Geht es nach Rosling, ist es unsere Unwissenheit, die uns davon abhält, diese Erfolgsgeschichte zu sehen. In dieser Hinsicht liest sich das Werk allerdings eher wie ein Selbsthilfebuch für manche Führungskräfte aus dem Silicon Valley, denen bei jeder erdenklichen Gelegenheit vermittelt werden soll, dass sie ihre Arbeit gut machen. So wundert es einen auch nicht wirklich, dass Bill Gates, ein wahrlicher Nutznießer des neoliberalen Systems, kurz nach Erscheinen des Buches bekannt gab, er wolle das Buch gratis an alle Universitätsabsolventen verteilen.
Der größte Fehler Roslings besteht jedoch zweifelsohne darin, die vorhandenen wissenschaftlichen Belege für die gegenwärtige Umweltkrise, also die Zerstörung lebenswichtiger Ökosysteme und die Abnahme der biologischen Vielfalt, zu ignorieren. Dies stellt das Wohlergehen heutiger und zukünftiger Generationen infrage. Dass er steigende Lebenserwartung mit besserer Gesundheit gleichsetzt, standhaft das reduktionistische Denken verteidigt und das Problem der an steigenden Weltbevölkerung negiert, möge man ihm angesichts dieser eingeengten Weltsicht nachsehen. Nicht nachsehen kann man ihm als Arzt hingegen die Scheuklappen hinsichtlich epidemiologischer Kenngrößen von Krankheiten. Obwohl Rosling körperliche Krankheiten erwähnt, spricht er nur über jene, die im Rückgang begriffen sind, wie z. B. Masern und Durchfallerkrankungen, jene, die unaufhaltsam auf dem Vormarsch sind und großteils mit unserem viel gepriesenen Fortschritt in Verbindung stehen, klammert er aus. Mit anderen Worten: Roslings Definition von »globaler Gesundheit« ist alles andere als vollständig.
Aufklärung jetzt: Für Vernunft, Wissenschaft, Humanismus und Fortschritt
»Mein absolutes Lieblingsbuch aller Zeiten«, lautet das Urteil von Bill Gates über … Nein, das ist kein Fehler in meinem Manuskript. Auch das 2018 erschienene Buch des bekannten US-Psychologen Steven Pinker mit dem Titel »Aufklärung jetzt: Für Vernunft, Wissenschaft, Humanismus und Fortschritt« zählt zu Bill Gates Lieblingsbüchern, ja es ist sogar sein »absolutes Lieblingsbuch aller Zeiten«. Dies ist auch keineswegs verwunderlich, schlägt es doch in exakt dieselbe Kerbe wie Roslings Factfulness. Übrigens, das sei hier angemerkt, zähle ich mich nicht zu jenen, die Bill Gates hinter jeder Weltverschwörung sehen.
Aber auch dieses Buch ist weniger ein Mutmacher für verzweifelte Neoliberale und Fortschrittsgläubige als eine brandgefährliche Verharmlosung der sich allem Anschein nach anbahnenden Probleme. Auch Pinker versucht durch selektive Statistiken der unbestreitbaren Fortschritte unserer Zivilisation während der letzten zwei Jahrhunderte ein Hohelied auf Wissenschaft und den Fortschritt zu singen. Im Unterschied zu Rosling, der die Umweltthematik überhaupt weitgehend ausblendet, versucht Pinker mithilfe dubioser Zahlen sein Fortschrittsnarrativ krampfhaft zu retten.
Pinker und Rosling, die intellektuellen Apologeten des bedingungslosen Fortschrittes, wollen die Menschheit tatsächlich um jeden Preis davon überzeugen, dass die Zivilisation in die richtige Richtung gehe und die Welt von Tag zu Tag besser würde, und blenden dabei die sich schleichend anbahnenden katastrophalen Folgen dieses Fortschrittes in neoliberaler Selbstherrlichkeit aus.
Sachliche Kritiker werden dabei gerne als Alarmisten verunglimpft. Bei sozialem Fortschritt ginge es nicht primär um Gerechtigkeit und Schutz der Umwelt, so das Narrativ, sondern darum, die gesellschaftlichen Vorteile des Wirtschaftswachstums auszubauen. Eine Aufgabe, die am besten philanthropischen Kapitalisten, den größten Nutznießern derartiger Fortschrittserzählungen, überantwortet wird. Dass die Parole »weiter wie bisher, ohne Rücksicht auf Verluste« unter Berufung auf die an sich positiven und unbestrittenen Werte der Aufklärung wie Vernunft, Wissenschaft und Humanismus offenbar auf große Zustimmung stößt, zeigt sich an den hohen Verkaufszahlen und Bewertungen dieser Bücher.
Werke mit ähnlich dubioser wie verheerender Mission sind Bjørn Lomborg’s »The Skeptical Environmentalist: Measuring the Real State of the World« und Matt Ridleys »Rational Optimist: How Prosperity Evolves«. Der studierte Politikwissenschaftler (!) Lomborg geriet wie Rosling, Pinker und Ridley vor allem wegen seines einseitigen Umgangs mit Quellen und Statistiken in die Kritik seriöser Wissenschaftler. Sein Buch »The Skeptical Environmentalist« enthielt dermaßen viele schwerwiegende Fehler und widersprach in so vielen Punkten dem derzeitigen wissenschaftlichen Konsens, dass ein ganzes Buch – »The Lomborg Deception« von Howard Friel – erforderlich war, um diese offenzulegen.17
Und jetzt raten Sie einmal, welche Medien Lomborgs Buch akribisch verteidigten: die Wirtschaftszeitungen Financial Times, Wallstreet Journal und The Economist. Der bekennende Klimaskeptiker Matt Ridley hat, übrigens wie Lomborg auch, enge Verbindungen zu konservativen und libertären Think Tanks, die die menschengemachte Klimaerwärmung entweder herunterspielen oder gänzlich leugnen. Zeit also, derartigen Skeptikern mit Skepsis zu begegnen.
Dass die simplen (und teilweise völlig abwegigen) Annahmen über naturwissenschaftliche Zusammenhänge und die missionarische Überzeugung von der Harmlosigkeit mancher chemischer Verbindungen in Umwelt und Lebensmitteln gleichsam wie Verschwörungstheorien oft schwer zu entzaubern sind, liegt u.a. wohl daran, dass manche Neo-Aufklärer und Pseudo-Skeptiker, ähnlich wie sektiererische Glaubensfanatiker, jedes Argument im Sinne ihres Glaubenssystems umdeuten und jeden, der anderer Auffassung ist, mit persönlichen Verunglimpfungen penetrant verfolgen.
Die skeptischen Hüter der Wissenschaft verachten Begriffe wie »Rhythmen und Zyklen der Natur« als unwissenschaftlich und esoterisch. Das Frappierende dabei ist, dass gerade die Wissenschaft selbst uns eindrücklich zeigt, dass unser Leben und das Leben auf der Erde exakt diesen Zyklen und Rhythmen unterworfen sind. Von Biorhythmen, Tages- und Jahresrhythmen über Zellzyklen, dem Zyklus von Leben und Sterben bis hin zu zellulären Eigenschaften wie Zitratzyklus, enzymatischen Systemen und Nährstoffkreisläufen. Die Muster wiederholen sich, wohin man blickt. Für die Entdeckung der molekularen Mechanismen, die den circadianen Rhythmus von Lebewesen steuern, wurde 2017 sogar der Nobelpreis für Physiologie und Medizin an Jeffrey Hall, Michael Rosbash und Michael Young verliehen! So viel zur Esoterik.
Gerade in unserer Vergangenheit war das Erkennen von zyklisch wiederkehrenden Mustern in unserer Umwelt von größter Bedeutung, gab es doch weder Uhren noch Kalender. Es ist daher nicht nachvollziehbar, warum diese Betrachtungsweisen als pseudowissenschaftlich abqualifiziert werden. Die Natur verhält sich zyklisch, beinahe alle natürlichen Systeme weisen komplexe Verbindungen auf und sind grundsätzlich zyklisch. Nichts wird zu Abfall im eigentlichen Sinne,