Martin Grassberger

Das unsichtbare Netz des Lebens


Скачать книгу

Entwicklungszyklus auf unsere roten Blutkörperchen angewiesenen Malariaerreger (Plasmodien) offenbar einen Nachteil, wenn sie auf einen HbS-tragenden Wirt stoßen. Oder umgekehrt betrachtet: Träger von nur einem HbS-Allel haben einen geringen Selektionsvorteil in Malariagebieten, weil sie deutlich seltener an Malaria erkranken. Wobei das Wort »Malariagebiete« hier von entscheidender Bedeutung ist, denn nur in dieser Umgebung besteht dieser »Vorteil« sowohl auf individueller als auch auf Populationsebene. Genetische Eigenschaften sind daher nur in Verbindung mit dem früheren evolutionären Umfeld sinnvoll zu interpretieren. Eine zentrale Erkenntnis, die uns noch mehrfach begegnen wird. In der Genetik wird ein derartiger Vorteil bei Besitz von nur einem Krankheits-Allel als »Heterozygotenvorteil« bezeichnet.

      Ähnlich dürfte es sich mit der Mukoviszidose verhalten. Auch hier muss man sich die Frage stellen, warum ein Allel, das bereits in jüngeren Jahren zu einer schwerwiegenden Erkrankung führt, so weit verbreitet ist und nicht im Laufe der Evolution quasi ausselektiert wurde. Auch bei dieser Erkrankung, die auf einer Reduktion funktionsfähiger Chlorid-Kanäle in den Zellmembranen fußt, wird im Falle des Vorliegens von nur einem Allel (Heterozygotie) eine höhere Resistenz gegen bestimmte Krankheitserreger angenommen. Diese Resistenz und der damit verbundene Selektionsvorteil haben vermutlich während der letzten Jahrhunderte zur ausgesprochen häufigen Verbreitung dieses Gendefekts geführt. Im Falle der Mukoviszidose wird ein Selektionsvorteil durch Heterozygotie in Gegenwart von Vibrio cholerae (Erreger der Cholera), Salmonella typhimurium (häufigster Erreger einer schweren bakteriellen Gastroenteritis) und insbesondere von Mycobacterium tuberculosis diskutiert. Gerade bei der Tuberkulose, die vom 16. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts für über 20 Prozent der Todesfälle verantwortlich war, dürfte der Selektionsdruck in der Vergangenheit ausreichend hoch gewesen sein.

      Die Liste an genetisch bedingten Erkrankungen, die aufgrund früherer (!) Gegebenheiten zu einem gewissen Selektionsvorteil geführt haben könnten, ließe sich noch länger fortsetzen, wobei die »Gegebenheiten« nicht immer so weit erforscht sind wie in den beiden genannten Beispielen.

      Ich habe mich der obigen Ausführung deshalb länger gewidmet, weil das Beispiel dieser und ähnlicher Erkrankungen verdeutlicht, wie wichtig die Berücksichtigung von (prä)historisch-geografischen Kriterien für das Verständnis von, auf den ersten Blick unlogisch erscheinenden, genetischen Eigenschaften der Spezies Mensch ist. Unsere kürzere, vor allem aber längere Vergangenheit in Verbindung mit den damaligen Umwelt- und Lebensbedingungen sind einer der wichtigsten Schlüssel zum Verständnis von Gesundheit und Krankheit. Auch wenn es sich bei den meisten »modernen« Krankheiten nicht um monogenetische Erbkrankheiten wie Sichelzellerkrankung und Mukoviszidose handelt. Unsere Vergangenheit steckt jedenfalls tief verwurzelt in unseren Genen, ob uns das gefällt oder nicht.

      Aber nicht alle mit negativen Gesundheitsfolgen im Laufe des Lebens verknüpfte genetischen Eigenschaften sind die Folge einer Resistenz gegenüber gewissen Krankheitserregern in unserer Vergangenheit. Manche nachteiligen Gene haben ihre heutige Häufigkeit einer unmittelbaren Auswirkung auf eine größere Nachkommenschaft zu verdanken.

       Ein Vorteil in der Jugend, aber nachteilig im Alter

      Gene, die unserer Gesundheit in der zweiten Lebenshälfte schaden oder unser Leben sogar verkürzen, werden dennoch selektiert und verbreiten sich dann, wenn sie mit einer erhöhten Fitness (Anzahl der Nachkommen) in jüngeren Jahren verbunden sind. Der von dem Evolutionsbiologen George Williams bereits in den 1950er-Jahren geprägte, etwas sperrige Begriff für dieses Phänomen lautet »antagonistische Pleiotropie«. Pleiotropie bedeutet, dass manche Gene in einem Organismus mehrere Funktionen haben. Sie können der Gesundheit sowohl nutzen als auch schaden, wirken also antagonistisch. So können einzelne Gene, die mit einem positiven Reproduktionserfolg zu einem früheren Zeitpunkt im Leben einhergehen, durchaus mit negativen Effekten im Alter verbunden sein. Da die schädlichen Wirkungen dieser Gene aber erst im Alter nach der reproduktiven Phase auftreten, haben sie, ähnlich wie wir das bei der Chorea-Huntington-Erkrankung gesehen haben, keine nennenswerte evolutionäre Bedeutung im Sinne der Selektion. Sie verschwinden daher nicht so ohne Weiteres.

      So steigert beispielsweise eine genetisch bedingte höhere Produktion von Sexualhormonen in der Jugend »Reproduktionsfreudigkeit« und Fruchtbarkeit und häufig auch den damit verbundenen Reproduktionserfolg, was zwangsläufig auch zu einer Weitergabe dieser Eigenschaft an die Nachkommen führt. Eine erhöhte Produktion der Sexualhormone Testosteron oder Östrogen kann allerdings im Alter auch zu einer deutlichen Steigerung hormonassoziierter Krebserkrankungen wie etwa Prostatakrebs bei Männern oder Brustkrebs bei Frauen führen. Kein Vorteil ohne Nachteil könnte man sagen.

      Ja, sogar bereits in jungen Jahren ist ein erhöhter Testosteronspiegel für Männer nicht nur ein Segen. Die statistisch auf Bevölkerungsebene zu beobachtende Übersterblichkeit von Männern gegenüber Frauen während der reproduktiven Phase kann als »Trade-off«, also im weitesten Sinne als Kompromisslösung, der Evolution gesehen werden. Denn ein hoher Spiegel an Testosteron in der ersten Lebenshälfte ist einerseits mit dem bereits erwähnten positiven Einfluss auf den Reproduktionserfolg vergesellschaftet, andererseits ist das Testosteron aber auch die Ursache oder vielmehr der Treiber für männliche Risiko- und Gewaltbereitschaft. Beides eine häufige Ursache für den statistisch verbrieften verfrühten Tod zahlreicher junger männlicher Individuen.

       Das Alzheimer-Risikogen ApoE4: ein unausweichliches Schicksal?

      Ein besonders interessantes Gen in diesem Zusammenhang ist das sogenannte ApoE-Gen. Es existiert in verschiedenen Formen (Polymorphismus) und kodiert für das Apolipoprotein E (ApoE), welches u. a. ein Hauptlieferant von Cholesterinvorläufern für die Produktion von Östrogen und Progesteron in den Eierstöcken ist. Das ApoE4-Allel ist die älteste Form dieses Gens. »Neuere« Versionen sind das ApoE3-Allel (es erschien innerhalb der letzten 220 000 Jahre) und das ApoE2-Allel, welches am rezentesten sein dürfte.

      Auffällig ist, dass das Allel ApoE4 das Risiko einer schlechten Gesundheit zwar signifikant erhöht, aber dennoch in vielen Populationen relativ häufig vorkommt. So weisen Menschen, die das ApoE4-Allel besitzen ein höheres Risiko für Bluthochdruck, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und die Alzheimer-Demenz auf.

      Warum wurde dieses Allel dann nicht durch natürliche Selektion mit der Zeit durch das gesundheitsfördernde ApoE3-Allel ersetzt? Wir wissen bereits, dass sobald ein Gen trotz bekannt negativer Eigenschaften dennoch häufig ist, vermutlich auch irgendein bedeutender Vorteil damit verbunden ist.

      Und tatsächlich konnte bei Frauen, die zumindest eines von zwei möglichen ApoE4-Allelen besaßen, ein signifikant höherer Wert des Sexualhormons Progesteron in der zweiten Zyklushälfte (Lutealphase) festgestellt werden. Ein Umstand, der mit einer erhöhten Fruchtbarkeit verbunden ist und vermutlich mit dazu beigetragen hat, dass das ApoE4-Allel in unserer Bevölkerung immer noch weitverbreitet ist. Darüber hinaus dürfte ApoE4 auch mit einer besseren Entwicklung der kognitiven Funktion, einem gewissen Schutz vor Infektionskrankheiten, einem späteren Einsetzen der Menopause (= Verlängerung der Reproduktionsphase) und einer geringeren Häufigkeit von Spontanaborten in Verbindung stehen.1 Kinder, welche die ApoE-4-Variante tragen, überstehen eher Durchfallerkrankungen oder Phasen der Unterernährung.2 Und schließlich weisen männliche Erwachsene im Alter zwischen 40 und 50 Jahren mit ApoE4-Allel ein besseres Kurzzeitgedächtnis auf.3

      Genug Gründe also dafür, warum die Genvariante ApoE4 in unserer Vergangenheit mit einem Überlebensvorteil verknüpft war, daher häufig vererbt wurde und bis heute weitverbreitet ist. Denn laut Schätzungen sind etwa 15 Prozent der Menschheit Träger von ApoE4 auf Chromosom 19. Allerdings, und hier liegt einer der erwähnten gravierenden Nachteile, haben Träger des ApoE4-Gens im Vergleich zu einem Nicht-Träger auch ein um den Faktor 1,7 bis 2,4 erhöhtes Risiko, an der Alzheimer-Demenz zu erkranken. Das heißt, dass das Risiko, zu erkranken, um bis zu 140 Prozent ansteigt.

      Derartige evolutionäre Trade-offs, welche in Abhängigkeit vom Alter des Individuums einen Vor-